16.07.2023 Preussische Allgemeine Zeitung von René Nehring
Seit Alters her pflegen die Deutschen eine besondere Beziehung zu den Ungarn. In der jüngeren Geschichte verdanken wir ihnen die Öffnung des Eisernen Vorhangs. Doch in den letzten Jahren wurde das Verhältnis zu den Magyaren erheblich getrübt. Zeit für ein klärendes Gespräch mit einem Kenner sowohl der deutschen als auch der ungarischen Verhältnisse. Im Gespräch mit Werner J. Patzelt
- Herr Patzelt, Sie sind einer der prominentesten Politikexperten und ein gefragter Beobachter der Verhältnisse in unserem Land. Doch gerade jetzt, wo Deutschland spannende Zeiten erlebt, veröffentlichen Sie ein Buch über Ungarn. Warum?
Ich war zwischen Herbst 2021 und Sommer 2022 neun Monate lang Fellow am Mathias-Corvinus-Collegium in Budapest, um dort über die politischen Verhältnisse in Deutschland zu lehren. Mir selbst stellte ich die Aufgabe, das medial gezeichnete Bild von Ungarn mit dem zu vergleichen, das ich mir erarbeiten würde. Und weil ich vieles ganz anders als hierzulande gezeichnet erlebte, beschloss ich, mein Ungarnbild in einem faktenreichen Buch auch mit anderen zu teilen. Denn zu meinen Erkenntnissen gehört ebenfalls, dass sogar die wissenschaftliche Literatur über das seit 2010 geprägte Ungarn nicht immer tatsachengetreu informiert.
- Mit dem deutschen Ungarnbild steigen Sie auch in Ihr Buch ein. Wie sieht das aus?
Es gibt nicht nur ein einziges deutsches Ungarnbild. Es gibt die traditionellen, auf Filmen wie „Ich denke oft an Piroschka“ beruhenden Bilder, in denen sich Reste der Erinnerung an die Habsburgermonarchie widerspiegeln. Daneben gibt es Ungarnbilder, die sich aus Urlaubserfahrungen speisen, von denen insbesondere die Landsleute in der DDR sehr viele gemacht haben.
Mir geht es vor allem um jenes Ungarnbild, das heute von den Medien gezeichnet wird. Dabei muss man wissen, dass die wenigsten Journalisten, die über Ungarn berichten, die Sprache des Landes können. Die meisten leben auch nicht in Ungarn, sondern etwa in Wien oder in Prag. Wenn sie sich über Ungarn informieren wollen, treffen sie in Budapest auf Journalistenkollegen oder in einer Universitätsstadt wie Pécs oder Szeged auf dortige Vertreter der Zivilgesellschaft. Die stehen aber Ungarns Ministerpräsidenten und seiner Partei Fidesz überwiegend ablehnend gegenüber.
Zum Problem wird da, dass die Partei Orbáns in diesen urbanen Zentren in der Minderheit bleibt, auf dem Lande jedoch regelmäßig Zwei-Drittel-Mehrheiten holt. Weil aber Ungarn-Beobachter selten in diese ländlichen Räume gehen, bekommen sie selbst bei redlichem Streben nach wirklichkeitsnaher Berichterstattung ein oppositionell verzerrtes Ungarnbild.
Nach diesem ist Ungarn eine Halb-Diktatur voller Korruption, hat geknebelte Massenmedien und dient der Bereicherung des Freundeskreises um den Ministerpräsidenten. Aber das entspricht weder der Wirklichkeit im Land noch der Wahrnehmung der meisten Ungarn.
- Wie haben Sie Ungarn stattdessen wahrgenommen?
Man muss die Vorwürfe einzeln betrachten. Was eine Knebelung der Massenmedien betrifft, ist es so, dass der Zugriff auf sie zwischen Opposition und Regierung jetzt insgesamt wohl ausgeglichen ist. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist in der Hand von Fidesz, die privaten Medien – vor allem viele überregionale Printmedien – unterstützen die Opposition. Von umfassender Kommunikationskontrolle durch die Regierung kann jedenfalls nicht die Rede sein. Im Übrigen könnten deutsche Beobachter bedenken, dass auch unser öffentlich-rechtlicher Rundfunk alles andere als ausgewogen ist.
Was die Wahlen betrifft, ist die Behauptung schlechterdings falsch, sie wären unfrei oder unfair. Bei den letzten Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 etwa konnte die eigens ins Land entsandte OSZE-Wahlkommission durchaus nicht feststellen, dass etwas regelwidrig abgelaufen wäre.
Und mit den Korruptionsvorwürfen verhält es sich so:
Ein Leitgedankte ungarischer Wirtschaftspolitik ist, eine starke Schicht von wohlhabenden Landsleuten zu schaffen, deren Kreditmöglichkeiten das Land von internationalen Geldgebern weniger abhängig machen. Deshalb wird danach getrachtet, dass gerade EU-Gelder möglichst nicht an ausländische Firmen gehen, sondern im Lande verausgabt werden.
Dabei ist das Auswahlsystem freilich so, dass insbesondere der Regierung nahestehende Unternehmen in den Genuss von öffentlichen Aufträgen kommen. Durchaus ist das zu kritisieren. Doch man sollte hinzufügen, dass es die Sozialisten während ihrer Regierungszeiten zwischen 1994 und 1998 sowie 2002 und 2010 nicht anders gehalten haben.
- Trotzdem wird in Deutschland und in der EU oft der Eindruck erweckt, als ob Ungarn als „Orbán-Land“ ein korruptes und autoritäres Regime sei. Zudem wird der Ministerpräsident auf eine Stufe gestellt mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und dem russischen Präsidenten Putin.
Viktor Orbán ist weder ein Putin noch ein Erdoğan. Viele Kritiker ärgert an ihm zunächst einmal, dass er es – 2002 nach vierjähriger Regierungszeit knapp abgewählt – im Jahr 2010 schaffte, sogar mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate wieder an die Macht zu kommen. Und es missfällt vielen Kritikern erst recht, dass Orbán anschließend nicht wie etliche seiner Vorgänger bei der Modernisierung des Landes und bei der Erholung der Wirtschaft versagt hat, sondern dass Orbán gleich nach der Machtübernahme durch Fidesz umfassende Reformen in Staat, Mediensystem, Wirtschaft und Gesellschaft einleitete. Nach Meinung der meisten Ungarn hat Orbán seinem Land schlicht gutgetan, und eben deshalb wurde er unter einem fairen Wahlrecht dreimal hintereinander wiedergewählt.
Im Grunde ist die Lage in Ungarn heute ähnlich der in Bayern unter Franz Josef Strauss. Auch er war erfolgreich – und bei politischen Gegnern durchaus verhasst.
- Haben Sie in Ihrer Zeit in Budapest auch Oppositionspolitiker oder regierungskritische Journalisten gesprochen?
Natürlich. Ich habe sowohl oppositionelle Politiker als auch kritische Beobachter der ungarischen Verhältnisse getroffen. Ehrlich gesagt ist nichts leichter, als hinsichtlich von Ungarn den Standpunkt der Opposition mitzubekommen. Denn diese ist über ihr nahestehende Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen in den westlichen Ländern überragend präsent. Also konnte ich die Oppositionspositionen authentisch darstellen.
- Wie blicken eigentlich die Ungarn auf Deutschland?
Lange Zeit galt Deutschland in Ungarn als großes Vorbild beim Aufbau eines modernen, freiheitlichen, wirtschaftlich starken Staates. Auch gab es in Ungarn nie jene Deutschland-Phobie, die man so lange in Tschechien oder in Polen vorfand. Ungarn ist ein grundsätzlich deutschfreundliches Land. Man hat dort sogar ein Denkmal für die vertriebenen Deutschen errichtet.
Aber dieses schöne Deutschlandbild wird seit einigen Jahren dadurch getrübt,
dass man sich in Ungarn fragt, wie ein vernünftiges Land eine so unvernünftige Energiepolitik betreiben mag, weshalb ein so erfolgreiches Land derart wenig nationale Selbstachtung besitzt,
und warum das gegenwärtige Deutschland trotz vieler wirklicher Probleme die eher nebensächlichen LGBTQ-Fragen so sehr in den Mittelpunkt rückt.
- Und was denken die Ungarn darüber, dass sie gerade aus diesem Deutschland, das sie immer weniger als Vorbild wahrnehmen, laufend Belehrungen hören?
Lange ertrug man solche Belehrungen mit Geduld. Doch allmählich sind viele Ungarn solcher Vorhaltungen überdrüssig. Sie nehmen dann jene Deutschen nicht mehr ernst, die ohne Kenntnisse ihr Land als Halb-Diktatur hinstellen. Immer mehr geht man auf innerliche Distanz zu Deutschland. So verdorren die Wurzeln der so lang fruchtbaren und tragfähigen deutsch-ungarischen Freundschaft. Viele Alarmzeichen gibt es da. Doch allzu wenige Deutschen bemerken und begreifen, was sie da – oft guten Willens – gerade anrichten.
- Haben Sie Dinge entdeckt, bei denen sich die Deutschen eine dicke Salami-Scheibe von den Ungarn abschneiden könnten?
Durchaus. In Ungarn gibt es großen Stolz auf die eigene Kultur. Die wird als einzigartig und unbedingt bewahrenswert wahrgenommen, während in Deutschland eine Integrationsbeauftragte der Bundesregierung einst meinte, so etwas wie eine deutsche Kultur gäbe es gar nicht, da sie abseits der Sprache gar nicht fassbar wäre. Und was die Muttersprache betrifft, kümmern sich viele Deutsche – anders als die meisten Ungarn – um deren Schönheit kaum mehr. Deutsche Lust auf Anglizismen oder Gender-Korrektheit ist den meisten Ungarn noch fremd.
Ein anderer Bereich ist das historisch-kulturelle Selbstverständnis. Die Ungarn haben kein Problem damit, auf tausend Jahre Geschichte seit Stephan dem Heiligen zurückzublicken. Die meisten Deutschen denken bei „tausendjähriger“ Geschichte aber nicht an das elfte oder zehnte Jahrhundert, sondern an das „Tausendjährige Reich“ der Nationalsozialisten – gerade so, als ob dieses unsere gesamte Geschichte ausmachte. Auf die Idee, die Gesamtheit ihrer Geschichte zum Bezugspunkt ihres Selbstverständnisses zu nehmen, kommen die wenigsten Deutschen.
Die Ungarn verhalten sich da ganz anders. Die Geschichte ist ihnen präsent, und sie ziehen auch Lehren daraus. Dazu gehört, dass der Westen sie immer wieder allein gelassen hat. Also achten sie sehr darauf, sich mit mindestens drei Machtzentren gutzustellen: Das eine ist Deutschland, früher Wien, heute Berlin. Das andere ist Russland, und das dritte ist das Osmanische Reich, heute die Türkei.
- Zu Ihrem Ungarnerlebnis und damit auch zur Geschichte Ihres Buches gehört, dass Sie das Land auf Einladung des Mathias Corvinus Collegiums erkundet haben. Das MCC wurde von deutschen Medien bereits als „Kaderschmiede des Orbánismus“ bezeichnet. Wie unabhängig ist da Ihr Blick?
Das MCC ist eine Elitenförderungsinstitution, die junge begabte Ungarn von der Grundschule über das Gymnasium bis zur Universität sowie darüber hinaus bis ins Doktorstudium oder hin zu Führungsakademien fördert. Da ich vom Gedanken der Elitenförderung mein ganzes akademisches Leben hindurch angetan war, stehe ich dem Anliegen des MCC positiv gegenüber.
Kritiker des MCC stoßen sich stets daran, dass das Corvinus-Collegium vom Fidesz- dominierten ungarischen Parlament mit großzügigen finanziellen Mitteln ausgestattet wurde. Letzteres stimmt. Doch was hat die sozialistischen Regierungen, die acht Jahre vor Fidesz regiert haben, eigentlich daran gehindert, eine ähnliche Institution aufzubauen?
Und was die Prägung meines Blickes betrifft, meine ich, dass er weiterhin so klar ist wie meine Sprache. Jedenfalls wird jeder Leser meines Buches sehen, dass sämtliche oppositionelle Kritik am ungarischen Regierungssystem darin vorkommt – und er sich sein eigenes Urteil bilden kann.
- Wenn man sich mit einem fremden Land befasst, kommt man nicht umhin, Vergleiche zur eigenen Heimat zu ziehen. Was haben Sie durch Ihre Beschäftigung mit Ungarn über Deutschland gelernt?
Mir sind durch die Beschäftigung mit Ungarn die deutschen Traumata und Neurotisierungen noch klarer geworden, als ich sie vorher schon kannte. Für viele Deutsche gehört es sich nicht mehr, die eigene Kultur anzunehmen und aus ihr heraus zu leben.
Deutschen macht es auch wenig aus, dass sie von ihren Dichtern kaum noch etwas kennen. Doch Ungarn können immer noch die Verse von Sándor Petöfi und anderen großen Dichtern ihrer Nation zitieren. Und während viele Deutsche riesige Probleme haben, „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ zu singen, haben Ungarn kein Problem damit, jenes Gebet zu singen, das ihre Nationalhymne darstellt, nämlich: „Herr, segne den Ungarn“.
Das Interview führte René Nehring. Quelle: Preussische Allgemeine Zeitung
Das Bild stellt den Heldenplatz in Budapest, den Platz der ungarischen Helden dar.
Prof. Dr. Werner J. Patzelt war von 1991 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Er ist Forschungsdirektor am MCC Brüssel. wjpatzelt.de