Search

Die Situation der ungarischen Minderheit in der Karpatenukraine, Teil 1

Millenniumsdenkmal am Verecke-Pass, an der tausendjährigen ungarischen Grenze, in der heutigen Ukraine

22. Juni 2022 Faktenwissen Ungarn von Alexander Rasthofer und Martin Böhm

Ab 895, dem Jahr der ungarischen Landnahme, gehörte die heutige Karpatenukraine über ein Jahrtausend lang zu Ungarn. In den vergangenen über 100 Jahren durchlebte die Region jedoch mehrere Systemwechsel.

Vor 1918 gehörte sie als Teil der ungarischen Reichshälfte zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie, in den turbulenten Jahren zwischen 1918 und 1919 war sie bisweilen unter der Kontrolle der ungarischen Räterepublik, im Frühjahr 1919 rückte die tschechoslowakische Armee ein. Infolge des Trianon-Vertrags schlug man die Karpatenukraine (Karpatenvorland oder Transkarpatien) ungeachtet der ethnischen Zusammensetzung des Gebiets auf Grundlage strategischer Faktoren wie Eisenbahnlinien und Fabriken schließlich der Tschechoslowakei zu, in deren Machtbereich sie bis 1939 blieb.

Ungarn versuchte zuvor, Volksabstimmungen in den zu mehr als 90 Prozent von Ungarn bewohnten Gebieten entlang der Grenze zu Kernungarn zu erzielen, was jedoch erfolglos blieb. Durch den Ersten Wiener Schiedsspruch 1938 und die Besetzung Tschechoslowakei im Jahr 1939 gelangte die Region wieder unter ungarische Hoheit, bis 1944, als die Rote Armee das Gebiet einnahm. In den Jahren 1944-1945 verließen viele Ungarn die Region oder wurden Opfer des Roten Terrors.

Zwischen 1945 und 1991 war das Oblast Transkarpatien Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, mit denselben administrativen Grenzen besteht die Region seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 fort. Eine mit dem Unabhängigkeitsreferendum zeitgleich stattgefundene, von der russinischen Bevölkerungsgruppe initiierte, Volksbefragung, bei der mehr als 90 % der Bewohner der Karpatenukraine teilnahmen und 78 % derer für einen autonomen Status
innerhalb der Ukraine votierten, wurde von der ukrainischen Regierung abgelehnt.

Die Volkszählung des Jahres 1910 ergab eine etwa 185.000-köpfige ungarische Bevölkerung
in der Karpatenukraine, 91 Jahre später – bei der letzten offiziellen Zählung im Jahre 2001 –
ermittelte man 151.133 Ungarn.

Seitdem nahm die Zahl der ungarischen Bevölkerung wegen der niedrigen Geburtenrate und der hohen Abwanderung (etwa 70 % der Auswanderer ging nach Ungarn) weiter ab. Ein beträchtlicher Teil der ethnischen Ungarn in der Ukraine erwarb nach 2010 infolge der Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft in Ungarn die ungarische Staatsbürgerschaft, was für viele die Migration gen Westen begünstigte.

Die Auswanderung intensivierte sich nach den Ereignissen 2014, einerseits vor allem wegen der Angst vor drohender Einberufung in die Armee, andererseits angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Lage der Ukraine.

Der Durchschnittslohn im Oblast Transkarpatien liegt unter dem gesamtukrainischen Durchschnitt und entspricht in etwa einem Viertel des ungarischen Durchschnittslohns. Jüngere Schätzungen gehen von etwa 100.000-120.000 Ungarn in der Karpatenukraine aus, die in der überwiegenden Mehrheit im Grenzstreifen zu Ungarn leben. Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und Russland verließen mehrere Zehntausend die Region, welche wiederum viele Tausend Flüchtlinge aus der Ostukraine aufnahm. Bislang blieb die Karpatenukraine von Bombardierungen verschont.

Entwicklungen nach 2014

Bereits infolge der Orangenen Revolution von 2004 nahmen nationalistisch motivierte minderheitenfeindliche Agitationen in der Ukraine zu. Infolge der Vorkommnisse

während des Euromaidans 2014, der Annexion der Krim und des Krieges im Osten des Landes verschärften sich die zuvor schwelenden Nationalitätenkonflikte in der Ukraine weiter, deren Leidtragende auch die ungarische Minderheit wurde.

Obwohl die Maßnahmen der ukrainischen Regierung zur Konsolidierung der ukrainischen Sprache und Identität maßgeblich auf die russischsprachige Minderheit abzielten, wurden die zuvor garantierten Minderheitenrechte der Ungarn in der Karpatenukraine aber auch der anderen ethnischen Minderheiten in der Folge schrittweise beschnitten. In den vergangenen Jahren standen sich die ungarische und die ukrainische Regierung daher in mehreren Fragen hinsichtlich der Belange der ungarischen Minderheit in der Ukraine diametral gegenüber. Während die ungarische Seite eine Wahrung der Minderheitenrechte fordert und grundsätzlich sogar eine Autonomie der Ungarn in der Karpatenukraine befürwortet, wurde die ukrainische Politik zunehmend vom nationalen Erwachen bestimmt.

Auf dem internationalen Parkett errang der Streit, insbesondere wegen des ungarischen Vetos gegen weitere Schritte in Richtung einer NATO-Integration der Ukraine, an Aufmerksamkeit, womit die ungarische Regierung auf die als ungerecht empfundene Minderheitenpolitik der Ukraine aufmerksam machen wollte. Lange Zeit galt die minderheitenrechtliche Situation der Ungarn in der Ukraine im Vergleich zu der in Rumänien, Serbien oder der Slowakei als die beste. Mittlerweile aber bleibt diese, Expertenmeinungen zufolge, weit hinter derer anderer Nachbarstaaten mit großen ungarischen Minderheiten zurück.

Etwa 2 Millionen ethnische Ungarn leben in den Nachbarstaaten ihres Mutterlandes. Man stelle sich vor, 16 Millionen Deutsche würden in den Anrainerstaaten der Bundesrepublik leben. Im Rahmen der Politik für die Auslandsungarn unterstützt die ungarische Regierung den nationalen Zusammenhalt über die Staatsgrenzen hinweg.

Selenski war bei seiner Wahl zum Präsidenten 2019 der populärste Kandidat bei der ungarischen Minderheit, die ihn zu etwa 80 % unterstützte, auch weil Selenski den Minderheiten zunächst Toleranz und Unterstützung versprach. Infolge der Zuspitzung der Konflikts zwischen Russland und der Ukraine haben aber nationalistische Strömungen und der ukrainische Geheimdienst erheblich an Einfluss gewonnen. Die ungarische Regierung macht deshalb nicht Selenski persönlich für die Verschlechterung der Situation der ungarischen Minderheit in der Karpatenukraine verantwortlich.

Während des derzeitigen russischen Angriffskrieges bezichtigten ukrainische Regierungsvertreter Ungarn der Nähe zu Russland, eine Umfrage von Mitte März dieses Jahres ergab, dass sich die ungarnkritische Stimmung seit Ausbruch des Krieges erhöht habe. So sehen die Ukrainer Ungarn als das ihnen am wenigsten freundlich gesinnte Land der EU an, lediglich China, Weißrussland und Russland schnitten im Sympathieindex schlechter ab.

Die Situation der ungarischen Minderheit in der Karpatenukraine wurde seit Ausbruch des Krieges von der ungarischen Regierung nicht thematisiert. Stattdessen konzentriert sich Ungarn auf die humanitäre Hilfe für die Ukraine, insbesondere für die Karpatenukraine.

Autoren, Alexander Rasthofer wissenschaftliche Hilfskraft, Martin Josef Böhm Projektassistent für Forschung im Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit

Teil 2: https://ungarnreal.de/die-situation-der-ungarischen-minderheit-in-der-karpatenukraine-teil-2/

Originaltext: https://magyarnemetintezet.hu/documents/doc/Dossier%20ungarische%20Minderheit%20Ukraine.pdf

Ein Kommentar

  1. Die Ungarn sind nicht auf die Sympathie der Ukranazis angewiesen. In Ungarn sind die Diskriminierungen, das minderheitenfeindliche Sprachgesetz und andere Schikanen gegen die dort lebenden Nationalitäten wohl bekannt. Trotzdem hört man aus Ungarn kein Wort des Hasses, der Hetze oder Verärgerung gegenüber der US-EU-gestützten Ukranazis. Die Ukrainer besonders im Karpatenbereich sind nicht mit dem gekauften Tragikomiker Selenskyj gleich.
    Zum Glück nicht. Sie werden als Geisel im Krieg für US-Interessen von Selenskyjs Regime geopfert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert