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Über die Wurzeln des ungarischen Liberalismus

8. August 2021 Gastbeitrag von ZOLTÁN W.-NEMESSÚRI

Der Liberalismus ist in Ungarn seit 1989-90, also seit dem Systemwechsel, Gegenstand immer hitzigerer Scheindebatten. Er stellt eine Sichtweise und politische Handlungsweise dar, die unsere Gesellschaft bereits seit 30 Jahren spaltet. Aus westlicher Sicht, besonders aus amerikanischer, sticht er nicht besonders hervor, doch bei uns und in Osteuropa ist er keineswegs als allgemein anerkannt zu betrachten. Im Westen sind die 12 Punkte des Anarchisten Saul Alinsky längst akzeptiert (“angreifen, angreifen, angreifen, von allen Seiten, gib der wankenden Organisation nie Gelegenheit zu rasten…”), bei uns aber sind sie relativ neu. Alinskys Ermutigung ist hierzulande erst vor 15-20 Jahren angekommen: “Macht ist nicht nur das, was du hast, sondern auch das, von dem der Gegner glaubt, dass du es hast. Macht wird aus zwei Quellen gewonnen: Geld und Menschen. Wer kein Geld hat, baut Macht aus Fleisch und Blut auf.” Und so weiter.

Mit anderen Worten ist die Diskreditierung von politischen Gegnern mit unehrenhaften Mitteln, die Involvierung ihrer Familien und Angehörigen in den Kampf, gemeine Verleumdung, Verdrehung und Verschweigung von Tatsachen – mit starkem Rückenwind aus den Medien –

seit einer Weile auch bei uns in ordentlichem Maße zu beobachten. Die Instrumente des Neoliberalismus sind überaus wirksam, nicht nur in der Innen-, sondern auch in der Außenpolitik, vor allem auf dem Schlachtfeld der EU, in Deutschland, den Benelux-Staaten und den skandinavischen Ländern. Egal, ob es um illegale Migration geht oder Geschlechterverhältnisse, die Interpretation der Freiheitsrechte und die übermäßige Ausdehnung der Macht der Gerichte (siehe “Juristokratie”), die Schwächung der Subsidiarität – ursprünglich eine der Säulen der EU – oder die Vereinheitlichung, also die totale wirtschaftliche und politische Union,

eine immer stärkere Ausbreitung einer Großreich-Denkweise.

Als würde die organische historische Entwicklung nicht existieren.  Das Zusammendrängen verschiedener Sprachen, Wirtschaften, Traditionen und Kulturen unter einem Dach hat immer mit Erpressung begonnen und ist in Krieg ausgeartet. Ostmitteleuropa, besonders Ungarn und Polen, hatte hierunter wohl zu leiden, was ein Grund ist, weshalb diese Länder sich derartigen Bestrebungen entgegenstellen.

Dabei ist Liberalismus von Grund auf national konzipiert und von nationalem Charakter. Er ist inseparabel von den Kämpfen, die mit den frühneuzeitlichen dynastisch gesinnten Reichen bestritten wurden. Bei uns hatte er – verspätet – ursprünglich die Erstreitung bürgerlicher und ethnischer Freiheitsrechte im von mehreren Nationalitäten bewohnten Ungarn (Karpatenbecken) zum Ziel, sowie die Verminderung gesellschaftlicher Unterschiede, die Einführung eines allgemeinen und geheimen Wahlrechts, die Verbesserung des Lebensstandards von Bauern und Arbeitern und die Erleichterung des Zugangs zu Kultur, unabhängig von Geschlecht, Vermögen oder Bildungsstand.

Der nationale Liberalismus plädiert auch heute für die Ausweitung der Freiheit,

sowohl aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht als auch aus der Perspektive der Chancengleichheit.

Im Vergleich dazu ist die heutige Linke in Ungarn ein Hochstapler. Sie gaukelt den Wählern und sich selbst eine “westliche” Weltanschauung vor, während die politische Palette eigentlich überaus farbenfroh ist. Sie leugnet die Tatsache, dass die Kreation eines einheitlichen europäischen Staates im Interesse des transnationalen Kapitals, im Interesse der Welt liegt, und nicht den einzelnen Ländern dient. Das Ziel ist eine Vereinheitlichung des Konsums und die Vergrößerung des Arbeitsmarktes um jeden Preis. Es ist das Spiel der multinationalen Unternehmen und der überbezahlten, teilweise stark korrumpierten Politiker, die diesen dienen, ohne Rücksicht auf die schweren gesellschaftlichen Folgen.

Der Neoliberalismus ist im Osten wie im Westen gleichermaßen kosmopolitisch und gegen nationale Werte,

in Deutschland deutet er den Begriff der Leitkultur um, bei uns verspottet er Traditionen und die in Amerika entstandene Cancel Culture ändert die Geschichte rückwirkend ab. Sie breitet sich in Großbritannien und dem kontinentalen Europa aus wie die Pest.

In Ungarn ist dies unter anderem aus dem Grund amüsant und inakzeptabel, dass wir nie Kolonien besessen haben, seit dem frühen Mittelalter keine Eroberungskriege geführt haben, sondern stattdessen die Lasten der andauernden

Angriffe des Heiligen Römischen Reiches, der 150-jährigen Unterdrückung durch das türkische Reich, des österreichischen Kaiserreichs, des Faschismus und der 44-jährigen sowjetischen Besetzung

zu tragen hatten. Dazu zählen auch die damit einhergehenden Bevölkerungsverluste, wirtschaftlichen Krisen, die Abwanderung, die Stagnierung der Entwicklung und der steile Einbruch des Lebensstandards. Von diesen Kataklysmen versuchen wir uns wieder und wieder zu erholen und auf die Beine zu kommen, was in den letzten zehn Jahren auch zu gelingen scheint.

Die linksliberale Opposition in Ungarn legt alles daran, diesen Vorgang zu behindern, unter anderem über die bedingungslose Befürwortung von Migration und die Verleugnung, Verzerrung und falsche Darstellung unserer nationalen Werte und Bestrebungen.

In den heutigen Verhältnissen des freien Wettbewerbs, in welchen Wettstreit und Erneuerung eine Grundvoraussetzung sind, ist für ihre Wählerschaft  weiterhin der niedrige, aber sichere Lebensstandard eines parteistaatlichen Kindergartens maßgebend, das Planschen in lauwarmem Wasser, bei geringstmöglicher Leistung.

Im Westen erhoffen sich viele, vor allem Politiker, von der Migration den Ausgleich von Arbeitsmarkt und sinkender Bevölkerung. Es zeichnet sich eine Art neues Vasallensystem ab, das vom “Deep State” und seinen politischen Dienern sowie von als liberal bezeichneten Medienmitarbeitern, Universitätsdozenten, Künstlern und Prominenten betrieben wird, unter ständiger Proklamation von Demokratie und Freiheitsrechten. Oberflächlichkeit und Konsequenzlosigkeit sind zur Mode geworden. Laut dieser Menschen ist es unsere Pflicht, einen nicht lesekundigen Einwanderer wirtschaftlich und gesellschaftlich aufzunehmen, wenn nötig zu Ungunsten hart arbeitender Eingeborener, und ihn nach gleichem Maßstab zu beurteilen.

Als wären die “Menschenrechte” eines Terroristen vorrangig gegenüber denen seiner Opfer. Als wären Fleiß und Strebsamkeit in dieser schönen neuen Welt unerheblich.

Das ist nichts anderes als der untragbare Anachronismus des Feudalismus, die zeitgenössische Variante von Vorrechten aufgrund von Stand, Vermögen oder Familie. Was tun jene, die über die Neuverpackung alter Herrschaftsinstrumente versuchen, etwas “Fortschrittliches” zu erschaffen? Diese Frage kann sich ein jeder selbst beantworten.

Technischer Fortschritt ist nicht alles. Heutzutage stehen Gesellschaften vor anderweitigen Bedrohungen. Auch, wenn diese von einer stark schwankenden Mehrheit der Wähler unterstützt werden. Worauf wir zählen können, ist der Triumph des gesunden Verstandes, mit anderen Worten das Zurückschwingen des Pendels, so wie es auch bisher immer geschehen ist, jahrtausendelang.

Autor, Zoltán W.-Nemessuri ist Schriftsteller

Bildquelle: Magyar Narancs