4. Januar 2024 Demokrata von Gábor Bencsik
Kai Diekmann, einer der angesehensten deutschen Politjournalisten, Chefredakteur der Bild-Zeitung von 2001-2015, – an dessen Hochzeit Helmut Kohl als Zeuge fungierte und der bereits tausendmal bewiesen hat, dass er in der Lage ist, das Weltgeschehen differenziert zu betrachten, – wurde kürzlich in Budapest interviewt. Dabei sagte er unter anderem Folgendes über den Krieg in der Ukraine:
„Russland ist nicht nur durch territoriale Ansprüche motiviert. Es ist eine Diktatur, die keine freien Demokratien an ihren Grenzen duldet, weil der Kreml befürchtet, dass die Demokratie, wenn sie dort funktioniert, auf russisches Gebiet übergreifen könnte. Letztlich schützt die Ukraine auch unsere Werte. Es liegt in unserem eigenen Interesse, dass der russische Angriff nicht erfolgreich ist. Es ist grundsätzlich richtig, die Ukraine in ihrem Kampf um die Freiheit zu unterstützen. Was in diesem Zusammenhang nützlich und sinnvoll ist, darüber kann man natürlich diskutieren.“
Ich glaube, dass dieser Text alle wichtigen Elemente des fatalen Irrtums der westeuropäischen Intellektuellen enthält. Ob Russland nun eine Diktatur ist oder nicht – ich glaube nicht, dass es eine ist, – eher eine manchmal brutal harte Autokratie, aber das ändert nichts an der Sache. Es ist jedoch überhaupt nicht so, dass diese Autokratie befürchtete, dass die Demokratie von ihrem Nachbarn zu ihr überspringen könnte. Erstens hat Russland im Norden Nachbarn wie Finnland, Norwegen, Estland, Polen und Litauen in der Nähe des Kaliningrader Gebiets und im Osten Japan und Südkorea, doch von nirgendwo aus breitet sich offensichtlich etwas aus.
In Russland ist die Autokratie nicht das Ergebnis eines historischen Unfalls, sondern eine Demokratie im westlichen Sinne würde dort – wie beim Versuch zu Jelzins Zeiten – im Chaos enden.
Die meisten Intellektuellen im Westen glauben immer noch, dass die Demokratie wie eine Lampe ist: Man schaltet sie ein, und schon ist es hell. Deshalb glauben viele auch nach unzähligen blutigen Misserfolgen immer noch, dass Demokratie exportiert werden kann. In Wirklichkeit ist die Demokratie westlicher Prägung in den meisten Ländern der Welt einfach nicht funktionsfähig. Aus zweierlei Gründen: erstens weil sie der Logik der Herkunftsgesellschaften zuwiderläuft und zweitens weil durch sie gerade der kleine Mann der ungezügelten Macht vor Ort ausgeliefert wird. Letztlich sind es gerade die kleinen Leute, welche die Autokratie – die sie vor den lokalen Oligarchen schützen kann – fordern und dann im Rahmen einer begrenzten Demokratie immer wieder wählen.
Die Frage ist nicht, ob wir diese historische Tatsache für richtig halten oder nicht, sondern ob wir sie zur Kenntnis nehmen. Die russische Führung hat nicht die geringste Angst vor der Demokratie, weil sie aus Erfahrung weiß, dass sie in der russischen Gesellschaft ohnehin nicht funktionieren würde.
Russlands Krieg ist also kein ideologischer Krieg, sondern ein klassischer Krieg um die Macht und hat nichts mit Demokratie zu tun. Russland hat den Krieg begonnen und führt ihn auch heute noch fort, weil es – zu Recht – der Meinung war, dass der von den USA angeführte Westen sich anschickte, in Gebiete einzudringen, die es als seine Interessensphäre betrachtet. Dieses Eindringen wollen sie abwehren.
Außerdem würde die Demokratie auch in der Ukraine nicht funktionieren, sie hat dort noch nie funktioniert.
Es ist eine naive Illusion zu glauben, dass die ukrainische Führung, wenn sie gegen Russland kämpft, dabei die sogenannten europäischen Werte verteidigt. In Wirklichkeit stehen sich in diesem Krieg ukrainischer und russischer Nationalismus sowie ukrainische und russische Autokratie gegenüber,
höchstens ist die erstere schlechter organisiert, eher primitiv und mehr korrupt. Die ukrainische Gesellschaft ist in ihrem Kern, in ihren tiefsten Schichten, genau so wie die russische – warum sollte sie auch anders sein. Sie würde also genau so auf den westlichen Gesellschaftsumbau reagieren, wenn jemand versuchen würde, ihn dorthin zu exportieren.
Niemand kann heute sagen, was für ein Land die Ukraine sein wird, wenn der Krieg mal aufhört. Da jedoch das Volk nicht ersetzt oder verändert werden kann, können wir sicher sein, dass eine Demokratie nach westlichem Vorbild dort auf absehbare Zeit nicht dauerhaft Fuß fassen wird, selbst wenn man das Land mit westlichen Beratern und Geschäftsleuten vollstopft.
Es ist ein völliges Missverständnis der Situation, den Krieg in der Ukraine als einen Kampf zwischen Gut und Böse, Freiheit und Unterdrückung, Demokratie und Diktatur zu betrachten.
Dieser Krieg brach aus, weil die USA zusammen mit ihren westlichen Verbündeten in der Ukraine ein großes politisches Spiel begannen, dessen Ziel es war, das sie bedrohende Russland als Großmacht zu schwächen und es seiner Position als Großmacht zu berauben.
Das Spiel versprach eine Win-Win-Situation für die USA, wenn auch mit einem gewissen Risiko: Wenn Russland die Annäherung der Ukraine an die NATO schluckt, schwächt es sich selbst, aber wenn es sie nicht schluckt und angreift, schwächt es sich ebenso selbst. Das Kalkül war richtig: Russland wird durch diesen Krieg vorübergehend geschwächt, auch wenn es wahrscheinlich Territorium gewinnen wird. Aber von einem Sturz der russischen Autokratie kann keine Rede sein, im Gegenteil, sie ist gestärkt worden. Putin ist heute zu Hause stärker als vor dem Krieg.
Eine andere Autokratie, mächtiger als die russische, wird aus all dem verstärkt hervorgehen, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde: China. Und wenn Europa irgendwann mal aufwacht, wird es bereits die Anzeichen dafür sehen, es wird zusammen mit der Ukraine nur noch ein entfernter, irrelevanter Zuschauer des sich entfaltenden Machtkampfes zwischen den beiden Giganten sein.
Autor, Gábor Bencsik, ist Publizist, M itarbeiter der Wochenzeitung Demokrata
Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin