11. Februar 2023 Mandiner Interview mit Gabriella P. Lőrincz
Ich habe eine sowjetische Geburtsurkunde, meine Großmutter eine tschechoslowakische, meine Kinder eine ukrainische. Die Urgroßeltern eine ungarische. In der Rubrik „Nationalität“ stand bisher, dass wir Ungarn sind. Bei meinen Söhnen wird die Nationalität nicht mehr angegeben. Weil es eine Ukraine gibt, es gibt keine Nationalitäten.
In der Sowjetunion, bis 1991
Ich wurde in Beregszász (Transkarpatien/Kárpátalja) geboren. An die 80-er Jahre habe ich sehr gute Erinnerungen. Ich wusste nicht, dass ich nicht in Ungarn lebe. Von Ukrainern haben wir damals noch nichts gehört. In unserer Straße lebten nur Ungarn. Wir lasen ungarische Zeitungen, wir schauten ungarisches Fernsehen. Man belästigte uns nicht, ich hatte keinerlei Nachteile daraus, dass ich die ungarische Nationalität hatte. In der Sowjetunion waren alle zu derselben Ordnung verpflichtet. Es gab keine Bettler, niemand wohnte auf der Straße. Jeder hatte Arbeit und Einkommen, auch wenn es bescheiden ausfiel. Die Schulen kosteten nichts, ebenso das Studium. Die russische Sprache wurde sehr ordentlich unterrichtet. Von meiner Kindheit habe ich im Großen und Ganzen sehr positive Erinnerungen bis zu dem Zeitpunkt, als sich die Sowjetunion auflöste.
In der Ukraine, ab 1991
Danach hat sich das System verändert, am 24. August 1991 wurde die Ukraine unabhängig. Ab dem Jahr 1994 begann es, dass man kein Gehalt mehr bekam, das Geld wertlos wurde. Man führte eine Währung ohne entsprechende Deckung ein, die Geldscheine wurden mit Wasserfarbe bedruckt. Wenn sie mit Flüssigkeit in Berührung kamen, verschwamm der Aufdruck. Die Arbeitslosigkeit kam, die Fabriken wurden zugemacht. Man hörte mit der Viehhaltung in den Außenbezirken der Städte auf und langsam auch in den Dörfern, weil man kein Futter kaufen konnte. Damals fing der Schwarzhandel im großen Stil an, mit den billigen Zigaretten, mit allen möglichen Sachen. Eine einigermaßen lebensfähige Situation entstand erst Anfang der 2010-er Jahre.
In der ersten Zeit im neuen Staat Ukraine konnte man noch keine wesentlichen Veränderungen spüren, was die Lage der ungarischen Minderheit betraf.
Transkarpatien/Kárpátalja hat eine sehr gemischte Bevölkerungsstruktur. Hier leben Juden, Ukrainer, Polen, Slowaken, Rumänen, Roma und Sinti.
Es wurden kirchliche, politische, zivile Organisationen gegründet, es kam sehr vieles nach dem Regimewechsel zustande. Ungarische Bücher wurden verlegt etc.
Als der Krieg 2014 anfing
Als der Krieg 2014 anfing, wurde innerhalb weniger Wochen alles anders. Was danach geschah, war sehr hässlich. Auch die ungarische Sprache wurde angegriffen, nicht nur die russische und ebenso die Sprache aller anderen Minderheiten.
Die Atmosphäre änderte sich drastisch. Man zündelte zum Beispiel auf den Straßen. Damals wohnte ich in einem Haus mit acht Wohnungen. Das zehnjährige Kind der unter uns wohnenden Familie bespuckte und bezeichnete mich als „ungarische Hündin“. Obwohl wir bis dahin gut miteinander auskamen.
Unsere Fahnen, Aufschriften musste man entfernen, die ungarischen Feiertage wurden in ukrainische umgewandelt. Die Statue des ungarischen Dichters Petőfi wurde des Öfteren beschädigt, das Denkmal am Verecke-Pass (Gedenkort für die ungarische Landnahme im Jahr 896) wurde angezündet, beschmiert.
Das hat offensichtlich nicht jeden gestört, viele wussten davon nicht einmal etwas. Für einen Ungarn im Mutterland sind das sehr weit entfernt liegende, unbekannte Erlebnisse.
Ich wuchs in einer gemischten Familie auf, unter Seklern, Ruthenen, Ungarn, und doch mit einem sehr stark ausgeprägten ungarischen Bewusstsein. Die wertvollste und schönste Sprache war die ungarische, und das war entscheidend. Mich haben die Zeiten, als sie meine Nation drangsalierten, in Richtung der Extreme gelenkt. Wie sie mit den meinigen umgesprungen sind, so wollte ich mit ihnen auch umspringen.
Wir waren vorher auch keine innigen Freunde, es gab keine Verbrüderung, aber als dieser ganze Rummel anfing, mit Zündeln usw., wurde ich sehr zornig.
Das Ganze war erschreckend. Wenn sie auf der Straße die ungarische Fahne verbrennen oder sie abreißen, dann konnte ich nicht freundlich über sie denken, ganz und gar nicht!
Als Ungarin in den Transkarpatien/Kárpátalja
Meine Kinder habe ich nie zu so etwas erzogen, aber als sie auch die Ungarnfeindlichkeit erfuhren, wurde auch bei ihnen der Schalter umgelegt. Diese Sachen auszusprechen ist nicht üblich – diejenigen, die zu Hause geblieben sind, trauen sich das auch nicht.
Mit meinem Mann tourten wir im Gebiet Máramaros (deutsch: Marmarosch, Ostkarpaten) überall hin, wir begingen die Árpáden-Route. Auch unsere Hochzeitsreise verbrachten wir in den Karpaten, wir bestiegen die Berge. Meine Kinder waren solange nicht in Ungarn, bis sie unsere Region nicht richtig kennenlernten. Ich dachte, man sollte zuerst seine engere Heimat lieben lernen, kennenlernen, bevor man etwas anderes lieben lernt. Ich habe versucht, ihnen Wurzeln zu geben.
Ich hielt zunächst in der Region Beregszász, später aber in fast allen Gemeinden unkonventionelle Literaturstunden, selbst im kleinsten Dorf, wenn die Möglichkeit bestand. Wir organisierten Vorgtragswettbewerbe, wir bereisten die ganze Gegend.
Ich studierte Kulturmanagment, also z.B. die Organisation von Veranstaltungen, und arbeitete auch elf Jahre auf diesem Gebiet. Ich studierte Schauspielkunst und Regieführung, war an der thelogischen Fakultät in Sárospatak (Nordost-Ungarn) im Studiengang für evangelisch-reformierte Gemeindereferentinnen, aber ich führte das nicht zu Ende, mein Leben entwickelte sich in eine andere Richtung.
Ich wollte sehr gern im Dienst einer evangelisch-reformierten Gemeinde wirken. Früher wäre ich auch gern eine richtige Pastorin geworden, aber das ist nicht gelungen, weil ich einen Sohn gebar, was ein ganz anderes Leben mit sich brachte. Mutterschaft verändert sowieso alles.
Ukrainisches Sprachgesetz, 2017
Schon seit sehr langer Zeit spürte ich, dass ich einmal nach Ungarn übersiedeln muss, ich wusste nur nicht, wann. Dann wurde es mir klar, dass ich die Konfirmation meines jüngeren Sohnes zu Hause abwarten will, solange wollten wir nicht wegziehen. Besser gesagt, ich wollte, dass er in Beregszász die Grundschule beendet.
Und es kam mir so in den Sinn, dass mein Platz solange dort wäre, bis man meine Sprache, meinen Glauben und meine ungarische Hymne in Ruhe lässt.
Als diese weggenommen, sie angegriffen wurden, hatte ich keine Bleibe mehr. Als sie das Gesetz für Unterricht und Sprache 2017 ratifizierten, war ich gerade in Siebenbürgen unterwegs. Ich hörte die Nachricht auf dem Weg und konnte sie nicht glauben. Und dann kamen nacheinander die anderen Rechtsberaubungen, die Umgebung wurde mir fremd, natürlich, für viele nicht, sie können sich vielleicht arrangieren, aber ich wollte so nicht leben.
Die Sprachregelung konnten sie in der Schule nicht verwirklichen, weil so etwas nicht möglich war. In einer rein ungarischsprachigen Schule kann man nicht von einem Tag auf den anderen in Ukrainisch unterrichten.
Aber sie entfernten die ungarischsprachigen Tafeln, in den Ämtern durfte man nicht mehr ungarisch sprechen, sie steigerten die Sache immer mehr. Es ging so weit, dass ein ungarischer Verkäufer im Geschäft einen ungarischen Kunden nicht auf Ungarisch bedienen durfte.
Es gab Fälle in der Vergangenheit, wo man deswegen die Polizei gerufen hatte. Soweit war die Sache gekommen. Da sah man, dass es nicht so weitergehen kann. Die Sprache verbannten sie in die eigenen vier Wände und in die Kirchen.
2020 war ich zu Hause, in Beregszász, ich konnte keine Rede am Tag des Heiligen Stephans (ungarischer Feiertag am 20. August) halten, weil es keinen Dolmetscher gab, der simultan hätte übersetzen können. Die Presse, das Theater mussten zweisprachig funktionieren, was im Theater so aussieht, dass der Schauspieler ungarisch vorträgt und neben ihm oder über ihm der Text in Ukrainisch eingeblendet wird.
Was das wirkliche Ziel dieser Maßnahmen ist? So etwas kann nur eine sehr schlimme Zielsetzung haben. Vordergründig hieß es, die Ukraine muss ein einheitliches Land sein.
Ukrainischer Nationalismus
Ich habe eine sowjetische Geburtsurkunde, meine Großmutter eine tschechoslowakische, meine Kinder eine ukrainische. Die Urgroßeltern eine ungarische. In der Rubrik „Nationalität“ stand bisher, dass wir Ungarn sind. Bei meinen Söhnen wird die Nationalität nicht mehr angegeben. Weil es eine Ukraine gibt, es gibt keine Nationalitäten.
Weder Ungarn, noch Russen, noch Ruthenen. Sie verneinen sowieso die Existenz einer ruthenischen Nation. Sie sind bis zum letzten Schritt gegangen. Man konnte den ukrainischen Nationalismus nicht ertragen. Sie gingen auf die Rechte der Minderheiten los und das brachte interessante Situationen, Gedanken hervor. Jeder dachte, dass die Russen das nicht bis zur Unendlichkeit mitmachen würden.
Da wurde die Sache für mich schon so belastend, dass ich nicht mehr dort existieren konnte.
In dieser Zeit fuhr ich wöchentlich nach Budapest und ich habe mehr Zeit an der Grenze verbracht, als während der ganzen Fahrt. An der Grenze musste man bis zu neun Stunden warten, weil man mich nicht durchließ. Das konnte man nicht mehr ertragen. Zu Hause kaufte ich kaum noch etwas, alles brachte ich aus Ungarn mit. Ich musste mich entscheiden: ich habe meine Heimat verlassen. Wir zogen mit der Absicht weg, dass wir jeden Sommer zu Hause verbringen werden. Diese Absicht wurde durch die Pandemie und durch den Krieg konterkariert.
Wehrpflicht und der Krieg
Ich wollte es auch nicht, dass man meinen jüngeren Sohn zu der Armee einzieht. Denn in diesem Alter begann schon die „Vorauswahl“ der jungen Männer. Sein Jahrgang wird eingezogen und man bringt die jungen Männer sofort an die Front. Wenn wir in dem Land geblieben wären, würde er vielleicht gar nicht mehr leben. Man hat die Wehrpflicht abgeschafft, was so viel bedeutet, dass die Eingezogenen nach dreiwöchiger Ausbildung sofort an die Front kommen. Auch meinen Mann hätten sie schon längst mitgenommen. Solange es ging, blieb ich nicht in Transkarpatien. Ich freue mich, dass ich weggehen konnte.
Meine Heimat wird immer Transkarpatien/Kárpátalja bleiben, mein Zuhause, wo meine Leute sind.
Auch am Tag, als der Krieg ausbrach, war ich daheim, ich hielt eine Buchvorstellung beim Ausbruch des Krieges. Es lag schon sehr in der Luft, dass so etwas passieren könnte. Ich wäre in viele Schulen gegangen, um dort Stunden zu geben. Um 6 Uhr morgens kam die SMS, dass der Krieg begonnen hat, wir sollten nach Hause. Es gab keine Telefonleitung, das ganze Netz war überlastet. Ich schaute aus dem Fenster und sah, dass unwahrscheinlich viele Fahrzeuge Richtung Grenze unterwegs waren. Das Hotel, wo wir wohnten, wurde bis zum Morgen voll.
Kiew ist acht Autostunden von Beregszász entfernt, also mussten die Einwohner von Kiew schon einen Tag vorher Bescheid gewusst haben, sonst wären sie an diesem Tag morgens nicht schon dagewesen. Vor der Tankstelle standen weitverzweigte Schlangen, wir konnten nicht tanken. Die Schulen wurden sofort geschlossen, das Geld in den Bankautomaten ging aus. Es kamen riesige Luxusschlitten aus dem ukrainischen Hinterland. Die Buchvorstellungen hielten wir hinter verschlossenen Türen ab, die Literaturstunden in den Schulen wurden abgesagt. Wir machten Witze, dass wir die letzten wären, die Publikumsveranstaltungen abhielten. Das klingt heute nicht mehr lustig. Es ist schon fast ein Jahr Krieg.
Für die ungarische Minderheit in Transkarpatien ist jeder Tag ein Verlust. Es kommt sehr viel darauf an, wie lange das alles dauert. Es sind sehr wenige dortgeblieben.
Wer hierher (nach Ungarn) gekommen ist, gründet hier eine Familie, arbeitet hier, wird nicht zurückkehren. Hier können sie ungarisch sprechen, hier schießt niemand auf sie, von hier aus nimmt man den Ehemann, das Kind nicht an die Front mit, damit sie dort sterben. Das ist kein geringer Unterschied. In vielen Fällen waren die Frauen mit den Kindern zu Hause geblieben, die Männer arbeiteten im Ausland, oft in Tschechien, England, Deutschland. Ich habe auch Familienmitglieder, die in Tschechien arbeiten. Ganz viele leben schon seit Beginn des Krieges, also seit 2014, auf dieser Weise. In Transkarpatien/Kárpátalja ist die Lebensgrundlage sehr bescheiden, das Familienmitglied im Ausland kann den Daheimgebliebenen sehr helfen. Sonst würden viele in tiefster Armut leben.
In Ungarn
Hier im Landkreis Nógrád zu leben ist sehr schön. Hauptsächlich deshalb, weil hier tiefe Stille herrscht. Diejenigen, die ich liebe, umgeben mich. Es gibt hier Berge, Bäche, Vögel, alles, was man nötig hat. Ich habe schon immer mir ein Haus mit Garten gewünscht, wo ich das und jenes anbauen kann. Wir leben verhältnismäßig zurückgezogen, aber das liebe ich sehr. Ich mag die Leute hier. Ich mag, wenn die Älteren sonntags noch in ihrer Tracht zur Kirche gehen. Ich besitze ebenfalls so eine Palóc-Tracht. Das sind die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Und der Frieden.
Gabriella P. Lőrincz wurde 1982 in der Stadt Beregszász (Beregowe/Berehowe/ deutsch: Bergsaß) Transkarpatien/Kárpátalja geboren. Sie ist eine Dichterin und Schriftstellerin und publiziert regelmäßig in ungarischen und auswärtigen Zeitschriften. Ihr letzter Band mit dem Titel „Die Madonnen ohne Tränen“ erschien 2021. Sie lebt jetzt in einem nordungarischen Dorf, Szanda.
Das originelle Interview mit Gabriella P. Lőrincz erschien in Mandiner, MAGYARUL: https://mandiner.hu/cikk/20221211_lorincz_p_gabriella_karpatalja
Deutsche Übersetzung von Dr. Gábor Bayor
Foto: Burgruine von Huszt, (János Nemes, MTI)