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Wahlkampf auf Ungarisch, 2022 – Eine Lagebeschreibung

8. Februar 2022, Budapester Zeitung von Martin Böhm

Am 3. April werden die 199 Abgeordneten des ungarischen Parlaments gewählt. Für den gleichen Tag ist auch ein Referendum über die Eckpunkte des im Juni 2021 verabschiedeten Kinderschutzgesetzes angesetzt.

Knapp neun Wochen vor den Wahlen nimmt der Wahlkampf merklich an Fahrt auf. In der Presse steigert sich die Vehemenz des politischen Schlagabtausches, und auch im Ausland regt es sich. Kann sich die Listenverbindung aus Fidesz und KDNP behaupten, oder schafft es die weitgehend vereinigte Opposition, mit Péter Márki-Zay den nächsten Ministerpräsidenten des Landes zu stellen?

Divergierende Umfrageergebnisse

Die Umfragen sind sich bisher uneins. Regierungsfreundliche Meinungsforschungsinstitute wie etwa Nézőpont sehen derzeit die Regierung in haushohem Vorsprung vor der Opposition. Regierungskritische Demoskopen wie die von Republikon ermittelten hingegen, dass die vereinigte Opposition die Wahlen für sich entscheiden würde. Dazwischen deuten die Ergebnisse anderer Institute wie Závecz oder IDEA schon seit Monaten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin, wenngleich die Beliebtheit der Regierungsparteien im Januar im Vergleich zu den Vormonaten tendenziell zunahm. All dies lässt den Rückschluss zu, dass die Karten hinsichtlich des Kräfteverhältnisses nach den Parlamentswahlen noch nicht ganz gemischt sind. Eine Zweidrittelmehrheit, an die sich der Fidesz in den vergangenen Legislaturperioden gewöhnen durfte, scheint indes nicht wahrscheinlich. Das gilt auch mit Blick auf die vereinigte Opposition.

Wegen der starken Elemente des Mehrheitswahlrechts im ungarischen Wahlsystem haben aber die Direktkandidaten der Opposition im Vergleich zu den Vorjahren jetzt rein mathematisch deutlich bessere Sieges­chancen. Während 2014 und 2018 die Oppositionsparteien in den Wahlkreisen ihre jeweils eigenen Direktkandidaten aufstellten, tritt nun die vereinigte Opposition in jedem Wahlkreis mit nur einem gemeinsamen Kandidaten an.

Ungarn gleicht damit derzeit einem Zweiparteiensystem, bestehend aus zwei starken Blöcken. Bei den vorherigen Wahlen hingegen dominierte Fidesz als die einzige Volkspartei, umringt von mehreren kleinen Oppositionsparteien, von denen keine über 20 Prozent kam.

Für was steht der Spitzenkandidat der Opposition?

Trotz dieser neuen Ausgangslage ergaben mehrere Umfragen, dass etwa zwei Drittel der Ungarn den Wahlsieg der gegenwärtigen Regierungsparteien für wahrscheinlich halten. Optimismus bei den Anhängern der Opposition sieht anders aus. Dazu kommt, dass die Popularität von Orbán-Herausforderer Márki-Zay seit seiner Nominierung im Oktober 2021 eher ab-, denn zugenommen hat. Nicht wenige fragen sich inzwischen, für was Márki-Zay eigentlich stehe – was nicht überrascht, angesichts des überbreiten Spektrums der Parteien, die ihn unterstützen, von rechtsradikal bis linksliberal.

Márki-Zay, Bürgermeister der südungarischen Mittelstadt Hódmezővásárhely, bezeichnet sich selbst als gläubig und konservativ, pro-europäisch, aber migrationsfeindlich. „Orbán geht, der Grenzzaun“ bleibt, verlautbaren die Wahlplakate seiner Bewegung. Weitere Schlagworte, die gegen die amtierende Regierung von Márki-Zay in den Ring geführt werden, sind der Kampf gegen die vermeintliche Korruption („Orbán ins Gefängnis“), die Abkehr von der EU-kritischen Politik oder die Beibehaltung der Nebenkostensenkungen.

Abgesehen davon sind seine Vorstellungen bisher aber recht undurchsichtig. Es liegen auch nur Fragmente eines Wahlprogramms vor,

dessen Verabschiedung noch auf sich warten lässt.

Trotz programmatischem Schweigen laufen die Vertreter der Opposition jedesmal zur Hochform auf, wenn es gilt, Schritte der Regierung zu kritisieren. So etwa die Nominierung von Familienministerin Katalin Novák für das Amt des Staatspräsidenten, nachdem János Áder dieses im Frühjahr aufgeben muss. Die in Ungarn über Parteigrenzen hinaus für ihr familienfreundliches Programm geschätzte Novák wurde von Márki-Zay für „noch untauglicher als Áder“ befunden. Die Geister scheiden sich an allem. Die Regierung hofiere die Russen und Chinesen, das Gesundheitswesen sei krank, die Wirtschaft marode, hört man vonseiten der Opposition.

Fidesz und KDNP sehen das alles natürlich anders.

Selbst die kürzliche Eröffnung eines Konzerthauses wurde zum Politikum und Sinnbild der Spaltung der ungarischen Gesellschaft.

Im Rahmen des Liget Projekts wurde das Haus der Ungarischen Musik im Budapester Stadtpark fertiggestellt, gefolgt vom Applaus von Anhängern der Regierung. Vertreter der Opposition quittierten die Eröffnung allerdings mit harscher Kritik. Hintergrund ist der jahrelange Streit über das Liget Projekt, das 2011 von der Regierung initiiert wurde, um den maroden Stadtpark in ein grünes Museumsviertel umzugestalten. Der damalige Aktivist und spätere Oberbürgermeister Gergely Karácsony stellte sich von Anfang an vorgeblich aus Gründen des Umweltschutzes gegen die Pläne, die aber von der Mehrheit der Ungarn befürwortet werden.

Verbale Entgleisungen

Angeheizt wird der Wahlkampf überdies von mehreren verbalen Entgleisungen, die sich Márki-Zay seit seiner Spitzennominierung erlaubte und die von regierungsfreundlichen Medien beherzt aufgegriffen werden. Im November postulierte Márki-Zay beispielsweise, dass Orbán 2019 mehr als 55.000 Migranten ins Land gelassen habe, George Soros dagegen keinen einzigen. Dass allerdings unter den 55.000 „Migranten“ die überwiegende Mehrheit aus den Nachbarstaaten Ungarns und nicht aus Nordafrika oder aus dem Nahen Osten kam, war für Márki-Zays Versuch, Orbán als Migrantenfreund darzustellen, nicht gerade förderlich. Hinzu kamen Antisemitismus-Vorwürfe gegen Márki-Zay, nachdem seine Zusammenarbeit mit allseits bekannten Antisemiten aus den Kreisen von Bündnispartner Jobbik bekannt wurde. Jüngst bezeichnete Márki-Zay Fidesz-Wähler sogar als „behindert“. Ungarn gilt zwar nicht als Hort der political correctness, aber

solche Entgleisungen sprechen selbst hier nicht gerade für die Seriosität eines möglichen Ministerpräsidenten.

Andererseits ist auch der Wahlkampf des Fidesz-Lagers etwas gewöhnungsbedürftig. So sieht man beispielsweise bei einer aktuellen Plakatkampagne neben dem Konterfei des ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc („Feri“) Gyurcsány den Zwerg Péter-Márki-Zay hampeln. Als angebliche Marionette von Gyurcsány wird diesem sodann der Titel „Mini-Feri“ verpasst.

Corona-Politik ist kein Wahlkampfthema

Der Fidesz gibt sich bisher selbstbewusst und siegessicher. Mit der recht liberalen Corona-Politik der ungarischen Regierung ist die Mehrheit der Ungarn zufrieden, während in anderen europäischen Staaten die Frust über die Maßnahmen bisweilen Zehntausende auf die Straße bringt. Die Wirtschaft hat sich nach den Lockdowns im europäischen Vergleich wieder schnell erholt, das Land bringt bemerkenswert viele Infrastrukturprojekte auf den Weg und

der Lebensstandard ist in den letzten zwölf Fidesz-Jahren deutlich gestiegen. Ungarn avancierte zu einem echten Motor in Ostmitteleuropa.

Doch insbesondere die Rekordinflation der letzten Monate, die auch Ungarn nicht verschonte, spüren viele in ihrem Portemonnaie. Das könnte der ungarischen Regierung tatsächlich noch Probleme bereiten. So ergriff sie vorsichtshalber mit der Deckelung einiger wichtiger Preise die Initiative. Auch die schon lange vorher beschlossenen Steuersenkungen für Familien, Jugendliche und mittelständische Unternehmen nehmen jetzt Wind aus den Segeln einer möglichen Empörungswelle.

Aktuell sind keine weiteren Ereignisse erkennbar, die zu einer größeren Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Opposition und Regierung führen könnten. Vor Kurzem forderte Márki-Zay Amtsinhaber Viktor Orbán zu einem TV-Duell heraus. Bisher hat Orbán auf dieses Ansinnen nicht reagiert. Stattdessen ergriff Fidesz-­Kommunikationsdirektor István Hollik das Wort: „Jeder weiß, dass Ferenc Gyurcsány der Chef bei den Linken ist. Es hat keinen Sinn, mit einem seiner Untergebenen zu diskutieren.“ Wahlkampf auf Ungarisch.

Der Autor, Martin Böhm ist Mitarbeiter des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am MCC.

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