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„Antidot gegen das deutsche Opium“¹

22. Januar 2022 Kontra von MÁRTON BÉKÉS

Die ungarisch-deutschen Beziehungen, jedenfalls was die beiden Völker betrifft, zeigen viele positive Beispiele, angefangen von der kulturellen Integration des wirtschaftlich sehr weit entwickelten, hiesigen Ungarndeutschtums (die Zipser in Oberungarn, die Hiencer und Ponzichter in Westungarn incl. Burgenland, die Schwaben in Mittel- und Südungarn, die Sachsen in Siebenbürgen) bis zur Waffenbrüderschaft im I. Weltkrieg. Aber auch die negativen Erinnerungen haben eine lange Tradition, die von dem Konflikt zwischen dem souveränen ungarischen Staat und seine Unabhängigkeit in Frage stellendem „Großdeutschen Reich“ handeln.   

Da ist zum Beispiel dieses Horn aus Elfenbein, das im Museum von Jászberény aufbewahrt wird, und das wir Ungarn für „das Horn des Heerführers Lehel“ halten. Lehel, einer der Anführer der ungarischen Streifzüge gegen den Westen, wurde nach der Niederlage in der zweiten Schlacht bei Augsburg (955) gefangen genommen, und er erschlug – bevor er hingerichtet wurde -, mit diesem Horn Herzog Konrad, den Schwiegersohn des deutsch-römischen Kaisers Otto I.. Nachdem er in das Horn hineingeblasen hatte, sagte er, entsprechend der heidnischen ungarischen Glaubensvorstellung: „

„Du wirst mir vorangehen und dann musst du mir im Jenseits dienen“

– wie es in der „Ungarischen Bilderchronik“ (Chronica Pictum) im 14. Jahrhundert aufgezeichnet wurde.

Aber auch die früheste, schriftlich überlieferte ungarische Obszönität hat einen Bezug zu den Kämpfen mit den Deutschen! Diese blieb in der Chronik von Dubnic aus dem Jahr 1479 erhalten, aber in Wirklichkeit wurde sie aus einem um 1370 geschriebenen Werk als Zitat übernommen. Sie verewigt einen Kriegsbefehl der Ungarn aus der Zeit Ludwigs (Lajos) dem Großen. (1342-1382) Dieses Sprachdenkmal lautet: „Ihr sollt keinen Deutschen gefangen nehmen, sie sollen vom  Glas des Todes trunken werden.“ Als der Befehl verhallte, sollen „die Ungarn ihre Schwerter über ihren Köpfen unheilbringend geschwungen haben“, und sie riefen fluchend, die Schweizer Söldner zu Tode erschreckend „Ihr Hurensöhne, faule, dreckige Deutsche, ihr habt bisher unser Blut getrunken, aber heute werden wir euer Blut trinken“.

Ein Jahrhundert später wuchs dieser Elan zu einer geradezu strategischen Frage, das gierige westliche Reich von dem mitteleuropäischen Raum fernzuhalten. Und zwar unter ungarischer Führung.

Das selbständige Mitteleuropa

Während der Herrschaft von Mathias Corvinus (1458-1490), also in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, war der Kampf um die Souveränität zwischen dem Deutsch-Römischen Reich und dem von Tschechien bis zur Walachei, von der Adria bis zu  den Ost-Karpaten ausgedehnten ungarischen Königreich und seinen Partnerländern am heftigsten.

Kurz gesagt deswegen, weil der Habsburger Friedrich III. (1452-1493) nicht geneigt war, König Matthias bei dessen vorrangigem Ziel, nämlich im Kampf gegen die Osmanen, zu unterstützen. Vielmehr versuchte er, das Land in die Abhängigkeit des Reiches zu bringen. So musste der ungarische König nach einer anderen Lösung suchen, sich auf die eigene Kraft besinnen:

  • zunächst ein zentralisiertes, nationales Königtum mit sicheren Einnahmen und mit einem ständigen Heer aufbauen;
  • das Territorium dieses Reiches erweitern (mit Nord-Bosnien, Ost-Österreich, Mähren) und Verbündete suchen (Friedensschluss mit den Polen, Bündnisse mit dem Königreich Neapel, den serbischen Grenzschützern, rumänischen Fürstentümern);
  • soweit erstarken, dass man in die Lage versetzt wurde, den Kampf mit der von Westen herankommenden deutschen Hegemonie und der im Süden entstehenden türkischen Invasion gleichzeitig aufzunehmen.

Matthias musste sich also ständig den Rücken freihalten und sichern. Deshalb erzwang er im Friedensschluss von Gmunden-Korneuburg von 1477 nicht nur die kaiserliche Anerkennung seines Titels als tschechischer König, sondern er erhielt auch Hunderttausend Gulden Schadensersatz. Und er ließ sogar sicherheitshalber in das Dokument seines gegenüber dem Kaiser geleisteten Vasalleneides als tschechischer König hineinschreiben, das

„das ungarische Königreich immer vollständig von allen Pflichten gegenüber dem Heiligen Reich befreit war und befreit bleibt“. (regnum hungariae, qui ab ipso sacro imperio prorsus exempti semper)

Die Gegnerschaft zwischen dem deutsch-römischen Kaiser und dem mitteleuropäischen ungarischen König wurzelte sehr tief. Wie der am Königshof lebende italienische Humanist und Historiker, Antonio Bonfini (1434-1503) aufzeichnete: „dazu kommt der große Unterschied in den ungarischen und deutschen Gebräuchen und der angeborene Hass zwischen ihnen. Mathias Corvinus ist nämlich von Natur aus großzügig und edelmütig, …

der eine ungeheure Seelengröße hat, und durch seine Gesinnung immer zur Ignorierung von Gefahren und zur Vollbringung großer Taten bereit war.

Kaiser Friedrich aber war demgegenüber nicht nur sparsam und nüchtern, sondern auch habsüchtig und hatte eher eine Begierde nach Geld als nach Ämtern; …

er machte sich nie auf, um für die großen Interessen der christlichen Welt tätig zu werden.

…Lieber verlor er alles, nahm aber trotzdem kein Geld aus seiner Kiste, da er sein Geld eher schonte als seine Verbündeten.“

In fünf Jahrhunderten scheint sich nichts verändert zu haben: vergnügter Kampf und humorloses Herummachen, ungarische Bravour und deutscher Geiz, hier die Verteidigung der christlichen Werte, dort der kurzsichtige Egoismus eines Reiches.

Matthias machte als stolzer Realpolitiker 1481 gegenüber Albrecht, dem Kurfürsten von Brandenburg klar und deutlich:

„Ungarn war immer ein freies Land und stand nie in irgendeiner Beziehung zum Reich. Wir erkennen zwar den Kaiser von Amts wegen als höherrangig an; aber was die herrschaftliche Macht betrifft, sehen wir uns gleichrangig,

in den Maßen gleichrangig, dass wir uns vor ihm überhaupt nicht fürchten und wie wir uns bisher, so auch in der Zukunft nicht fürchten werden.“

Korrespondierend mit seinem Hauptverbündeten, mit dem Papst selbst, schrieb er, dass es im Falle eines Krieges mit Friedrich dies „nicht unser erster siegreicher Krieg werde.“ Er sprach nicht in den Wind: nachdem er in den 1470-er Jahren empfindliche Verluste verursacht hatte, besetzte er Gebiete, die zu den österreichischen Erblanden gehörten (Niederösterreich gänzlich, sowie die östlichen Teile von Kärnten und von der Steiermark), und er zog sogar siegreich in Wien (1485) und zwei Jahre später in Wiener Neustadt (1487) ein, wodurch er auch ein österreichischer Herzog wurde. „Und die stolze Burg von Wien/Mátyás‘ Heer erstürmen.”– wie es in unserer Nationalhymne steht.

Endre Bajcsy-Zsilinszky bezeichnete in seinem über Matthias verfassten Buch (Matthias und sein Reich, 1939)

Kaiser Friedrich als eine „künstliche Autorität, die plump, kurzsichtig und ein Hasenfuß war,“ und stellte ihm den großformatigen Renaissance-Fürsten Mathias Corvinus gegenüber, der sogar im Kampf mehrmals verwundet wurde.

Fügen wir noch hinzu: in dem königlichen Banderium (=Heer) von Matthias, in der legendären Schwarzen Armee, dienten aus allen mitteleuropäischen Nationen Soldaten, und die Heerführer kamen auch aus den Völkern der hiesigen Gebiete. Derjenige, der die Legende des großen Königs ins Leben zu rufen begann, Graf Miklós Zrinyi (1620-1664) hängte am Schluss seiner Abhandlung (Reflexionen über das Leben vom König Matthias, 1656/1657) ein Gedicht in kroatischer Sprache an und schrieb darin: „jetzt sieht die ganze Welt, dass

das Übel (Problem) nicht allein die Ungarn betrifft, sondern ein allgemeines ist.“

Also, dass es in unserer Umgebung auch andere betrifft.

Der nationale Widerstand

Der Dichter, Sándor Petőfis (1823-1849) hat im Mai 1848  ein republikanisch gesinntes Gedicht gegen die Habsburger Absichten geschrieben, mit revolutionärer Volkstümlichkeit:

„Für wen zur Hölle halten sich die Deutschen? /  Gottes Blitz möge sie fest treffen! / Die Schwabenschaft will uns belangen: /  Wir sollen ihre Schulden zahlen. // Einen Dreck könntet ihr besetzen, / Doch nicht unsere Heimat drängen! / Sie tun uns den Krieg erklären, / Sie, die zu siebt auf einen Hasen gehen.

Das beinhaltet vollständig alles, was Bonfini 350 Jahre vorher bereits im Zusammenhang mit Kaiser Friedrich zu Papier gebracht hatte: die Arroganz des jeweiligen deutschen Reiches, seine kleinliche Sparsamkeit und lächerliche Feigheit. Und natürlich den ewigen Topos der ungarischen Tapferkeit.

Lehren des 20. Jahrhunderts

Nach Petőfis Jahrhundert sind noch keine hundert Jahre vergangen, und es

entsteht dieselbe geopolitische Konstellation wie im Zeitalter von König Matthias: vom Westen her die Ausdehnung des deutschen Reiches, vom Osten die Bedrängnis der Sowjetunion, eines anderen auf Eroberung hungrigen Imperiums, dazwischen ein Gürtel aus  gegeneinander ausgespielten, seit Urzeiten ansässigen mitteleuropäischen Völkern.

Die große Frage war mal wieder, wer und nach welchen Prinzipien diese Völker zu einer gemeinsamen mitteleuropäischen Selbstverteidigungszone organisieren kann. Dafür gab es mehrere unterschiedliche Pläne, deren Architekten die Bedrohung aus der Richtung des Dritten Reiches in gleicher Weise sahen.  

Die Gefahr der Expansion durch Hitler bewertete Graf Antal Sigray (1879-1947), der politische Anführer der konservativen Legitimisten (Befürworter der Restauration der Habsburger): „Ich könnte mir keine gefährlichere Entwicklungsmöglichkeit vorstellen, als die Bildung eines 75 Millionen Menschen umfassenden deutschen Reiches, dessen Grenzen nach großdeutschen Vorstellungen bis zur Raab und bis zum Plattensee reichen würden.“ (Nyugatmagyarország, 18. April 1933).

Der nationalistische Radikale Endre Bajcsy-Zsilinszky (1886-1944) schrieb zu dieser Zeit dasselbe: „Für einen Ungarn, für einen Menschen, einen Soldaten kommt die Nazi-Revolution einer Scheußlichkeit gleich.“ (Szabadság, 9. Juli 1933).

Der Publizist, Sándor Pethő (1885-1940) meinte bereits 1932, dass man das Zustandekommen eines pan-germanischen Reiches, dessen Grenzen bis zur Raab reichen und das von dort die kleinen, mitteleuropäischen Ameisenhaufen überrennend im Sinne der ’Drang nach Osten’- Politik seinen Lebensraum bis zum Dnjester und Pontus ausdehnt, verhindern muss. 

Zwischen dem protestantischen Radikalen aus Ostungarn, Bajcsy-Zsilinszky und dem katholischen Legitimisten Graf Sigray aus dem Westungarn hätte kein größerer Unterschied bestehen können. Aber dieser Gegensatz ließ sich leicht durch die heftige Gegenwehr im Kampf gegen die Nazi-Hegemonie überbrücken.

Am Ende ihres Lebens trafen sie sich am 19. März 1944, am Tag der deutschen Besetzung Ungarns, nachdem Bajcsy-Zsilinszky die Gestapo mit der Waffe in der Hand empfing, während Sigray – trotz seines Parlamentsmandats im Oberhaus – aus seinem Haus in der Burg von Buda, einfach verschleppt wurde.

Die Verhafteten wurden zunächst in den Keller des am Donau-Ufer gelegenen Gebäudes der Széchenyi-Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft gebracht und dort gefangen gehalten. Der nationalistisch gesinnte Liberale – während der Herrschaft von Reichsverweser Horthy gab es solche Leute! – Károly Rassay (1886-1958) schrieb in seinen Erinnerungen, dass niemand anderer als Sigray den verwundeten Bajcsy-Zsilinszky mit seinem Mantel zugedeckt hatte: „Antal Sigray gab mit den Augen einen Wink in Richtung des Kellerinneren. Dort lag auf einer Tragbahre der verwundete Bajcsy-Zsilinszky, der dort mit dem gut bekannten Ledermantel von Sigray zugedeckt lag. Da habe ich erst bemerkt, dass Sigray nur mit einer leichten Jacke bekleidet im kalten, feuchten Keller sitzt.“

Das weitere Leben der beiden Widerständler verlief dann ähnlich:

Bajcsy-Zsilinszky erlitt den Märtyrertod an Weihnachten 1944 in Sopronkőhida im Kerker der  Pfeilkreuzler, die als Vasallen der Deutschen wüteten, Sigray wurde nach Mauthausen deportiert.

Doch nach der Befreiung des Lagers hatte er kein Zuhause mehr, denn er hatte eine Ahnung, dass seine Güter von den sowjetischen Kollaborateuren, von den Kommunisten, enteignet worden waren (so war es dann auch). Er starb 1947 in New York an einer Krankheit, die er sich im Lager zugezogen hatte. All das beweist, dass der Molotov-Ribbentrop-Pakt, genauer das Bündnis zwischen Hitler und Stalin, nicht nur in den Dimensionen der Reiche funktionierte, sondern auch auf der Ebene der provinziellen Clone.                                   

Autor, Dr. Márton Békés ist Forschungsdirektor des Museums für Haus des Terrors und Chefredakteur der Zeitschrift „Kommentár“

Deutsche Übersetzung: Dr. Gábor Bayor

„Antidot gegen das deutsche Opium“ ¹ – Eine Paraphrase nach dem Werk von Miklós Zrínyi: „Antidot gegen das türkische Opium“, 1661.

MAGYARUL: https://kontra.hu/bekes-marton-a-nemet-arfium-ellen-valo-orvossag

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