8. August 2023 Kossuth Rádió
Über den russisch-ukrainischen Krieg. Ausschnitt aus dem Interview mit Viktor Orbáns in der Sendung „Guten Morgen Ungarn!” von Radio Kossuth am 28. Juli 2023
- Auf der Regierungssitzung haben Sie die im Interesse des Friedens und des Waffenstillstands nötigen diplomatischen Schritte überblickt. Solange die Vereinigten Staaten praktisch wöchentlich Waffenlieferungen im Wert von mehreren 100 Milliarden Forint ankündigt und solange die EU laut den Plänen die der Ukraine Waffen gebenden Länder mit 20 Milliarden Euro unterstützen will, übrigens aus der Europäischen Friedensfazilität, hat es da einen Sinn, über eine Feuerpause, über den Frieden zu reden?
Es hat immer einen Sinn. Wenn es Krieg gibt, dann hat es einen Sinn, über den Frieden zu reden, denn der Krieg beraubt letztlich jetzt doch Hunderttausende ihres Lebens bzw. bringt sie durch Verletzungen und Verwundungen in eine Lage, dass es danach für hunderttausende von Menschen sehr schwer sein wird, ein vollwertiges Leben zu führen, ganz zu schweigen von den Familienmitgliedern, den zu Waisen gewordenen Kindern und den Witwen. Solange es also Krieg ist, muss man immer, man kann und man muss über den Frieden reden. Wenn wir nicht über ihn reden, wird es keinen Frieden geben. Wenn also die Stimme des Friedens nicht stark genug ist, dann bleibt die allgemeine Auffassung unter den Politikern vorherrschend, dass in so einer Situation nur der Krieg die Lösung ist. Obwohl die Wahrheit genau das Gegenteil dessen ist.
Für diesen Krieg, für diese Situation gibt es keine Lösung auf dem Schlachtfeld. Diese Situation kann man nur mit Diplomatie und mit Verhandlungen lösen.
Und der erste dorthin führende Schritt ist die sofortige Feuerpause. Also lohnt es sich für Ungarn, auf diesen zu drängen. Wenn man uns zum Fenster hinauswirft, kommen wir durch die Tür wieder herein. Wenn sie uns durch die Tür hinausstoßen, dann kommen wir durch das Fenster zurück. Hier ist also das Durchhalten notwendig.
Dieser Krieg ist schon lange nicht mehr der Krieg der Ukrainer, insgesamt erleiden sie ihn und, leiden sie unter ihm natürlich am meisten.
Doch wir alle wissen, dass die Souveränität der Ukraine praktisch nicht mehr existiert.
Ein Land, das keine eigenen finanziellen Einnahmen besitzt, nicht in der Lage ist, das eigene zivile Leben aufrechtzuerhalten, geschweige denn den Krieg zu finanzieren, dieses Land ist nicht souverän. Nun ist die Wahrheit, dass der Krieg eine sehr kostspielige Sache ist. Das war er früher auch. Es ist eine alte Wahrheit, dass zum Kriegführen drei Dinge notwendig sind: Geld, Geld und Geld. Das bestätigt die moderne Welt noch mehr, die Waffen sind moderner geworden, sind somit auch teurer geworden. Also einen Krieg zu führen, das stellt auch eine sehr schwere wirtschaftliche Belastungsprobe dar. Und die Kraft der Ukrainer ist aufgebraucht.
Heute erhalten nur die westlichen Gelder die Ukraine am Leben und erhalten die ukrainische Armee in einem funktionstüchtigen Zustand.
Hier gibt es zwei Fragen. Die erste Sache ist, wie sich der Präsident der Vereinigten Staaten entscheiden wird, auf welche Weise er auf die im Herbst 2024 fälligen amerikanischen Präsidentschaftswahlen zugehen möchte. Auf die Weise, dass Amerika noch durch so einen Proxykrieg gebunden ist und an ihm teilnimmt und hier in Osteuropa ungezählte Milliarden ausgibt, oder möchte er mit einer Feuerpause auf die Wahlen zugehen. Das wissen wir nicht, wir können es auch nicht beeinflussen und wir können auch die Frage nicht beantworten, das ist die Entscheidung der Amerikaner.
Die andere Sache ist, wie lange es Europa durchhält, denn die Amerikaner besitzen ja eine Weltwährung, das ist der Dollar, deshalb können die Amerikaner mit allen möglichen finanziellen Manipulationen und Operationen sehr viel Geld herstellen, das man dann für den Krieg verwenden kann. Doch der Euro, das ist eine andere Geschichte, der ist anders. Der Euro ist dazu nicht geeignet. Wir können also nicht so leicht Geld herstellen, wie das die Amerikaner tun. Die Europäische Union kann auf die Weise Geld herstellen, dass die Mitgliedsstaaten ihr Geld in den gemeinsamen Hut werfen. Die Frage ist die, wie lange wir das aushalten. Während die europäische Wirtschaft in Problemen steckt, ist das Ende des Krieges nicht abzusehen. Wir haben mehr als 70 Milliarden Euro gegeben und wir wissen nicht, wohin diese gegangen sind, es gibt keine Abrechnung.
Jetzt kommt die Kommission und sagt bei der Hälfte der siebenjährigen Haushaltsperiode der Europäischen Union: „Mein Geld ist ausgegangen, gebt mir insgesamt 100 Milliarden Euro, 50 Milliarden für die Ukrainer oder 20 Milliarden für die höheren Zinsen der früher aufgenommenen Kredite. Und wir möchten noch unsere Gehälter anheben, und ein bisschen Reserve wäre auch nötig.“
Und dann schieben sie uns ganz einfach diesen Anspruch vor die Nase, wir sollen 100 Milliarden Euro geben. Und darüber hinaus gibt es noch jene 20, über die Sie sprechen. Wir reden hier also über gewaltige Gelder. Während die EU nicht Ihre den Mitgliedsstaaten gegenüber bestehenden Verpflichtungen erfüllen kann. So ist es auch mit Ungarn. Das ist auch die ungarische Situation. Die EU schuldet uns, wir zahlen alles ein, die Mitgliedschaft in der EU geht also mit einer Zahlungsverpflichtung einher. Jeder Mitgliedsstaat der EU muss jedes Jahr eine Summe in den gemeinsamen Haushalt der EU einzahlen.
Wir zahlen das ein. Wir erfüllen also unsere Verpflichtungen, und von dort gibt man uns nicht das Geld, das uns zustehen würde. Deshalb schulden sie uns Geld.
Meiner Ansicht nach schulden sie uns unermesslich viel Geld wegen des Grenzschutzes. Dessen Kosten liegen irgendwo in der Höhe von ungefähr 2 Milliarden Euro. Der Grenzschutz und der Bau des Zaunes. Sie haben Schulden bei den Lehrern, denn sie hatten ja versprochen, dass sie Ungarn bei einer rascheren Anhebung der Gehälter der Pädagogen helfen würden, das sind auch gute weitere 2 Milliarden Euro, und sie schulden uns auch die Quellen des Wiederaufbaufonds, den wir im Übrigen auch mit Hilfe ungarischer Einzahlungen geschaffen haben, damit nach der Covid-Epidemie eine rasche wirtschaftliche Erholung eintreten kann. Covid ist schon nirgendwo mehr, wir haben eingezahlt, was wir einzuzahlen hatten, und dabei erhalten wir nicht das Geld, was uns aber zustünde (erg.:Ungarn hat Anspruch auf 5,8 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Wiederaufbaufond). Wir stellen die Frage nicht ohne Grund, ob es nicht so ist, ob sie uns nicht deshalb das Geld schulden, weil sie das uns zustehende Geld für etwas anderes, sagen wir die Ukraine, ausgegeben haben? Und auf diese Frage gibt es heute keine Antwort.
- Bedeutet dies auch, dass solange wir diese Gelder nicht erhalten, solange wird Ungarn nicht der Modifizierung des Haushaltes der EU zustimmen?
Dies wäre ein sehr unfreundlicher Satz. Hinzu kommt noch, dass es eine, meiner Ansicht nach kluge Regel in der Europäischen Union gibt, die besagt, dass von den Mitgliedsstaaten eine loyale Mitwirkung erwartet werden dürfe. Was, wenn ich es ins Ungarische übersetze, denn so ist das ein nebulöser Wunsch, was so viel bedeutet, dass es sich nicht ziemt, nicht zusammengehörende Angelegenheit miteinander zu verbinden, dass man dies nicht machen darf. Wir müssen sehr vorsichtig darüber reden, wann wir was unter welchen Bedingungen zu erfüllen bereit sind, denn es ist keine schöne Sache, es ist keine richtige Sache und der, der verschiedene Dinge miteinander verbindet, bewegt sich am Rande der Rechtmäßigkeit. Doch eine zeitliche Übereinstimmung existiert. Auch letztens war es so, dass Entscheidungen, die der Einstimmigkeit bedurften, zeitlich mit Entscheidungen über die Gelder für Ungarn zusammenfielen. Nun, wenn sich die Verhandlungen so gestalten sollten, dann muss man natürlich mit den zeitlichen Übereinstimmungen umgehen.
- Kehren wir ein bisschen zu dem Punkt zurück, dass Sie erwähnt haben, die Frage sei, wie lange Europa in der Lage ist, die Ukraine zu finanzieren. Doch kann die Frage auch so erscheinen, ob Europa diese Last überhaupt aushält, wenn es, sagen wir, alleine bleibt? Denn wie auch Sie darauf hingewiesen haben, in den Vereinigten Staaten von Amerika wird die Debatte im Zusammenhang mit der Unterstützung der Ukraine immer lebhafter, und dieser Konflikt ereignet sich in der Nachbarschaft der Europäischen Union. Ist es also vorstellbar, dass Europa langfristig mit diesem Konflikt in seiner Nachbarschaft alleine bleibt?
Nun, vorstellbar ist es schon. Da wir uns aber an der Grenze unserer Belastbarkeit befinden, das heißt die Europäische Union und auch jeweils die Mitgliedsstaaten, deshalb würde, wenn dies einträte, Europa in dem Moment die Partei des Friedens ergreifen. Ich halte es also für unmöglich, dass während die öffentliche Meinung immer stärker die Begründetheit der Finanzierung des Krieges in Frage stellt, ihre Aufmerksamkeit immer stärker durch die eigenen inneren Sorgen gebunden wird.
Sie sieht immer weniger, dass aus diesem Krieg ein Sieg werden würde. Sie sieht immer weniger ein, was der Sinn dessen ist, statt des Friedens und der Verhandlungen lieber den Krieg zu finanzieren.
Denn wenn der Krieg in immer weitere Ferne rückt, warum wählen wir dann schließlich nicht den Weg der Verhandlungen und des Waffenstillstands? Die öffentliche Meinung bewegt sich also meiner Ansicht nach in diese Richtung. Inzwischen halten die Politiker an ihren früheren Entscheidungen fest, ja, sie schreiten lieber in die entgegengesetzte Richtung. In einer Demokratie, und die Europäische Union ist eines der größten demokratischen Territorien der Welt. Also in einer Demokratie kann die Bewegung des Volkswillens und der führenden Politiker des Landes nicht so scharf, kann nicht langfristig einander entgegengesetzt sein, hier wird früher oder später etwas geschehen müssen, und da man das Volk nicht ablösen kann, deshalb pflegt man die Regierungen abzulösen. Also für die demokratisch gewählten europäischen führenden Politiker bleibt nicht mehr viel Zeit, die veränderte öffentliche Meinung zu beachten und sich ihr anzupassen.
- Und es ist ja nicht nur die Gesellschaft, deren Standpunkt sich verändert, sondern es gibt auch Frontberichte, die deutsche Bild-Zeitung schreibt unter Berufung auf einen Bundeswehrbericht, dass die Situation der ukrainischen Gegenoffensive tragisch ist. Und das Wall Street Journal in Amerika schreibt, die westlichen Amtsinhaber wussten, dass die Ukrainer nicht genügend Waffen und Soldaten für einen erfolgreichen Gegenangriff besitzen, doch habe sie auf die Begeisterung der Soldaten vertraut, wie sie es formulieren. Ergeben sich hier über den politischen Gesichtspunkt hinaus nicht auch moralische Bedenken? Also darf eine Großmacht darauf vertrauen, dass die Soldaten eines anderen Landes begeistert genug sind, um eine Kriegspartei zu besiegen?
Es ergeben sich zahlreiche solcher Fragen wie Sie sie erwähnen. Doch das Problem, die Verrenkung, der Irrtum findet sich am Ausgangspunkt. Also als die Russen die Ukraine angegriffen haben, hatte Europa, oder sagen wir es so, hatte der Westen zwei Möglichkeiten. Die eine, so wie im Fall der Halbinsel Krim, dort ist das ja auch passiert, zu versuchen, den Konflikt zu lokalisieren und zu sagen, es handelt sich um den Konflikt zweier Länder. Es ist klar, dass das eine das andere angegriffen hat. Klar ist auch, dass hier in unserer Nachbarschaft eine Kriegsgefahr entstanden ist. Wenn wir nicht aufpassen, dann kann daraus sogar noch ein Weltkrieg werden. Die Ereignisse schließen dies in diesem Moment überhaupt nicht aus. Wir haben Grund zur Besorgnis. Und dann sollten wir versuchen, den Konflikt zu lokalisieren. Das hat Frau Bundeskanzler Merkel getan, indem sie nicht zuließ, dass der ganze Konflikt die europäische oder westliche Politik belastet.
Jetzt haben die führenden Politiker nicht diese Lösung gewählt. Im Übrigen haben wir das empfohlen. Also als der Konflikt ausbrach, da sagten wir, natürlich, es gibt zahlreiche moralische, rechtliche und weitere Bedenken, aber wir sollten versuchen, den Konflikt zu lokalisieren. Wenn wir uns in diesem Konflikt engagieren – wenn auch nur halbherzig, so wie das die Westler machen, dass sie natürlich keine Soldaten schicken, denn für Donezk zu sterben wäre dann doch zu viel.
Doch Waffen schicken sie und Geld schicken sie, und die Ukrainer sollen kämpfen, wie man so sagt, der Westen kämpft bis zum letzten ukrainischen Soldaten. Wenn man diese Lösung wählt, dann wird man den ganzen Konflikt auf eine globale Ebene, auf die Ebene der ganzen Welt heben.
Das ist eingetreten und das besitzt sehr schwerwiegende Konsequenzen. Jetzt über das Schicksal der im Krieg gefallenen Hunderttausende hinaus, drückt der ganze ukrainisch-russische Krieg die Weltwirtschaft nieder. Die größte Tugend der Weltwirtschaft war im vergangenen Zeitraum – und auch Ungarn war ein Nutznießer dessen – der Freihandel, dass wir miteinander verbunden sind. Ungarn hat 30 Jahre geturnt, im Fitnessraum trainiert, um an diesem Handels- und Produktionswettlauf nicht auf dem niedrigsten, sondern auf einem höheren Niveau teilnehmen zu können. Endlich haben wir uns Muskeln antrainiert. Unsere Größe ist eben so groß, wie sie ist, doch unsere Muskeln sind in Ordnung, wir sind wettbewerbsfähig. Das gilt auch für andere Länder.
Dann kommt so ein Krieg, dem wir, anstatt ihn zu isolieren, erlauben, sich wie eine Wolke über das gesamte Verbindungssystem der Weltwirtschaft zu erstrecken und als Grund dafür zu dienen, jene Kontakte kappen zu lassen, von denen im Übrigen der Wohlstand eines Landes und von 10 Millionen Menschen abhängt. Zum Beispiel wird die russische Energie von der europäischen Wirtschaft abgeschnitten, was für uns einen hohen Preis und Schaden darstellt bzw. wir zahlen ihn. Doch jetzt verbreitet sich das schon weiter. Im Denken über die ganze Weltwirtschaft ist die Annäherung erschienen, es sei gar nicht sicher, dass es gut ist, wenn jeder derart frei in Kontakt mit den anderen steht, und dann kommt diese decoupling, Abtrennung, Risikominderung und statt des Gesichtspunktes der Verbindung, der Arbeitsteilung, der Produktion, des Wirtschaftswachstums kommt irgendeine Art Abschottung, Isolierung, eine Art Ghettoisierung.
Wir haben die gesamte Angelegenheit im ersten Augenblick falsch angegangen und was wir jetzt sehen, das ist das sich später äußernde System von Nebenwirkungen einer im ersten Augenblick fälschlicherweise angewandten Heilmethode. Das sehen wir jetzt und dessen Folgen erleiden wir jetzt alle. In solchen Momenten muss man, wie das der weise ungarische Politiker, Ferenc Deák einst sagte, wenn die Weste falsch zugeknöpft worden ist, aufknöpfen. Man muss zum Anfang zurückgehen und dann alles wieder neu zuknöpfen. Vom Krieg muss man jetzt zum Verhandlungstisch zurückkehren.
MAGYARUL az egész interjú: https://kormany.hu/beszedek-interjuk/miniszterelnok/orban-viktor-interjuja-a-kossuth-radio-jo-reggelt-magyarorszag-cimu-musoraban-20230731
Ein Kommentar
So spricht ein Staatsmann!