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Ungarn: Rosinenpicker oder Nation der Schuldigen?

14. März, 2022 Magyar Hírlap von IRÉN RAB und BALÁZS HORVÁTH

Am 28. Juni 1914 ermordete der serbische Terrorist Gavrilo Princip in Sarajevo Franz Ferdinand, den Thronfolger der k.u.k. Monarchie . Politiker und Völker Europas waren gleichermaßen erleichtert: endlich Krieg. István Tisza, Ministerpräsident von Ungarn, konnte dieses Gefühl nicht teilen. Stattdessen nahm er den ersten Zug nach Wien zum Kaiser Franz Joseph. Er wollte unbedingt den Krieg verhindern, verhindern. dass Forderungen an Serbien gestellt werden, die das Land nicht erfüllen kann.

Die k.u.k Doppelmonarchie war eine Realunion zweier unabhängiger Staaten, Ungarn und Österreich, aber die Kriegspolitik wurde gemeinsam in Wien entschieden. Und in Wien, wie Tisza bitter erfahren musste, hatte nicht Budapest, sondern Berlin den größeren Einfluss: der Krieg war nicht zu verhindern.

„Bis die Blätter fallen, kehren unsere Soldaten zurück“. Das taten sie nicht. In den folgenden vier Jahren kämpften die ungarischen Truppen stets an vorderster Front. Soweit, dass kein anderes Volk in der Vielvölkermonarchie so hohe Verluste erlitten hat. Und kein anderes Volk wurde nach dem Krieg dermaßen bestraft.

  • Im Süden, ganz wie es sich der Terrorist Gavrilo Princip vorgestellt hatte, entstand ein südslawischer Staat, das spätere Jugoslawien, beschenkt mit großen Gebieten von Südungarn.
  • Im Norden wurde aus dem ehemaligen Tschechischen Königreich und aus Nordungarn die Tschechoslowakei erschaffen.
  • Im Osten wurde das Gebiet Rumäniens erweitert: nicht nur mit Siebenbürgen, sondern auch das Partium und ein Teil Südungarns mussten sich Rumänien anschließen. Rumänien bekam somit einen größeren Teil des tausendjährigen ungarischen Königreichs, als den Ungarn selbst erhalten blieb.
  • im Westen distanzierte sich die neu gegründete österreichische Republik von der Monarchie und beanspruchte einen Teil Westungarns für sich.

So nahm die jahrhundertelange Dominanz der Habsburger in Mitteleuropa ein Ende. Ironischerweise hatte sich kein Volk so oft und so ausgiebig gegen diese Dominanz gewehrt wie die Ungarn. Am Ende jedoch durften die Ungarn das ganze Odium der zum Gefängnis der Völker stilisierten Monarchie allein tragen.

Dementsprechend könnte man denken, dass sich 20 Jahre später über den Ausbruch des zweiten Weltkrieges niemand so freute wie die Ungarn. Dem war aber nicht so. Ungarn wollte eine Wiedergutmachung, aber keinen Krieg. Als die Wehrmacht ungarische Territorien und Infrastruktur zur Invasion Polens nutzen wollte, lehnte Ungarn dies ab. Stattdessen öffnete Ungarn seine Grenze, um polnische Flüchtlinge aufzunehmen, inklusive der Reste der polnischen Armee, die sich später den Alliierten anschlossen. Damit ging das Land kein geringes Risiko ein, doch so verlangte es der Anstand und die tausendjährige Freundschaft zwischen den Nationen.

Die Empörung in Deutschland war groß. Die Legende Ungarns als Rosinenpicker war geboren: Ja zur Änderung der Grenzen (Wiener Entscheidung I und II) aber Nein zum Krieg oder den Nürnberger Gesetzen.

Ein Jahr später richtete die Wehrmacht keine Wünsche mehr an Ungarn, sondern eine Frage: Wollte die ungarische Armee im Krieg gegen Jugoslawien mit oder gegen die Wehrmacht kämpfen? Was für eine Frage! Kämpfen? Womit denn überhaupt? Gemäß dem nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Friedenspakt durfte Ungarn nur eine Operettenarmee halten, da die zugelassenen Militärkapazitäten beschränkt waren. An diese Vorschriften hatte sich Ungarn gewissenhaft gehalten, Hitler allerdings nicht. Und nun sollte man mit ihm gemeinsam eben jenes Jugoslawien überfallen, mit dem zum Schutz der zwangsläufig dort lebenden halben Million Ungarn ein Freundschaftsvertrag geschlossen worden war? Doch leider war Hitlers Frage rein rhetorisch, eine Ablehnung kam nicht in Frage. Pál Teleki, der ungarische Ministerpräsident, fand trotzdem einen Weg, dem Krieg nicht zuzustimmen.

Nachdem er die Allianz zwischen Nazi-Deutschland und Ungarn in seinem Abschiedsbrief als Schande bezeichnet und die deutschen Verbündeten als Halunken beschimpft hatte, nahm er seine Pistole und jagte sich eine Kugel durch den Schädel.

Einige Monate später fand das gesamte vereinigte Europa zusammen, um die tödliche Gefahr des Bolschewismus zu bekämpfen. Zumindest stellte die deutsche Presse so den Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion dar. Ganz unbegründet war diese Ansicht nicht: Außer Deutschland waren noch Finnland, die Slowakei, Italien, Spanien und Rumänien beteiligt. Andere Länder wie Tschechien, Belgien oder Frankreich halfen, vielleicht nicht ganz freiwillig, mit Waffenlieferungen aus.

Und Ungarn? Es verweigerte die Teilnahme.

Diesmal empörte sich nicht nur die europäische Presse, sondern auch viele Ungarn. Und zwar dermaßen, dass ein paar Wochen später, als einige verirrte, vermutlich sowjetische (dies ist bis heute nicht ganz geklärt) Flugzeuge Kaschau bombardierten, der deutschstämmige Stableiter der ungarischen Armee, Henrik Werth, verkündete: „Es mag sein, dass das Ungarische Königreich sich mit der Sowjetunion nicht im Krieg befindet, aber die Arme des Ungarischen Königreichs befindet sich sehr wohl im Krieg.“ Einige Monate später schickte Gouverneur Horthy Herrn Werth in den Ruhestand und ernannte den bekannten Nazigegner Ferenc Szombathelyi zum Stabführer der ungarischen Armee. Doch das war zu spät, denn zu der Zeit kämpften die ungarischen Husaren schon längst mit gezogenem Schwerte gegen sowjetische Panzerkolonnen.

Vier Jahre später hatte sich die europäische Allianz schon längst aufgelöst:

Italien – ausgeschaltet, Finnland – Sonderfrieden geschlossen, Rumänien – Seite gewechselt, Slowakei – der Nazi-Freund Tiso wurde geputscht. Nur die Ungarn kämpften noch immer: die letzten Einheiten ergaben sich in Bayern den Amerikanern. Der Mythos der letzten Verbündeten Hitlers wurde geboren. Ungarn, die Nation der Schuldigen.

Der kalte Krieg mündete zum Glück nicht in einen tatschlichen Kampf. Stattdessen gab es 1956 und Gulaschkommunismus im Land der lustigsten Baracke, in Ungarn. In der 80-er Jahren benutzte die Sowjetunion Ungarn jedoch dazu, wertvolle Devisen aufzutreiben. Das Ergebnis war, dass zur Zeit des Systemwechsels kein Land so tief verschuldet war wie Ungarn. Und zwar nicht nur im Ostblock, sondern auf der ganzen Welt. Ungarn war de facto zahlungsunfähig, und damit wurde ein allmählicher Übergang zur Marktwirtschaft unmöglich. Daher hat es bis 2015, also 25 Jahre gedauert, bis das Lebensniveau der 80-er Jahre übertroffen werden konnte. Die hohe Verschuldung aber belastet das Land bis heute.

Vergessen wir jedoch nicht, dass Ungarn 1989 seine Grenzen vor den freiheitssuchenden Ostdeutschen öffnete und dafür auch eventuelle sowjetische Retorsionen in Kauf nahm – denn damals war Ungarn noch nicht unabhängig, sowjetische Truppen waren im Land stationiert. Das war ein großes Risiko, es hätte alles Mögliche passieren können.

Die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands begann mit Ungarns Hilfe, Dank erwartet das Land hierfür jedoch nicht, denn auch hier war es selbstverständlich, Unterstützung zu bieten.

Als die zusammengeflickten Nachfolgerstaaten zusammenbrachen, erhob Ungarn keine Gebietsansprüche, denn man glaubte,

dass die Europäische Gemeinschaft Heilung für die Wunden des Landes herbeiführen würde. Heute ist Ungarn für alles der Sündenbock, obwohl es von Brüssel im Zeichen der nationalen Souveränität nur Gerechtigkeit und die Unterlassung der Doppelmoral fordert.

Am 21. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen. Die Ukrainer leisten tapfer Widerstand, und die Länder Europas sind begeistert. Sie überstürzen einander regelrecht damit, wie sehr sie der Ukraine helfen möchten, und hoffen auf den baldigen Sturz des russischen Präsidenten Putin. Sie diskriminieren gegen Russen und unterstützen die Ukraine mit Waffenlieferungen. Alle Länder, bis auf eins. Ungarn weigert sich, Waffen zu liefern oder auch nur ihrem Transport durch das Land zuzustimmen.

Genau wie 1939 nimmt das Land massenweise Flüchtlinge auf und kümmert sich um sie, und gleichzeitig auch um die ungarischen Gemeinden außerhalb der Landesgrenzen. Ungarn steht wie immer auf der Seite des Friedens, es will sich nicht in den Krieg einmischen, sondern fordert einen Kompromiss und einen gerechten Frieden.

Die Zeitungen in Europa sind empört und wiegeln ihre Leser im Namen der europäischen Solidarität und Gemeinschaftsbekennung gegen die ungarischen „Rosinenpicker“ auf

Und ich seufze verzweifelt vor mir hin: LIEBER GOTT, BITTE, BITTE NICHT SCHON WIEDER!

Autor, Dr. phil. nat. Balázs Horváth ist Umweltforscher

MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20220321-szaz-ev-magany

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