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Die Situation der ungarischen Minderheit in der Karpatenukraine, Teil 2

Der Sitz des Ungarischen Kulturvereins in der Karpatenukraine, der am 27. Februar 2018 von Unbekannten in der Innenstadt von Ungvár (Uzhhorod) in Brand gesetzt wurde.

23. Juni 2022 Faktenwissen Ungarn von Alexander Rasthofer und Martin Böhm

In der Folge werden die wesentlichen gesetzlichen Einschränkungen und Streitpunkte seit 2014, welche die Beziehungen der beiden Länder auf die Probe stellten, kurz vorgestellt. Erster Teil: https://ungarnreal.de/die-situation-der-ungarischen-minderheit-in-der-karpatenukraine-teil-1/
2.1 Gesetzliche Bestimmungen

Bildungsreform 2017
Am 5. September 2017 erließ der Oberste Rat der Ukraine ein neues Bildungsgesetz, welches neben zahlreichen notwendigen Schritten zur Modernisierung des maroden Bildungssystems auch umstrittene Passagen über die Lehrsprache enthielt. In den Kindergärten und Grundschulen der Minderheiten soll der Unterricht nach wie vor hauptsächlich in der Minderheitensprache laufen. Ukrainisch soll zudem nicht wie zuvor als Muttersprache, sondern als Fremdsprache gelehrt werden. So würde man den Anforderungen des effektiven Spracherwerbs nachkommen, da viele Minderheitenangehörige über keine Grundkenntnisse der ukrainischen Sprache bei Schulanfang verfügen und ukrainischen Unterricht auf
Muttersprachniveau oftmals nicht verfolgen konnten.

Dagegen soll die Lehre an staatlich finanzierten Universitäten grundsätzlich auf Ukrainisch erfolgen. Davon wäre die Ungarische Fakultät für Gesellschafts- und Naturwissenschaften de Nationalen Universität in Ungvár (Uschhorod) betroffen. Die Auswirkungen des Gesetzes auf die privat betriebene II. Rákóczi Ferenc-Hochschule in Beregszász (Berehowe) sind noch ungewiss. Insbesondere die Regulierungen hinsichtlich des Gymnasialunterrichts entrüsteten die Minderheiten: Ab der 5. Klasse muss der Unterricht vorrangig auf Ukrainisch vonstattengehen, nur einige Fächer dürfen in anderen Sprachen der EU, was die meisten Minderheitensprachen bis auf das Russische umfasst, unterrichtet werden. In welchem Umfang
der ukrainische Unterricht dominieren und inwiefern der Minderheitensprachenunterricht sich nur auf den Spracherwerb und auf die Kenntnisse der Minderheitenkultur beschränken wird, scheint dagegen Sache rechtlicher Interpretation zu sein.

Eine Ausnahme von alldem bilden die sogenannten „alteingesessenen Minderheiten“, zu denen man die Krimtataren, aber nicht etwa die Ungarn oder Rumänen zählte.

Als Positivum gewertet wurde immerhin, dass die Implantierung der neuen Vorschriften nicht ab sofort, sondern innerhalb eines Zeitraumes von zwölf Jahren erfolgen soll.

Das Gesetz, welches gegen die „Grundwerte der westlichen Welt verstößt“ (Focus), wurde nicht nur von der ungarischen Minderheit und Ungarn, sondern auch von anderen Nachbarstaaten wie Rumänien und der Slowakei sowie vom Europarat gerügt, dessen Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in der Ukraine am 1. Januar 2006 in Kraft getreten ist und die der Europarat verletzt sieht.

Staatssprachengesetz 2019

Im April 2019 billigte das ukrainische Parlament ein Gesetz, dass schrittweise in Kraft tritt und den Einfluss des Ukrainischen in Verwaltung, Medien und Alltagsleben stärken soll.

Sämtliche Staatsbedienstete, Ärzte und Angestellte in Dienstleistungsbetrieben wie Supermärkten oder Apotheken müssen die Bürger auf Ukrainisch anreden. Nicht ukrainische Schilder auf Bahnhöfen, Flugplätzen und Busstationen müssen entfernt werden.

Ausgenommen sind das private und religiöse Leben, aber auch im Kultur- und Mediensektor kam es zu Beschneidungen der Minderheitenrechte, so müssen etwa ausländische Filme ukrainisch synchronisiert, Theaterstücke während der Vorführung untertitelt werden. Überregionale (russische) Printzeitungen darf man nur noch gemeinsamen mit Exemplaren in ukrainischer Sprache veröffentlichen, andere Minderheiten außer der russischen sind von diesem Passus im Gesetz nicht betroffen.

Doppelte Staatsbürgerschaf

Ein weiterer Streitpunkt ist die doppelte Staatsbürgerschaft vieler ethnischer Ungarn in der Ukraine, deren Erwerb grundsätzlich für ukrainische Staatsbürger nicht möglich, doch auch nicht explizit verboten ist. Obwohl die ukrainische Regierung über den Erwerb der ungarischen Staatsangehörigkeit durch Zehntausende ukrainische Staatsbürger ungarischer Herkunft in Kenntnis war, nahm sie dies über mehrere Jahre zuerst hin. Jedoch eskalierte die Situation, als im Herbst 2018 eine versteckte Kameraaufnahme auftauchte: Auf dieser war zu sehen, wie ukrainische Staatsbürger im ungarischen Konsulat von Beregszász den Eid auf Ungarn ablegten und die Mitarbeiter des Konsulats den neuen ungarischen Staatsbürgern rieten, ihren erworbenen Reisepass vor den ukrainischen Behörden geheim zu halten. Kurz darauf wies die ukrainische Regierung den ungarischen Konsul aus, mit der Begründung, die Konsulatsmitarbeiter hätten gegen ukrainisches Gesetz und damit gegen das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen verstoßen.

Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt Anfang März 2021, nachdem der ukrainische Präsident Wladimir Selenski eine Verordnung über die „Bekämpfung der Risiken für die nationale Sicherheit in Fragen der Staatsbürgerschaft erließ, die im Kern vorsah, Doppelstaatsbürgern die Ausübung eines höheren öffentlichen Amtes zu verbieten. Auf Grundlage der Verordnung sollten Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit vom ukrainischen Geheimdienst innerhalb von zwei Monaten auf einer Liste erfasst werden, einen Gesetzesbeschluss über den Amtsausschluss visierte man innerhalb eines halben Jahres an.

So hätten Anhänger der ungarischen Minderheit mit doppelter Staatsbürgerschaft kein staatliches oder kommunalpolitisches Amt mehr innehaben oder ein strategisch wichtiges Unternehmen leiten können, auch wäre die Mitgliedschaft in einer Partei fortan nicht mehr möglich gewesen.

Zudem dürften doppelte Staatsbürger „keine Staatsgeheimnisse kennen“.

Im September desselben Jahres änderte sich der Standpunkt der ukrainischen Regierung bezüglich der doppelten Staatsbürgerschaft. So soll der Weg für die Legalisierung der doppelten Staatsbürgerschaft geebnet werden, mit Ausnahme der russischen Staatsangehörigen.

2.2 Anfeindungen und Übergriffe

Nationalistische Übergriffe gegen die ungarische Minderheit der Ukraine nahmen insbesondere nach der Verabschiedung des minderheitenfeindlichen Bildungsgesetzes vom September 2017 zu; doch in der Spirale der Gewalt spielen auch geheimdienstlich provozierte Übergriffe eine Rolle. Bereits zwei Monate nach dem Gesetzesbeschluss, am 12. November 2017, kam es in Beregszász bei einem Protestmarsch der rechtsradikalen Gruppe Svoboda zu einem Vorfall, bei dem 50 Randalierer die ungarische Flagge vom Stadtratsgebäude entwendeten und daraufhin diese zu verbrennen versuchten. Die Aktivisten konnten von der Polizei noch daran gehindert werden.

Wenige Wochen später, Anfang 2018, stellten vier unbekannte ukrainische Nationalisten ein Drohvideo auf YouTube online, in dem sie in paramilitärischer Uniform und mit der Flagge der Ukrainischen Aufständischen Armee, einer nationalistischen paramilitärischen Partisanenarmee, auftraten. In diesem verbrannten sie eine ungarische und eine polnische Flagge mit der Drohung, den „Dolchstoß“ der Ungarn und Polen, die die territoriale Integrität der Ukraine gefährden würden, nicht zulassen zu werden. Das Video wurde mittlerweile von YouTube gesperrt.

In diesem Zeitraum passierten teilweise im Wochentakt kleinere antiungarische Zwischenfälle, wie das Zerkratzen von PKW mit ungarischem Kennzeichen. Antimagyarische Schmierereien, Pöbeleien und Drohbriefe kommen regelmäßig vor. Teilnehmerinnen einer Demonstration für Frauenrechte in der Karpatenukraine wurden von ukrainischen Nationalisten verprügelt.

Im Februar 2018 Monats gipfelten die Angriffe in einem versuchten sowie einem tatsächlichen
Brandanschlag auf ein ungarisches Kulturzentrum sowie das Büro der ungarischen Minderheitenorganisation in Ungvár. Bei ersterem hatten zwei junge Männer aus Polen versucht, das Gebäude mit Molotow-Cocktails in Brand zu stecken. Kurz nach ihrer Tat wurden sie von der Polizei festgenommen. Ihnen wurde eine Verbindung zur prorussischen Terrororganisation Falanga nachgewiesen, einer der Hintermänner soll ein Mitarbeiter eines AfD-Parlamentariers gewesen sein, der kurz darauf gefeuert wurde. Beim zweiten, deutlich professioneller durchgeführten Anschlag brannte das Kulturzentrum völlig aus, auch das Büro wurde vollständig verwüstet. Es konnten Verbindungen der ukrainischen Täter nach Transnistrien belegt werden. Hennadij Moskal, Verwaltungsleiter des Bezirks, erläuterte, dass es beim russischen Geheimdienst eine eigene Abteilung für derartige Destabilisierungen gebe, die gute Verbindungen zu verschiedenen rechtsradikalen Terrorgruppen unterhalte. Die
Verantwortung allein in Moskau zu suchen, wäre jedoch zu kurz gedacht, da immer wieder auch innerukrainische Extremisten mit derlei Taten aufgefallen sind.

Im Oktober 2018 kam es zwischen Ungarn und der Ukraine gleich aus dreierlei Gründen zum Eklat. Erstens wurde durch die ukrainische Nationalistengruppe Mirotvorec („Friedensmacher“) eine „Todesliste“ ins Internet gestellt, die die persönlichen Daten von circa 300 ungarisch-ukrainischen Funktionären mit doppelter Staatsbürgerschaft enthielt. Zweitens fiel die ukrainische Regierung dadurch auf, dass sie zunehmend Truppen an die ungarische Grenze verschob, und dort verstärkt Kasernen baute. Drittens

veröffentliche die Webseite des ukrainischen Parlaments eine Bürgerpetition, die Unterschriften für die Forderung sammelte, alle ungarisch-ukrainischen Doppelstaatsbürger zu identifizieren und auszuweisen.

Kiew wies alle Anschuldigungen zurück und betonte, man würde sich im Minderheitenschutz am EU-Land
Frankreich orientieren (das wiederum nicht für ein ausgeprägtes Minderheitenschutzsystem bekannt ist). Stimmen aus dem ukrainischen Parlament wurden laut, die forderten, in Beregszász, dem regionalen Zentrum der ungarischen Minderheit, leerstehende Wohnungen der dortigen Ungarn mit Staatsgeldern aufzukaufen und dort ukrainische Vertriebene aus dem russisch besetzten Osten des Landes anzusiedeln. „Auf diese Weise könne man die ethnische Struktur der Region verändern“, sagte der Abgeordnete Viktor Baloga – der im Parlament einen karpatenukrainischen Wahlkreis vertritt. „Wenn dort für die Anzusiedelnden auch Schulen und kulturelle Einrichtungen entstünden, könne niemand mehr von einer ungarischen Enklave in der Ukraine sprechen„, sagte Baloga.

Der Trend der Einschüchterungen setzte sich auch im Jahr 2020 fort, als am 30. November mehrere Minderheitenorganisationen von ukrainischen Kommandoeinheiten gestürmt und durchsucht wurden. Grund für diese Aktion bildete wohl ein heimlich veröffentlichtes Video einer lokalen politischen Veranstaltung vom 21. November, bei der kommunale Vertreter zur Eröffnung die ungarische Nationalhymne angestimmt hatten. Am 1. Dezember wurde eine Untersuchung wegen Hochverrates, Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine und Fälschung von Dokumenten eingeleitet.

Im Januar 2021 hatten ukrainische Rechtsextremisten, kurz vor dem Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Kiew, den transkarpatischen Ungarn mit einem Blutbad gedroht, zeitgleich kam es zu Schmierereien und weiteren Anschuldigungen, welche die Ungarn des Separatismus bezichtigen.

Ungarische Einrichtungen, darunter Schulen, bekamen Drohbriefe mit Forderungen, dass die „ungarischen Bastarde“ innerhalb einer Woche das Land verlassen sollen.

In den vergangenen Jahren wurden mehrere ungarische Politiker, die die Karpatenukraine besuchen wollten, um unter anderem Unterstützung für die Partei der ungarischen Minderheit in der Ukraine (KMKSZ) zu leisten, vom ukrainischen Geheimdienst SBU zu Personen non-grata erklärt. Gründe hierfür waren die vermeintliche „Einmischung in innere Angelegenheiten“ und Separatismus.

Zusammenfassung

Vonseiten der ukrainischen Politik lastet mindestens seit dem Krieg im Osten des Landes ein erhöhter Druck auf allen Nicht-Ukrainern, eine Situation, die durch die jüngste Eskalation des Krieges noch verstärkt werden dürfte. Zur Erschwerung der Lage tragen geheimdienstliche Aktionen der Ukraine und Russlands bei. Dass sich die Minderheitensituation in Transkarpatien bis heute weiter verschlechtert hat, bestätigte erst jüngst, kurz vor dem Ausbruch des Krieges, eine Expertengruppe ungarischer Minderheitenvertreter vor dem EU-Parlament in Straßburg.

In ihrer Rede am 17. Februar 2022 betonte MEP Andrea Bocskor, die aus der Karpatenukraine stammt,

dass legislative Prozesse in der Ukraine verstärkt in Richtung einer Beschränkung von Minderheiten-, Sprach-, Bildungs- und anderen Rechten gehen würden bis hin zu einer Dominanz der ukrainischen Sprache im Land.

Im Schatten des ukrainisch-russischen Konflikts werde der Dialog über Minderheitenrechte zunehmend schwieriger, obwohl die Ungarn der Karpatenukraine und andere Minderheiten loyale Bürger der Ukraine seien, die gleichermaßen wie die Mehrheit am gesellschaftlichen Leben partizipieren würden und dieselben Schwierigkeiten erführen.

Autoren, Alexander Rasthofer ist wissenschaftliche Hilfskraft, Martin Josef Böhm ist Projektassistent für Forschung im Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit

https://magyarnemetintezet.hu/documents/doc/Dossier%20ungarische%20Minderheit%20Ukraine.pdf

MAGYARELLENES MEGNYILVÁNULÁSOK UKRAJNÁBAN 2014-2018. A dokumentumfilm alapjául szolgáló anyagot a II. Rákóczi Ferenc Kárpátaljai Magyar Főiskola (II. RF KMF) Lehoczky Tivadar Társadalomtudományi Kutatóintézete készítette. Az intézet 2014–2018 között közel 426 magyar­ellenes esetet dokumentált. A felgyűjtött kutatási adatokból a TV21 Ungvár stábja készített dokumentumfilmet, melyet már Brüsszelben, az Európai Parlamentben is bemutattak.

(Anti-ungarische Anschläge in der Ukraine 2014-2018) Der Dokumentarfilm wurde vom Tivadar Lehoczky Institut für Sozialwissenschaften der Ferenc Rákóczi II Ungarische Hochschule in Transkarpatien (RF KMF II) produziert. Das Institut hat zwischen 2014 und 2018 fast 426 anti-ungarische Fälle dokumentiert. Die gesammelten Forschungsdaten wurden vom Team von TV21 Ungvár verwendet, um einen Dokumentarfilm zu produzieren, der bereits im Europäischen Parlament in Brüssel gezeigt wurde

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