13. Juni 2022 Budapester Zeitung von BENCE BAUER
Im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine traten die in Polen und Ungarn unterschiedlichen Russlandperzeptionen offen zutage. Ein Grund genug, die Facetten des polnischen Russlandbildes zu beleuchten. Polen, Ungarn und ihr gespaltenes Verhältnis zu Russland. Eine Analyse
Spätestens seit dem Angriff Russlands gegen die souveräne Ukraine am 24. Februar 2022 ist offenbar geworden, dass Polen und Ungarn in der Beziehung zu Russland andere Schwerpunkte setzen. Während Ungarn einen behutsamen und besonnenen Weg des Ausgleichs sucht, streitet Polen tapfer mit dem ukrainischen Volk um Selbstbestimmung und Selbstverteidigung.
Gemeinsamkeiten
Die politische Führung beider Länder verurteilt die russische Aggression, steht ein für die territoriale Integrität der Ukraine und unterstützt das Land in seinen Bemühungen um die baldige Beendigung des Krieges. Ebenso trägt Ungarn wie auch Polen und die anderen Länder der Europäischen Union das Sanktionsregime voll mit. Beide Länder unterstützen die Ukraine auf ihrem Weg in Richtung EU, wenn auch nicht in die nordatlantische Allianz. Beide Länder schultern zudem als „Frontstaaten“ einen immensen Anteil der in die Europäische Union kommenden ukrainischen Flüchtlinge.
Sie verwenden sich auch dafür, einen klaren Unterschied aufzuzeigen einerseits zwischen den aus der Ukraine zu uns eilenden Flüchtlingen und andererseits den an die Südgrenzen durch Schlepper und Kriminelle, an den Ostgrenzen durch die weißrussische Diktatur herbeigekarrten Migranten. Beiden Menschenströmen ist gemein, dass sie nicht aus direkter Verfolgung oder gar aus Kriegsgebieten fliehen, sondern mehrere sichere Drittländer durchquert haben im Glauben, sich ihren Niederlassungsort beliebig auswählen zu können. Dafür bezahlen sie Kriminellen nicht wenig Geld und verschleiern oftmals ihre Identität.
Nicht so die wahren Flüchtlinge aus der Ukraine: Diese kommen an die Grenzen des ersten sicheren Landes, stehen Schlange und begehren mit ihren Pässen um Einlass. Dass Polen und Ungarn in Wirklichkeit offenherzig und hilfsbereit sind mit Flüchtlingen, ist nur eine Erkenntnis aus dem Ukrainekrieg, wirkliche Kenner der Länder mag dies wenig überraschen.
Unterschied 1: Waffenlieferungen
Doch in welchen Bereichen reflektieren Polen und Ungarn anders auf die russische Gefahr? Vordergründig geht es um die zwei Fragen Energiesanktionen und Waffenlieferungen. Während Polen sich offen zeigt, auch schweres Kriegsgerät in die Ukraine zu liefern und somit der Ukraine auch militärisch beisteht, ist Ungarn bei diesem Thema skeptischer. Nach Auffassung der polnischen Führung sind Waffen ein obligates Instrument in der Bezwingung des Aggressors Russland.
Je mehr Waffen an die Ukraine geliefert werden, desto schneller könne Russland bezwungen werden. Kürzlich unterzeichneten Polen und die Ukraine „einen der größten, wenn nicht den größten Waffenexportvertrag der vergangenen dreißig Jahre“, so der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) anlässlich seines Besuches beim polnischen Rüstungsunternehmen Huta Stalowa Wola.
Im Gegensatz dazu vertritt Ungarn den Standpunkt, dass der Krieg sich am besten durch einen Waffenstillstand und Friedensschluss beenden lässt. Waffenlieferungen an die Kriegspartei Ukraine würden den Krieg nur unnötig verlängern, so der mutmaßliche Standpunkt.
Ein anderer Aspekt wird aber ganz konkret angesprochen. Waffenlieferungen über die ungarisch-ukrainische Grenze mit dem Transport über die Karpato-Ukraine könnten die – auch von vielen Ungarn besiedelten – westukrainischen Gebiete zu einem militärischen Ziel werden lassen. Glaubt man den Verlautbarungen aus Moskau, liegt dieser Annahme eine realistische Möglichkeit zugrunde. Ungarn tut daher alles, um die gut 150.000 Angehörigen der ungarischen Minderheit in der Ukraine umfassend zu schützen.
Unterschied 2: Energiesanktionen
Bezüglich der Energiesanktionen konnte sich der beharrliche Standpunkt Budapests durchsetzen. Zunächst war nämlich vorgesehen, einen kompletten Importstopp auf russisches Erdöl zu verhängen. Dieser hätte weitreichende Folgen für die Versorgungssicherheit vieler europäischer Länder, allen voran von Ungarn, aber auch von Deutschland, gehabt. Ziel war es, Russland mit dem Einnahmeausfall zu schwächen. Nicht alle haben sich aber diesem Plan angeschlossen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán widersetzte sich vehement diesem Ansinnen und konnte einen vernünftigen Kompromissvorschlag aushandeln, um sein eigenes Land und dessen Bevölkerung zu schützen, schließlich wurde er von den ungarischen Bürgern gewählt. Die von der Europäischen Union beschlossenen Ölsanktionen beziehen sich im Sinne des Kompromisses nicht auf die Pipeline-Lieferungen, wovon in erster Linie die mittels der Erdölleitung Druschba (Freundschaft) bezogenen Ölmengen betroffen sind. Über diese Leitung beziehen auf dem Nordstrang Deutschland und Polen und auf dem Südstrang Ungarn, die Slowakei und Tschechien russisches Erdöl.
In Ungarn gilt zum Schutze der einheimischen Verbraucher weiterhin eine Preisobergrenze für Gas und Strom so- wie für Benzin und Diesel, womit die Ungarn in ganz Europa die niedrigsten Preise haben. Deutschland und Polen sollen nach Medienberichten angekündigt haben, trotz der Ausnahmeregelung kein Öl mehr über die Druschba-Pipeline beziehen zu wollen.
Hintergründe und Tiefenschichten
Für die Polen hat dies auch politische, ideologische und historische Gründe, deren Hintergründe es mit Blick auf die wechselvolle Geschichte des Landes zu würdigen lohnt. Diese fest verwurzelten Tiefenschichten im polnischen Denken kommen in der aktuellen Lage jäh ans Tageslicht. Jahrhundertelang litten die Polen unter einer am eigenen Leibe spürbaren Aggressivität des östlichen Nachbarn Russland.
Angefangen von den polnischen Teilungen, in denen Preußen, Österreich und Russland sich das ganze Land in drei Schritten einverleibten und Polen damit für 123 Jahre von der Landkarte tilgten, bis hin zu den Tragödien des 20. Jahrhunderts stecken in den Polen tiefe, durchaus verständliche Frustrationen, die es auch aus ungarischer und übrigens auch aus deutscher Sicht zu erkennen gilt. Besonders die „tausendjährige polnisch-ungarische Freundschaft“ muss daher in der Lage sein, Empathie mit dem nördlichen „Nachbarn ohne gemeinsame Grenzen“ zu pflegen.
Es sollte jedem Kenner Polens offenbar sein, dass die Polen ausgehend von ihrer eigenen Geschichte Russland nur als Aggressor wahrnehmen können.
Lange Zeit galt Polen als Durchmarschgebiet, man lese nur das Buch von Tom Marshall „Die Macht der Geographie“. Die schrecklichen Folgen des deutschsowjetischen Angriffskrieges im Herbst 1939 bleiben für immer in Erinnerung. Das Andenken an das Massaker von Katyn im Frühjahr 1940, bei dem der sowjetische NKWD rund 22.000 Polen, größtenteils Offiziere, regelrecht abschlachtete, ist ein nicht wegzudenkender Grundpfeiler der offiziellen polnischen Erinnerungspolitik. Die Erinnerung an den Kommunismus sowjetischer Prägung ist allgegenwärtig, ein tiefer Antikommunismus, gepaart mit Russophobie, ist in der ganzen polnischen Gesellschaft unverändert sehr verbreitet.
Katyn und kein Ende
Zum 70. Jahrestag von Katyn begab sich eine weitere Tragödie. Unter heute immer noch nicht ganz geklärten Umständen stürzte die Maschine der zum Gedenken anreisenden polnischen Honoratioren, darunter Staatspräsident Lech Kaczyński (PiS), ab – keiner der 96 Passagiere überlebte den Absturz. Seit dieser Zeit hält sich eisern eine auch von führenden Regierungskreisen vertretene Verschwörungstheorie, wonach Russland die Maschine absichtlich abstürzen ließ. Einige Theorien halten sogar einen Raketenangriff auf die Präsidentenmaschine für möglich.
Angefeuert werden diese Gedankenspiele von der Tatsache, dass der Intimfeind des zu Tode gekommenen Präsidenten, kein geringerer als der damalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk (PO), nur wenige Tage zuvor ein gemeinsames Gedenken mit Wladimir Putin zu begehen imstande war. Einige in der polnischen Politik konnten diesen Schritt nicht verdauen, und weite Teile der politischen Führung des Landes waren für ein Gedenken, aber ohne die offizielle Teilnahme Russlands. Die am 10. April 2010 zu Tode gekommene Delegation reiste gerade aus diesem Grunde einige Tage zeitversetzt an.
Die innenpolitischen Auseinandersetzungen kreisten damals wie heute oftmals um die Frage, wer der größere Gegner von Russland sei und wer Verständnis, Verständigung mit Russland betreibe, sprich Verrat am polnischen Volke. Dabei probt das öffentliche Leben nicht selten einen wahren Überbietungskampf. Nur wenige Tage nach dem russischen Angriff auf Georgien im August 2008 reiste der später verstorbene Staatspräsident symbolisch nach Tiflis, sein vielgescholtener Bruder Jarosław Kaczyński im März 2022 nach Kiew.
Lange Zeit galt dabei die schillernde Figur von Donald Tusk, dem in einigen Kreisen sogar ein mit Wladimir Putin gemeinsam geplanter Anschlag auf das Flugzeug seines Gegenspielers zugetraut wird, aus der Sicht nicht weniger Polen als Kristallisationspunkt der russophilen (wie übrigens auch der germanophilen) Handlanger der Polen umzingelnden Großmächte aus der tragischen polnischen Vergangenheit, nämlich von Deutschland und Russland. Dass dabei die Bundesrepublik einen anderen Weg beschritt und heute als ein anerkannter wie geachteter internationaler Partner gilt, wird in diesen häufig emotionalisiert geführten Debatten kaum thematisiert.
Auf jeden Fall sind diese innerpolnischen Bezugspunkte vielsagend, ermöglichen sie doch einen Blick in die Volksseele. Vor diesem Hintergrund mag es mit Blick auf die aktuellen europäischen Grundsatzentscheidungen auch wenig verwundern, wenn der ungarische Ministerpräsident in einem Atemzug mit dem russischen Präsidenten genannt wird.
Wer die polnische Politik kennt, weiß auch, in welcher arroganten und besserwisserischen Art und Weise im Jahre 2014 sich der damalige Außenminister über Orbán und Putin äußerte – seine Regierung stürzte übrigens kaum ein Jahr später.
Die Polen reagieren in letzter Zeit sehr barsch auf die in ihren Augen verwunderliche Russlandnähe des „tausendjährigen Freundes“ Ungarn. Sie können fast gar nicht verstehen, warum die Ungarn nicht ein und denselben Standpunkt einnehmen wie sie selbst.
Perspektiven
Doch wie kann es nun mit der weiteren Russlandpolitik von Ungarn und Polen vorangehen? Es spricht viel dafür, dass mit dem Abklingen des kriegerischen Konflikts die unterschiedlichen Russlandperzeptionen wieder in den Hintergrund treten. Es war schon vor dem Ukrainekrieg bekannt, dass in der Russlandfrage unterschiedliche Standpunkte existieren. Relevant wurden diese aber erst mit dem Kriegsausbruch und einem eindeutig auszumachenden Aggressor.
Auf der anderen Seite kann ein gemeinsamer europäischer Wiederaufbau nur mit Hilfe der Nachbarländer Polen und Ungarn gelingen. Sie sind es auch, die weiterhin die EU-Außengrenzen schützen müssen.
Außerdem muss es den europäischen Ländern gelingen, auf eigenen Füßen zu stehen und sich nicht zum geopolitischen Spielball fremder Großmächte zu machen. Sie müssen lernen, beherzt für die eigene strategische Souveränität einzustehen.
Diese Erfahrung bringen Polen wie auch Ungarn in die europäische Debatte hoffentlich entschlossen ein.
Beide Länder verbindet ebenso ihr Eintreten für ihre jeweiligen nationalen Minderheiten und ihr Einsatz für eine gelebte religiöse, sprachliche und nationale Vielfalt in Mittel- und Osteuropa. Zudem kann – so paradox es klingt – die gemeinsame Ukraineerfahrung in allen Ländern Europas ein Schlüssel zu mehr Verständnis und Verständigung sein. Schließlich gilt es, aus diesem Konflikt auch etwas zu lernen.
Der Autor, Dr. Bence Bauer ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium.