5. Dezember, 2023 Über die Europäischen Union (Auszug aus der Rede von Viktor Orbán auf der Jubiläumsfeier des Wochenmagazins „Weltwoche”am 22. November, 2023)
Die Konservativen stimmen heute in Europa darin überein, dass Europa nicht mehr sein eigener Herr ist. Seine Beteiligung am Gesamt-GDP der Welt nimmt ab, bis 2030 wird es laut den Prognosen unter den zehn größten Wirtschaften nur noch ein einziges europäisches Land geben: Deutschland auf dem zehnten Platz. Die anderen fallen alle aus den ersten zehn hinaus. Mit der Erweiterung kommen wir offensichtlich nicht voran und mit den regionalen Konflikten – sei es der Balkan oder die Ukraine – ist Europa nicht in der Lage umzugehen.
Meine These lautet: Europa hat seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung verloren. Das bedeutet
Europa ist nicht in der Lage, zu bestimmen, was seine Ziele sind, und es kann nicht erkennen, welche Instrumente es zum Erreichen seiner Ziele anwenden muss, d.h. es ist unfähig zum selbständigen und souveränen Handeln.
Ich sage das mit Bitterkeit, für einen ungarischen Menschen ist das ein schmerzhaftes Gefühl, denn wir sprechen ja doch über die Wiege der westlichen Zivilisation. Und es stimmt, die westliche Zivilisation hat auch auf anderen Kontinenten Fuß gefasst, doch ihr Mark, ihr Kern befindet sich doch hier in Europa. Es tut weh, was wir heute sehen. Gehen wir zurück in der Zeit! Wie ist diese Situation entstanden?
1990 gewann der Westen den Kalten Krieg gegenüber dem Osten, der Sowjetunion, wir wurden frei und die sowjetischen Machtstrukturen verschwanden ganz einfach aus Europa, auch aus der östlichen Hälfte Europas. Die spannende Frage ist – und dies führt uns zum Heute –, was in den vergangenen 33 Jahren mit den amerikanischen Strukturen geschehen ist. Dies führt uns zu der provokativen Frage, ob es schlecht ist, dass nach 1990 die Amerikaner hiergeblieben sind.
Die Situation hat sich geändert, denn in der Zwischenzeit haben in den Vereinigten Staaten die progressiven liberalen Kräfte mit bestimmendem Gewicht und mit bestimmender Kraft die christlichen politischen Kräfte abgelöst. Die Konservativen haben überall, sowohl in Westeuropa als auch in Amerika zu spät geschaltet, und wenn Sie sich umschauen, werden Sie sehen: In alle wichtigen Positionen sind die progressiven Liberalen gelangt. Dies bedeutet,
dass die amerikanischen Positionen heute in Europa im Wesentlichen progressiv-liberale Prinzipien vertreten und die Leitung des Kontinents übernommen haben.
Und die Amerikaner verbreiten heute überall, auch in Europa, mit voller Kraft diese progressiv-liberalen Prinzipien.
Die Vereinigten Staaten haben nach 1990 nicht nur in Europa, sondern auf dem gesamten Globus mit einer Verwestlichung begonnen und versucht, die progressiv-liberalen Prinzipien zu exportieren. Wir alle kennen das, wir haben es erlebt, aus der Tagespresse konnte das ein jeder in den vergangenen dreißig Jahren entnehmen und man weiß, der Plan ist nach hinten losgegangen.
Einerseits verursachte er einen großen Haufen an Kriegen an den verschiedensten Punkten der Welt. Andererseits begann der nicht westliche Teil der Welt feindlich auf die Vereinigten Staaten zu blicken. Dazu haben wir noch China in das System des Freihandels hereingeholt, das viel schneller erstarkte, als das auch nur jemand angenommen hätte, und heute ist es die Situation, dass China zum Vertreter der den Westen ablehnenden, nennen wir sie die betrübten Länder, geworden ist.
Es ist das geschehen, was noch zu Beginn der neunziger Jahre Huntington, über die Zukunft der Welt nachdenkend, in einem fantastischen Buch geschrieben hat. Er schrieb,
wenn die Vereinigten Staaten mit der Verwestlichung der Welt fortfahren, werden sie erreichen, dass sich die ganze nichtwestliche Welt gegen sie wenden wird.
Und dieses Gefühl können sie – was noch hinzukommt – durch China in der internationalen Politik kräftig vertreten. Da die Vereinigten Staaten von immer mehr Orten der Welt verdrängt wird, und wir Europäer haben uns an sie gebunden, so verlieren auch wir ständig unsere Positionen. Das wird schwerwiegende Folgen haben. Sie sehen es auch, es reicht ein Konflikt irgendwo in der Welt, wo die vereinigten Staaten vitale Interessen besitzen, Nahost – aktuell –, pazifischer Raum – das ist es ebenfalls –, und für die Vereinigten Staaten sind die anderen Teile der Welt plötzlich wichtiger als Europa.
Dies wirft ernsthafte Fragen auf.
Und in Brüssel gibt es nicht nur keine Antworten auf diese Frage, sondern man versteht nicht einmal die Frage.
Um hier nur ein Problem anzuführen, damit es konkreter ist, worüber ich spreche. Hier ist der russisch-ukrainische Krieg. Stellen wir die Frage: Was wird sein, wenn es in den Vereinigten Staaten einen politischen Kurswechsel gibt, sagen wir, die in der Angelegenheit der Ukraine skeptischeren Republikaner kommen an die Macht? Dann wird Amerika seine Kräfte umgruppieren, vielleicht sogar noch der Angelegenheit den Rücken kehren. Und wir, Europäer, werden mit einem gewaltigen geopolitischen Konflikt hierbleiben. Für uns ist das wichtig, unser östliches Nachbar ist die Ukraine, und wir werden dann eine politische Lösung für eine beinahe unmögliche Angelegenheit finden müssen und wir werden die gesamte finanzielle Last der Wiederherstellung der Ordnung tragen müssen. Aus der Schweiz gesehen mag es nur schwer glaubhaft klingen, aber
Europa befindet sich in einer Entwicklung der Verarmung, es hat kein Geld für ein so großes Abenteuer und eine so große Unternehmung.
Ich will diese Frage nicht beantworten, ich wollte nur die Konsequenzen dessen skizzieren, welche Folgen das schon jetzt hat, wenn sich Europa anstatt der Vertretung seiner eigenen Interessen an die Vereinigten Staaten kettet, und welche Folgen dies in der Zukunft haben kann, im Hinblick darauf, dass in der ganzen Welt sich eine Umordnung vollzieht.
Vielleicht habe ich noch ein paar Minuten, dieses Problem führt uns zum Problem der Führung, zum Problem der politischen Führung in der Europäischen Union. Die Europäische Union ist ja eine eigentümliche Kreation, ein sui generis. Also solch ein Tier existiert laut der Lexika nicht, doch in der Wirklichkeit gibt es das doch. Die Führung, die politische Führung dieses Etwas, dieses Konglomerats müsste eine Europäischer Rat genannte Körperschaft versehen, der die ersten Leute, die Ministerpräsidenten und Präsidenten der 27 Mitgliedsstaaten umfasst.
Die Wirklichkeit ist, dass anstelle des Rates und der nationalen führenden Politiker die Brüsseler Institutionen immer mehr Entscheidungen treffen.
An den Institutionen gibt es natürlich an sich auch nichts auszusetzen, denn ohne Institutionen gibt es auch kein zivilisiertes Leben, doch ist das schon ein großes Problem, wenn die Institutionen nicht die Arbeit verrichten, die ihre Aufgabe wäre. Die Institutionen sind immer bürokratisch. Sie sind dazu da, um die Beschlüsse der Politiker auszuführen, und nicht, um anstelle der Politiker Beschlüsse zu fassen. Anstatt die europäischen Strukturen lang und breit zu analysieren, sage ich nur, wenn Sie nur an Ihre täglichen Presselektüren denken, wie oft scheint es in der Öffentlichkeit, als ob die Führung Europas durch die Europäische Kommission und ihre Präsidentin versehen werden würde? Wir denken an sie und lesen ihre Sätze, als ob eine Führerin Europas spräche, dabei ist sie unsere Angestellte, unsere bezahlte Angestellte, deren Aufgabe es ist, das auszuführen, was wir beschlossen haben.
Ich war dort, als diese Veränderung eintrat. Früher, noch in der Zeit von Herrn Präsident Barroso war die Kommission eine Vollstreckerin, eine Bürokratie. Die Veränderung trat bei Herrn Präsidenten Juncker ein, der das Programm verkündete,
er werde die Kommission in eine politische Körperschaft umformen.
Aber das ist ein anderes Metier. Davon versteht die Kommission nichts, davon verstehen wir etwas. Deshalb hat sich die Situation ergeben, dass die Bürokraten zwar die Dinge managen können, wenn die Sonne scheint. Es fällt gar nicht auf, dass Europa keine politische Führung besitzt, alles vollzieht sich friedlich, bewährte Routinen, bekannte Verfahren. Doch wenn es Probleme gibt, eine Krise kommt, na, da werden Führer benötigt. Da sind Politiker notwendig. Die charakteristischste Eigenschaft des Politikers ist, dass er in der Lage ist, die Dinge zu überschreiben. Der wahre Politiker tut sich nicht darin hervor, die Dinge im vorgegebenen Rahmen zu halten, sondern indem er erkennt, dass man neue Rahmen setzen muss. Um es in einfachen Worten auszudrücken, ein Politiker ist der, der auszusprechen in der Lage ist „Bisher haben wir die Dinge so getan, doch das ist nicht mehr gut, ab morgen machen wir sie anders.“ Das können wir von keinerlei bürokratischer Institution erwarten.
Die Situation ist die, dass heute in Europa die Politiker fehlen und die Bürokraten überall dort sind. Und wenn das noch nicht genug wäre, so haben wir noch auch jenes Übel, dass die administrativen Institutionen im geistigen Sinn die aus den Vereinigten Staaten importierte progressiv-liberale Hegemonie besetzt hat. Wir haben es mit einer sehr eigentümlichen Mischung zu tun.
Statt Politiker sitzen Beamte in führenden Positionen. Doch sind diese Beamten weltanschaulich nicht neutral, wie das die Bürokratie im Übrigen sein müsste und wie das der Beruf erfordern würde, sondern sie sind engagierte Anhänger jenes progressiven Liberalismus, der aus Übersee losging und ganz Europa besetzte.
Ich bin nicht gekommen, um mich bemitleiden zu lassen, doch hiernach verdiene ich wirklich etwas Mitgefühl von ihnen. Dies hat zur Ursache, dass es keine starken nationalen Anführer gibt und der Begriff „starker Anführer“ selbst ist ein in Brüssel negativ konnotierter Ausdruck. Wenn also jemand in Brüssel zu sagen wagt, ein starker Anführer sei nötig, dann bekommt er die denkbar negativste Beurteilung. Man darf es nicht einmal aussprechen, dass starke führende Politiker nötig wären.
Auszug aus der Rede von Viktor Orbán auf der Jubiläumsfeier des Wochenmagazins „Weltwoche”am 22. November, 2023
Ein Kommentar
„Dies führt uns zu der provokativen Frage, ob es schlecht ist, dass nach 1990 die Amerikaner hiergeblieben sind.“
Diese Frage kann ich leider nur mit einem klaren Ja beantworten. Zur Begründung verweise ich hier nur auf drei Bücher (es gibt noch viele weitere gleichermaßen gut recherchierte, in allen Aussagen mit Quellen belegte und sehr erhellende Texte dazu, aber hier findet man zusammengefaßt, was den Kern ausmacht):
Thorsten Schulte: Fremdbestimmt. Der Finanzjournalist beschreibt akribisch, wie das Vereinigte Königreich und dann zunehmend auch die USA auf den 1. Weltkrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn hingearbeitet haben, um die Achsenmächte zu zerschlagen; wie dann die USA die Position der führenden Weltmacht erfolgreich anstrebten und das nationalsozialistische Deutschland gezielt aufrüsten halfen, um die erstarkte Sowjetunion im Zaum zu halten; schließlich auch wie die Nachkriegsarchitektur Europas unter maßgeblichem US-Einfluß so wurde, wie sie bis 1989 war.
Heiko Schöning: Game over. Der Autor beschreibt, gestützt auf belastbaren Belege, die engen mafiösen Verstrickungen der US-Regierungen spätestens seit der Zeit von Richard Nixon. Als Arzt setzt er einen Schwerpunkt auf die Aufklärung über die Entwicklung von biologischen Kriegswaffen und in die in dem Kontext propagierten Impfkampagnen.
Jonas Tögel: Kognitive Kriegsführung. Der promovierte Anglist forscht am Institut für Kognitionspsychologie der Universität Regensburg. Aus Originaldokumenten der NATO trägt er vor, daß unter US-Führung im transatlantischen Verteidigungsbündnis vor wenigen Jahren neben Bodentruppen, Marine, Luftwaffe und Weltraumstreitkräften eine fünfte Waffengattung eingerichtet unter dem Namen „Cognitive Warfare“ eingerichtet wurde. In der Kriegspropaganda der Briten und US-Amerikaner seit der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bereits erprobte, anschließend in der Werbebranche und der US-Kulturindustrie weiterentwickelte Methoden der Bewußtseinsbeeinflussung werden ebenso mit tradierten und modernsten wissenschaftlichen Mitteln weiterentwickelt und auch angewandt, um die Bevölkerungen nicht nur der gegnerischen Länder, sondern auch des globalen Westens so zu manipulieren, daß sie den imperialen Ansprüchen der USA willfahren oder wenigstens keinen Widerstand entgegensetzen. Aus dem Text läßt sich, auch wenn Herr Tögel das nicht explizit tut, sehr gut beispielhaft nachvollziehen, wie die unsägliche Verleumdungskampagne gegen die ungarische Regierung unter Viktor Orbán systematisch aufgebaut wurde und fortgeführt wird.
Die aus diesen Lektüren gewonnene Einsicht läßt die Bezeichnung „liberal-progressiv“ für die hegemonialen Ansprüche der US-Führung fragwürdig klingen. Ist es ein „Fortschritt“, wenn in den Ländern Mitteleuropas, die sich unter größtem Risiko mutig der Sowjetherrschaft entledigt haben, nun ein neues Diktat einschleicht, mit Methoden, für die die Bezeichnung „Soft Power“ ein Euphemismus ist? Und was ist „freiheitlich“ daran, wenn man (wie in Deutschland) auf allen Kanälen der Medien und der Kulturinstitutionen nur eine einzige Agenda eingetrichtert bekommt: die der ach so „liberalen“ Eliten, die sich im US-dominierten WEF zusammengefunden haben?