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Der ungarische Standpunkt ist, dass es einen Waffenstillstand geben soll

2. April 2023 Kossuth Rádió Interview mit Viktor Orbán am 31. März 2023

Zuerst ist ein Waffenstillstand notwendig, damit nicht noch mehr Menschen sterben, nicht weitere Patronen abgefeuert werden, nicht weitere Städte zugrunde gehen, sich die Zahl der Opfer nicht erhöht und sich auch die Situation der leidenden Zivilisten nicht weiter verschlechtert. Man muss die angegriffene Ukraine und das angreifende Russland an den Punkt bringen, dass es einen Waffenstillstand geben soll.

  • Vor drei Wochen haben wir uns das letzte Mal unterhalten. Wie sehen Sie es: Ist der Westen seitdem näher an den Punkt gelangt, in diesen Krieg hineinzuschliddern?

O.V.: Seitdem wir uns nicht getroffen haben, gab es ein Gipfeltreffen der Europäischen Union, auf dem die europäischen Staats- und Regierungshäupter anwesend waren. Ich habe die Ereignisse mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie sie dort sehen, und es ist unzweifelhaft, dass der Krieg immer blutiger und brutaler ist. Der Gedanke, den wir in Budapest oder in Ungarn als natürlich ansehen würden, dass wenn ein Krieg immer blutiger und brutaler wird – und die Zahl der Opfer liegt jetzt auf beiden Seiten schon deutlich über hunderttausend – die Menschen auf irgendeine Weise zwingen würde, einzuhalten. Auch jene, die bisher den Krieg von außen unterstützt haben, jetzt vielleicht auf irgendeine Weise eher den natürlichen menschlichen Trieben nachgebend einen Schritt in die Richtung des Friedens machen würden, nun, das habe ich nicht gesehen. Ich muss also mit Bedauern sagen, dass sich die Zahl der sich statt des Krieges auf die Seite des Friedens stellenden Länder und Oberhäupter überhaupt nicht gewachsen ist.

Wenn auch der Krieg immer brutaler wird, wenn er auch immer blutiger wird, trotzdem nimmt die Zahl der für einen Waffenstillstand und für den Frieden argumentierenden europäischen führenden Politiker nicht zu.

Zugleich sind nach all unserem Wissen, das eine zu einem Teil auf persönliche Erlebnisse und zum anderen Teil auf professionelle Umfragen aufbauende Meinung ist, die europäischen Menschen doch in Richtung des Friedens losgeschritten. Also so, wie es zu sein pflegt, wie wir das auch im Fall des Ersten und des Zweiten Weltkriegs haben sehen können, so wenden sich die Menschen, selbst wenn es anfänglich wegen der tatsächlichen oder der angenommenen Wahrheit eine Begeisterung gibt, so wie die Zahl der Opfer zunimmt, der Schmerz zunimmt, die Verluste zunehmen, immer mehr in die Richtung des Waffenstillstandes und der Friedensverhandlungen. Dieser Prozess hat in der Welt der europäischen Völker begonnen.

Doch hat dies die politischen Führer noch nicht erreicht, also vorerst vertritt der Großteil Europas noch einen den Krieg befürwortenden Standpunkt und stellt den Ukrainern immer brutalere Instrumente zur Verfügung.

Tatsächlich, so wie Sie das gesagt haben, noch am Anfang, vor einem Jahr haben wir darüber diskutiert, ob man Waffen schicken darf, die geeignet sind, Menschenleben auszulöschen. Die Ungarn sagten ja bereits damals schon „nein“ dazu, und selbst die Westler hatten gezögert. Jetzt ist dies keine Frage mehr. Die Frage ist, ob nur Panzer oder sollen auch Flugzeuge gesendet werden oder dieses verdächtige, auch nukleare Elemente beinhaltende Instrument, wir sind nahe an dem Punkt, dass es im Rahmen der Gespräche der europäischen führenden Politiker zu einer legitimen, akzeptierten, gängigen Frage wird, ob die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in irgendeiner Form irgendwelche Truppen der Art von Friedenstruppen schicken sollen oder ob sie dies lieber nicht tun sollten. Wir sind nahe an dieser früher unüberschreitbar gedachten Grenze.

  • Dies ist ja jene Erscheinung oder jene westliche Lagebeurteilung, die Sie auf der Sitzung des Türkischen Rates so beschrieben hatten, dass der Westen an einer Kriegspsychose leide. Doch wie gefährlich ist dies in Hinblick auf Ungarn?

Da der Krieg sich in unserer Nachbarschaft befindet, ist der Krieg im Hinblick auf die ungarischen Menschen besorgniserregend und gefährlich. Unsere Sicherheit ist also in Gefahr. Und dass die Ereignisse in die Richtung der Ausweitung des Konflikts zeigen, wächst deshalb ständig auch die Gefahr und auch das Ausmaß der bewaffneten Kämpfe nimmt zu. Und da ständig über den Einsatz von immer neueren und über eine größere Effektivität verfügenden Vernichtungsmitteln Beschlüsse gefasst werden, und der Westen den Ukrainern immer modernere Instrumente zur Verfügung stellt,

ist es meine Überzeugung, dass die Gefahr des Weltkriegs keine literarische Übertreibung darstellt. Wenn europäische und amerikanische führende Politiker sagen, dass wenn es so weitergeht, dann könnten wir im Dritten Weltkrieg ankommen,

scheint dies beim ersten Hören ein unglaublich übertriebener Satz zu sein, aber dort wo ich arbeite und dort, wo ich die Ereignisse sehe, ist dies in diesem Augenblick eine reale Gefahr.

  • Was kann Ungarn in dieser Situation tun? Z.B. hat man auf dem EU-Gipfel über den gemeinsamen Munitionseinkauf entschieden, an dem auch Ungarn teilnimmt, jedoch liefern wir keine Munition in die Ukraine. Dies könnte auf den ersten Blick auch als ein Widerspruch erscheinen. Kann man das irgendwie auflösen?

O.V. : Natürlich! Die Frage ist, wie die ungarische Armee an Munition gelangt. Uns interessiert also in dieser Hinsicht nicht die Ukraine, sondern Ungarn. Und die Frage ist, wie man die Armee Ungarns schneller und billiger mit Munition versorgen kann, wenn wir sie gesondert einkaufen oder wenn wir sie gemeinsam einkaufen. Unsere Antwort lautet, dass wir das auf die eine und auch auf die andere Weise machen. Der gemeinsame Munitionseinkauf bedeutet also im Fall Ungarns die billigere und schnellere Versorgung der ungarischen Armee.

  • Sie haben ja auf der Sitzung des Türkischen Rates auch darüber gesprochen, dass der Großteil der Welt auf der Seite des Friedens steht. Hat dies für uns eine Bedeutung, wenn die Mehrheit in Europa, wie auch Sie darauf hingewiesen haben, diesen Frieden nicht möchte oder ihn mit anderen Mitteln erreichen möchte als Ungarn oder der Teil der Welt, der auf der Seite des Friedens steht?

O.V.: So überraschend dies auch sein mag: Es ist von Bedeutung. Man neigt dazu, besonders so ein Land der Größe Ungarns, das sagt, ein jeder erledigt seine eigenen Angelegenheiten. Was man im Übrigen auf einem anderen Kontinent über, sagen wir, Ungarn denkt oder was man über den in unserer Nachbarschaft laufenden Krieg oder eine europäische Angelegenheit denkt, das besitzt keine große Bedeutung. Und das ist im Allgemeinen wahr. Denn wen interessiert es, dies sei unter uns gesagt, über das höfliche Interesse hinaus, was wer irgendwo, in Schwarzafrika oder in Südamerika oder gerade dort in Hinterasien über eine europäische Angelegenheit denkt. Doch jetzt ist die Situation eine andere. Zum Teil deshalb, weil sich dieser Konflikt zu einem Weltkrieg erweitern kann und in diesem Fall kann dies auch ihn erreichen. Also irritiert dieser Krieg zwar unser Nervensystem am stärksten, denn wir befinden uns in der Nachbarschaft, doch sind auch die anderen nicht ruhig. Andererseits ist der westeuropäische, den Krieg unterstützende Standpunkt moralisch untermauert.

Die Westler behaupten, man müsse diesen Krieg bzw. die Ukraine aus dem Grund unterstützen, weil dies eine richtige Sache sei. Und die Welt sagt: Aber nein. Und deshalb ist es sehr wichtig, dass wir Europäer ständig außer unserer eigenen Erklärung für den Krieg auch mit einer anderen Interpretation konfrontiert werden, die besagt: „Wir verstehen, dass das für Euch wichtig ist, doch hier geht es um die Frage des Weltkriegs oder des Weltfriedens.

Es wäre auch noch möglich, dass Ihr in bestimmter philosophischer oder moralischer Annäherung Recht habt, doch dies kann uns, die wir nichts mit diesem Konflikt zu tun haben, hier in Afrika oder gerade in Asien, in Gefahr bringen, z.B. weil der Weizen aus der Ukraine und aus Russland nicht kommt, das kann Hunger verursachen oder das Risiko dessen vergrößern, und wir verstehen, dass Ihr einen eigenen Gesichtspunkt besitzt, doch den haben wir auch. Wir wollen essen, wir wollen leben, wir wollen nicht, dass der Krieg hierherkommt, und ihr sollt akzeptieren, dass dies eine mindestens so starke moralische Argumentation ist wie die Eure.“ Deshalb stößt die europäische Erklärung des Krieges auf jene Mauer, auf die sie in der Welt trifft. Während in Europa ein jeder glaubt, auf moralischer Grundlage Stellung für den Krieg nehmen zu müssen, ist

Ungarn davon eine Ausnahme, denn wir denken, dass man auf moralischer Grundlage auf der Seite des Friedens Stellung nehmen muss, die Welt ist eher auf dem ungarischen Standpunkt.

Ungarn gehört heute also, formulieren wir es so, zur Mehrheit der Welt oder zur globalen Mehrheit. In Europa ist unsere Meinung in der Minderheit und in der Welt gehören wir zur Mehrheit.

  • Wie groß ist der Druck von westlicher Seite in der Hinsicht, dass wir diesen Standpunkt ändern sollen? Denn von Zeit zu Zeit kommen doch kritische Äußerungen auch seitens von Amtsinhabern der EU oder auch seitens der führenden Politiker einzelner Mitgliedsstaaten oder ihrer führenden Amtsträger.

O.V.: Die direkte und indirekte Druckausübung, die Erpressungen sind alltäglich, man will uns in diesen Krieg hineinpressen. Zugleich spürt aber auch ein jeder, dass dies doch eine Angelegenheit der Tragweite ist, bei der man das nationale Parlament nicht umgehen kann. Man kann mir also in Brüssel oder anderswo dies und jenes sagen, doch kann man nicht in Zweifel ziehen, dass in der Frage, ob Ungarn am Krieg teilnehmen soll und wenn ja, dann in welcher Form, oder ob es ihm fernbleiben will, sie auch nur irgendetwas zu sagen hätten, denn es gibt nur einen einzigen Ort, wo dies auf unbestreitbare Weise entschieden werden kann, und das ist kein anderer Ort als das ungarische Parlament. Deshalb ist es von Bedeutung, dass

am heutigen Tag das ungarische Parlament dann einen Beschluss annehmen wird, in dem es an dem Standpunkt des Friedens festhält und einen Waffenstillstand fordert.

Es gibt hier ja noch eine Gefahr, in deren Falle am meisten Sie, Journalisten, hineinzutappen pflegen, was verständlich ist, denn es steckt ja darin eine intellektuelle Spannung, dass na gut, gut, Frieden, aber was für ein Frieden, und gut, gut, Friedensverhandlungen, aber in welchem Rahmen und worüber sollen Friedensverhandlungen geführt werden? Und das sind alles spannende, spekulative Fragen,

Doch geht es bei dem ungarischen Standpunkt nicht darum, dass wir einen Vorschlag hätten, was für ein Friedensvertrag am Ende der Verhandlungen abgeschlossen werden müsste. Unser Standpunkt ist, dass es einen Waffenstillstand geben soll. Man muss jetzt also nicht über die Friedensverhandlungen reden, sondern über den Waffenstillstand. Die Welt muss an den Punkt gebracht werden und

man muss die angegriffene Ukraine und das angreifende Russland an den Punkt bringen, dass es einen Waffenstillstand geben soll, keine weiteren Menschen sterben

und wenn es einen Waffenstillstand gibt, dann besteht die Chance, dass man sich den Rahmen für die Friedenverhandlungen ausdenkt. Es hat noch niemals nach einem Krieg einen Frieden auf die Weise gegeben, dass jemand sofort mit der Lösung herausgerückt wäre. Die Route für das Ankommen im Frieden und für das Ankommen in der sich im Rahmen des Friedens vollziehenden Ordnung beginnt mit dem Waffenstillstand. Zuerst ist also ein Waffenstillstand notwendig, damit nicht noch mehr Menschen sterben, nicht weitere Patronen abgefeuert werden, nicht weitere Städte zugrunde gehen, sich die Zahl der Opfer nicht erhöht und sich auch die Situation der leidenden Zivilisten nicht weiter verschlechtert. Von hieraus muss man beginnen. Wenn es das gibt, wenn es den Waffenstillstand gibt, dann kann danach alles geschehen. Der Durchbruch ist also – und die ungarische Außenpolitik zielt darauf ab – ist der Waffenstillstand. Wir müssen dafür immer mehr Argumente liefern, damit die kämpfenden Parteien einsehen, dass der Waffenstillstand ihr beider Interesse ist.

  • Sie haben ja den Beschlussvorschlag für den Frieden erwähnt, über den das ungarische Parlament dann heute abstimmt und beinahe alle linken Parteien haben signalisiert, sie hätten Beanstandungen hinsichtlich des Textes. Mit einer wie großen Unterstützung rechnen Sie?

O.V. Die Situation ist die, dass die Position der Regierungsparteien klar ist und auch die Position der Linken ist klar: Die linken Parteien stehen auf der Seite des Krieges. Dieser Beschlussvorschlag wäre für sie eine gute Gelegenheit gewesen, wo sie nach einer sinnvollen Diskussion, sagen wir, im Interesse der nationalen Einheit ihren den Krieg vertretenden Standpunkt aufgeben und sich dem Friedenslager anschließen, das die Regierungsparteien vertreten. Und das hätten sie in dieser Debatte meiner Ansicht nach auch ohne einen Gesichtsverlust machen können. Man hätte nüchtern, ruhig darüber sprechen können, dass natürlich anfänglich ein jeder das gedacht hat, was er eben gedacht hat, doch jetzt sind so viel hunderttausend Menschen gestorben, so viel hunderttausend Menschen sind verkrüppelt worden, so viele Waisen, so viele Witwen, so viele zerschossene Städte, überdenken wir das neu. Und wir haben jetzt der Linken die Möglichkeit angeboten, aus der den Krieg vertretenden Position in die Position des Friedenslagers herüberzukommen. Wir haben die Möglichkeit angeboten, sich auf die Seite des mit dem Frieden verbundenen nationalen Interesses zu stellen. Sie hätten das tun können. Ich habe in der Diskussion keine Zeichen dessen gesehen, wir werden sehen, wie sie heute abstimmen.

MAGYARUL:

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