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Zu Symbolpolitik, LGBTQ und Ungarn

Zwischen symbolpolitischer Reverenz und machtpolitischer Geste: der Regenbogen. Bild: Frank Röth

13.November 2021 von PETER GAUWEILER

Kreuzerlass für alle bayerischen Amtsstuben (2018). Regenbogenflagge vor der Bayerischen Staatskanzlei (2021). Dieser Söder lässt uns keine Ruhe. Bange Fragen von innen und interessierte von außen: Wird jetzt auch in Bayern das Religiöse durch das Schräge ersetzt? Oder kann man in dem Vorgang möglicherweise ein positives Signal sehen, mit einer neuen Symbolkraft, wo ein Zeichen das andere ergänzt?

Als Erstes mag uns die Debatte lehren: Trotz leerer Kirchenbänke bleiben auch in der Hochmoderne weltanschauliche Auseinandersetzungen fest in christlich-biblischer Symbolik verankert. Auf diese phänomenale Kontingenz macht aktuell der britische Literaturwissenschaftler Tom Holland in seiner Kulturgeschichte des Christentums aufmerksam: „Herrschaft – Die Entstehung des Westens“. Eines seiner verblüffendsten Beispiele ist die Kontroverse zwischen John Lennon und Paul McCartney, die zur Auflösung der Beatles führte. Lennon hatte sich über die christliche Konnotation von McCartneys „Let It Be“ aufgeregt, weil es mit der Zeile endete: „when I find myself in times of trouble, Mother Mary comes to me“ – „wenn es mir schlecht geht, kommt Mutter Maria zu mir“. Lennon in einem Wutanfall über das Christentum: „Es wird verschwinden und eingehen. Ich muss mich nicht auf Argumente einlassen; ich weiß, dass ich recht habe und dass ich recht behalten werde.“ Im Gegenzug hatte sich Paul über Johns „goody goody stuff“ amüsiert, den „Gutmenschenkram“.

Bekenntnis zur Scheinheiligkeit

Ob die vielen Regenbogenfahnen bei dem Ungarn-Spiel in der Münchner Allianz Arena nun „goody goody stuff“ waren oder eine volkspädagogische Notwendigkeit: symboldidaktisch verbindet der Regenbogen Anfang und Ende der Heiligen Schrift. Vom ersten Buch Mose, vom Zorn Gottes und von der Zeit nach der Sintflut bis zur Offenbarung des Johannes. Wo es heißt, dass am Ende aller Tage ein Regenbogen um Gottes Thron erscheinen wird, „anzusehen wie ein Smaragd“.

Ritualtheoretisch“ die gleiche Ausgangsbasis haben natürlich auch die Kniefälle von Fußballspielern vor dem Anpfiff, die ja ebenfalls bei der Fußball-Europameisterschaft zu beobachten waren. Als sich Spieler von England und Belgien hinknieten, griffen sie auch damit auf ein christliches Formenrepertoire zurück. Tosender Beifall und gellende Pfiffe.

Offensichtlich kann man mit einer solchen uralten Haltung mehr Gefühlswellen in Bewegung setzen als mit tausend Worten.

Vorausgesetzt, der Signifikant ist nicht fremdbestimmt und spielt nicht nur etwas vor. Bei den „Black Lives Matter“-Auftritten der europäischen Fußballprofis war man sich da nicht immer so sicher.

Die politische Aufladung der Regenbogensymbolik begann auch nicht mit ihrer Verwendung für die „Gay Pride“- Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern geht auf die Reformationen der Neuzeit zurück: als Luthers revolutionärer Gegenspieler Thomas Müntzer in der Marienkirche von Mühlhausen für den Altar „eynen regenbogen hat malen lassen“, auf einem weißen Feinleinen. In der apokalyptischen Schau seiner Zeit rief er so zum Heiligen Krieg auf: „Dran, dran, dieweil das Feuer heiß ist. Lasst euer Schwert nit kalt werden.“

Als deutscher Revolutionär unter dem Regenbogen bekam Müntzer einen festen Platz in der Erinnerungskultur der DDR wie des Dritten Reiches.

Seine schönsten Texte gehören bis heute zum Liedgut nicht nur des evangelischen Kirchengesangbuchs (Nr. 3), sondern sind auch im katholischen Gotteslob zu finden, „Gott, heilger Schöpfer aller Stern / erleucht uns, die wir sind so fern“ (Nr. 230).

Licht und Salz, Hefe und Sauerteig. Dass wollen sie (wir) eigentlich alle sein, die Signifikanten von heute und Reformatoren von damals. Müntzers Zeitgenosse, der Theologe Johannes Calvin, entwaffnet seine Kritiker bis heute mit dem Eingeständnis: „Wir neigen alle von Natur aus zur Scheinheiligkeit.“ Niedergeschrieben in seiner „Unterweisung in der christlichen Religion“. Der junge Calvin war noch in der Papstkirche „erwacht“. Seine Selbsterkenntnis hielt ihn nicht ab, durch aktivistisches und militantes Eintreten für die Sache des Glaubens „Vollendung“ zu suchen. Heute würde man ihn „woke“ nennen.

Politik des erhobenen Zeigefingers

Wenige Tage nach dem politisch so aufgeladenen Fußballmatch wurde in Rom bekannt gegeben, dass 

Papst Franziskus soeben mit einem Handschreiben den seelsorgerischen Einsatz des amerikanischen Jesuiten James Martin für LGBTQ gewürdigt habe.

Dessen Buch „Building Bridges“ von 2017 galt schon zuvor als Meilenstein auf dem Weg der Weltkirche zur Akzeptanz der Homosexualität. Franziskus dankte Martin ausdrücklich für seine Nähe zu den Menschen, mittels welcher er den „Stil Gottes“ nachzuahmen versuche. Musste das sein? Eigentlich ja, wenn die „genderpolitisch“ gespaltene Welt in sittlicher Weise wieder zusammenfinden will.

Ungeachtet solcher Überlegungen waren die Vorgänge um das Ungarn-Spiel in München auf breite Kritik gestoßen. Die moralischen Deutschen hätten die gerade stattgefundene Fußball-Europameisterschaft dazu genutzt, schrieb beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung, „Ungarn vorzuführen“, um des deutschen Egos willen.

„Indem die deutsche Öffentlichkeit den sportlichen Wettbewerb für diese politische Botschaft nutzte, setzte sie nicht die verantwortlichen Politiker, sondern ganz Ungarn auf die Anklagebank.“

Selbst die linke taz nahm das Treffen zum Anlass, sich gegen die „Verregenbogisierung“ zu wenden, und warf der deutschen Politik sinngemäß eine Verwechselung von Ethik und Heuchelei vor: „Wendet die Zeigefinger von UEFA und Orbán ab“, forderte die taz, „und zeigt gefälligst auf euch selbst.“

Natürlich wehrte sich die ungarische Regierung, die mittlerweile ein Referendum über das kritisierte Gesetz angekündigt hat, besonders heftig und beklagte das moralische Spießrutenlaufen, dem die Sportler ihres Landes und ihre Fans in der Allianz Arena ausgesetzt gewesen seien. Das amtliche Budapest erinnerte daran, dass „die ungarische Gesellschaft im europäischen Kontext zu den europäischen Völkern gehörte, die am stärksten der individuellen Freiheit und der Toleranz verpflichtet sind“. LGBTQ-Dispositionen könnten in Ungarn gelebt werden wie anderswo in der EU, die neuen Regelungen beträfen ausschließlich den Kinder- und Jugendschutz. G

Geändert im juristischen Sinn habe sich in Sachen „binäre Mann-Frau-, Mutter-Vater-Ordnung“ nicht die ungarische Politik, geändert hätten sich zuvor „die Regenbogenländer“. Diese seien in eine andere Dimension übergetreten.

Normative Kehrtwenden

Letzteres kann man nicht ernsthaft bestreiten, hatte doch im amtlichen Berlin die deutsche Bundeskanzlerin noch im Juni 2017 die „Ehe für alle“ als verfassungswidrig bezeichnet. Bei der Vorläuferdebatte des Jahres 2001, als es nur um die eingetragene Lebenspartnerschaft ging, hatte die SPD-Berichterstatterin im Bundestag Dr. Margot von Renesse, noch ausgeführt, man könne eine Gemeinschaft von gleichgeschlechtlichen Personen schon deshalb nicht „Ehe“ heißen, „weil man einen Tisch auch nicht Stuhl nennt“. Die heftig umstrittene Konfliktlage zwischen Sexualerziehung und entsprechendem Elternrecht war bei uns durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit diesen Worten geklärt worden:

„Die individuelle Sexualerziehung gehört in erster Linie zu dem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern.“

Grundlage war eine gemeinsame Richtlinie der deutschen Kulturminisgterkonferenz  zur Sexualerziehung von 1972, in der die Aufklärung über Homosexualität wie folgt eingeordnet wurde: „. . . strafrechtliche Bestimmungen zum Schutz der Jugend und über sexuelle Vergehen (z. B. Empfängnisverhütung, Promiskuität, Prostitution, Homosexualität, Vergewaltigung, Abtreibung, Kuppelei, Verbreitung von Geschlechtskrankheiten, Triebverbrechen)“.

Heute lautet der zentrale Vorwurf der EU an die Ungarn wie folgt: „Dieses Gesetz stellt Homosexualität und Geschlechtsumwandlung auf eine Stufe mit Pornographie“,

so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wörtlich gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Recht viel anders las sich die Auflistung der deutschen Kultusministerkonferenz aus den Zeiten der alten Bundesrepublik ja auch nicht.

Die heute in Ungarn wie damals in Deutschland problematisierte Frage, ob bei Wahrung bestimmter Grundsätze von staatlicher Seite die Teilnahme der Kinder an diesem Unterricht von der elterlichen Zustimmung abhängig gemacht werden kann oder muss, mag man unterschiedlich beantworten. Die Antwort der gewählten Regierung Ungarns, die dies unbedingt bejaht, bietet jedenfalls keinen Anlass zu moralischer Verwerfung.

Wenn man das alles bedenkt, kommt man um die Feststellung nicht umhin, dass die deutsche Debatte um das UEFA-Fußballspiel in München einen unehrlichen Zug hatte. Natürlich kann man die Regenbogenflagge zeigen, als Zeichen von Toleranz und lagerübergreifender Solidarität.

Dass aber die individuelle Sexualerziehung in erster Linie zu dem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern gehören soll, ist nicht nur ein Postulat von Viktor Orbán, dern auch Ausgangspunkt des deutschen Bundesverfassungsgerichts.

Bei dieser Gelegenheit: Die hochmächtigen EU-Kommissare sollten die Mitgliedstaaten, ihre Vollmachtgeber, nicht an den medialen Pranger stellen. Das könnte auf sie zurückfallen. Von keinem Geringeren als dem früheren EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz stammt die Feststellung, dass die EU wegen eigener blamabler Defizite in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit keine Chance hätte, bei sich selbst aufgenommen zu werden. Man denke nur, wie die letzte Europawahl zulasten der nominierten Kandidaten „gedreht“ wurde. Von der immerwährenden Selbstermächtigung der Kommission, sich ihre eigenen Gesetze zu machen, nicht zu reden. Oder die Weigerung der EU, der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, was im Lissabon-Vertrag feierlich vereinbart worden war. Weil sich Brüssel dann dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg unterordnen müsste, der von der EU völlig unabhängig ist. Merke:

Die demokratische Legitimation des gewählten ungarischen Ministerpräsidenten ist größer als die aller EU-Kommissare zusammen.

Aber: Das ist noch keine Kunst. Die Unfairness der einen Seite macht auch die andere nicht automatisch unschuldig. Ungarns Politiker sind keine Waisenknaben, was sie allerdings mit den politischen Eliten anderer EU-Mitgliedsländer eher verbindet als trennt. Und auch ein justizielles Verfahren wäre verwirkt, wenn seine Ankläger fortgesetzt selbst das Recht auf ein faires Verfahren missachten.

Die Brüskierung Ungarns war aber nicht nur unfair, sondern auch geschichtslos. Angela Merkel hätte das Jahr 2017 als Kanzlerin nicht überlebt, wenn Viktor Orbán nicht die Balkan-Route geschlossen hätte. Und als der sowjetische Koloss im Herbst 1989 wankte, trafen sich in einer Sternstunde der Geschichte an der alten Preßburger Landstraße zwischen dem ungarischen Sopronkőhida und St. Margarethen im Burgenland der Europaabgeordnete Otto von Habsburg und der ungarische Außenminister Gyula Horn und schnitten umstandslos den Stacheldrahtverhau durch.

Ungarn war abermals Teil der Weltgeschichte geworden.

Wieder einmal in ihrer Geschichte hatten sich die Ungarn (mit bayerischer Hilfe) aus einem fremdbestimmten Machtkomplex befreit. Vor dreihundert Jahren war es der blaue Kurfürst Max Emanuel gewesen, der ihnen gegen die Türken beistand. Im neunzehnten Jahrhundert verhalf die weltberühmte Kaiserin Sisi – Elisabeth in Bayern – den Ungarn zur staatlichen Emanzipation im Habsburgerreich.

Schutzbunker der Gleichdenkenden

Und wer wissen will, wie alles anfing, kann nach Bamberg fahren, auf den Domberg, wo Kaiser Heinrich II. mit seiner Kaiserin Kunigunde auf den Jüngsten Tag wartet. Dort steht ein europäisches Kulturdenkmal besonderen Ranges: der Bamberger Reiter.

Heute sind sich die Historiker einig, dass mit diesem Standbild Ungarns König Stephan I. dargestellt ist,

im stillen Gedenken vor der Tumba verharrend. Er regierte sein Land von 997 bis 1036 und hatte mit dem Baiern Heinrich, der sein Schwager war, die Folgen der Jahrhundertschlacht auf dem Lechfeld (955) zu bewältigen. In einem äußerst erfolgreichen Beziehungsdreieck mit dem damaligen Bischof von Bamberg, Eckbert, aus dem Hause Andechs-Meranien. König Stephan gilt bis heute als einer der herausragenden Gestalten der ungarischen Geschichte und wird als Heiliger verehrt.

Jetzt, im Sommer 2021, wurde Ungarn ausgerechnet von dem holländischen Ministerpräsidenten Rutte, der – Achtung: Ironie – zu den Allerunschuldigsten der politischen Klasse in Europa zählt, aufgefordert, die EU zu verlassen. Die Fidesz, „Bund der Ungarn“ und Regierungspartei, war schon zuvor aus der Europäischen Volkspartei gedrängt worden. Dieses ungute Abstrafen und Ausschließen ist allerdings kein bayerisches Problem: „Der Wunsch, Störungsgeräusche zu eliminieren, greift in der deutschen Politik um sich“, so nochmals die NZZ. Im Magazin Der Spiegel brachte Alexander Neubacher diesen Trend mit seiner Kolumne „Im Gesinnungsbunker“ auf den Punkt. „Einstige Debattenorte werden in Schutzbunker für Gleichdenkende verwandelt.“ Solche „Safe Spaces“, so Neubacher, sind aber „keine Refugien, sondern Sterbezimmer“.

„Die Grünen wollen Boris Palmer loswerden, die Linken Sahra Wagenknecht, die Ungarn sollen raus aus der EU, und auf Twitter trendet jeden Tag ein neuer Aufruf zur Diskursvergrämung.“

Europa, vom Götterfunken zum Sterbezimmer? Das kann eigentlich niemand gewollt haben. Auch wenn die dann zugezogenen Vorhänge die Farben des Regenbogens tragen sollten.

Autor: Peter Gauweiler ist Rechtsanwalt in München. Er war Bayerischer Staatsminister, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Parteivorsitzender der CSU.

Dieser Gastbeitrag ist von der Seite: https://www.peter-gauweiler.de/medien/ abrufbar.

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