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Mit offenen Augen in Siebenbürgen

4. Juni 2021 Gastbeitrag von RÓBERT LACZKÓ-VASS (Kolozsvár, Siebenbürgen)

Es ist üblich, das multiethnische Siebenbürgen als Schweiz des Ostens“ zu bezeichnen. Die Geographie und die Selbstverwaltungstraditionen der im Karpatenbogen gelegenen Region weisen viele Ähnlichkeiten mit der Alpenrepublik auf, aber ihre ethnische Landkarte wurde im Jahrhundert seit dem Friedensvertrag von Trianon, der zur Aufteilung des historischen Ungarns führte, so neu gezeichnet, dass das Schweizer Beispiel heute utopisch erscheint.

Nur wenige Menschen wissen, dass hier 1568, 30 Jahre vor dem Edikt von Nantes, zum ersten Mal in der Welt religiöse Toleranz verkündet wurde.

Natürlich hat das friedliche Zusammenleben immer seine Widersacher gehabt, wie überall in Europa. So war der österreichische Kaiser, der maßgeblich an der Niederschlagung der Revolution und des Unabhängigkeitskrieges von 1848/49 beteiligt war, so erfolgreich darin, die siebenbürgischen Volksgruppen gegeneinander auszuspielen, dass nationale Gemeinschaften mit ähnlichem Schicksal, aber unterschiedlicher Kultur zu antagonistischen Parteien wurden.

Der Friedensvertrag von Trianon hatte traurige Folgen für die Ungarn in Siebenbürgen, vor allem durch die Assimilierung.

Die ungarische Minderheit begann in Rekordzeit, ihren eigenen Weg zu suchen, doch es fiel den Menschen schwer, sich selbst zu finden, und ihre Entwicklungsmöglichkeiten waren stark eingeschränkt. Das kommunistische Staatssystem nach dem Zweiten Weltkrieg zielte auf die bewusste Assimilierung verschiedener ethnischer Gruppen ab, und die sogenannte „Homogenisierung“ diente in erster Linie diesem Zweck.

Die ethnischen Proportionen der siebenbürgischen Städte wurden durch Massenumsiedlungen unter dem Vorwand der Industrialisierung verändert, und die Mehrheit derjenigen, die aus anderen historischen Regionen kamen, verstand      den Geist und das Wesen des „Transylvanismus“ nicht.

Die Folgen von Trianon kann jeder sehen, der Siebenbürgen mit offenen Augen besucht. Während das Szeklerland  noch ein relativ einheitlich ungarisches ethnisches Bild aufweist, gibt es in Königsboden  kaum noch Sachsen. In den letzten Jahrzehnten des Kommunismus verkaufte das Ceausescu-Regime einige von ihnen gegen ein Kopfgeld an die damalige Bundesrepublik Deutschland. In der Zwischenzeit hat sich in anderen siebenbürgischen Komitaten, vor allem in Südsiebenbürgen, die Assimilierung der ungarischen Gemeinden beschleunigt, und wir können hier meist nur in der Vergangenheitsform von den Ungarn reden, die dort früher einmal gelebt haben. Natürlich ist dies nicht nur das Ergebnis von Trianon, die rasante Zerstörung des baulichen Erbes erfolgte allerdings im 20. Jahrhundert.

Die Burg Vajdahunyad in Siebenbürgen. Bildquelle: Maszol

Die Einschränkungen aufgrund der Coronavirus-Epidemie waren für viele von uns ein Ansporn dazu, in der Heimat zu reisen. Im Komitat Hunyad (Jud.Hunedoara) besuchen die Touristen vor allem das Familiengut des großen ungarischen Renaissancekönigs Mátyás (Matthias) Hunyadi, die Burg  Vajdahunyad (Eisenmarkt; Hunedoara). Es ist ein gut erhaltenes Baudenkmal, so wie auch die Burg im benachbarten Déva (Diemrich; Deva) vorbildlich restauriert wurde, aber die ungarischen Denkmäler in den umliegenden Dörfern – mittelalterliche oder moderne Kirchen, Adelssitze und Schlösser – geben ein bedauerliches Bild ab. Die Burg Deva ist das Thema einer der dramatischsten ungarischen Volksballaden, in der Kőműves Kelemen, der Baumeister und seine elf Gefährten die Frau von Kelemen vergeblich an den Burgmauern bauen, da diese immer wieder einstürzen, und die Aufgabe nur mit einem Blutopfer vollzogen werden kann. Diese Geschichte könnte auch ein Symbol für die Bemühungen der stark dezimierten ungarischen Gemeinschaft in Südsiebenbürgen sein.

Die Ruinen einer imposanten ungarisch-protestantischen Kirche ragen neben der alten orthodoxen Kirche im Dorf Hunyad, das heute vollständig von Rumänen bewohnt wird, in den Himmel. Der freundliche alte Hausmeister der wunderschön restaurierten orthodoxen Kirche erzählte traurig, wie die protestantische Kirche ohne Gemeinde und Priester geblieben war und wie ihre riesige Kirche, auf deren Orgel der damalige ungarische Kantor als Junge Psalmen zu spielen pflegte, zerstört worden war. In weniger als fünfzig Jahren stürzte die Decke ein, das Kirchenschiff wurde von dichtem Gestrüpp überwuchert, und die Spitze des Kirchturms wurde von einem Sturm weggefegt.

Das ist das typische Schicksal von protestantischen oder katholischen Kirchen in Siebenbürgen, die ohne Gemeinde bleiben: Sobald ein Hängeschloss am Haupttor angebracht wird, ist alles verloren, und oft werden unschätzbare Werte zerstört.

Man könnte die Geschichten endlos fortsetzen, was alles in den letzten hundert Jahren an den Rand der endgültigen Zerstörung geraten ist. Ein paar der Beispiele sind besonders auffällig. Die Kirchenburgen der Sachsen sind besonders wertvolle Denkmäler Siebenbürgens, mehrere von ihnen sind als Weltkulturerbe geschützt, doch vor einigen Jahren stürzte aufgrund von Desinteresse und Fahrlässigkeit der 700 Jahre alte Turm der Kirchenburg in Szászveresmart Rothbach (Rotbav, Jud.Brassov) ein. In den Ruinen der sächsisch-evangelischen Kirche in Kiszsolna (Senndorf; Jelna) im Landkreis Beszterce-Naszód wurde in letzter Minute eine zeitgenössische siebenbürgische Nachbildung von Giottos berühmter römischer Navicella gefunden, ähnliche sind nur in Florenz, Pistoia und Straßburg zu sehen. Trotz der verworrenen Eigentumsverhältnisse und der Bürokratie ermöglichen internationale Kooperationen und ungarische Stiftungsgelder den Experten nun, die Reste des Freskos zu rehabilitieren. Die wertvollen mittelalterlichen Freskos an den Wänden der ungarisch-protestantischen Kirche in Kéménd (Chimindia), Komitat Hunyad, mit ihrer eingestürzten Decke wurden vor zwei Jahrzehnten vom Regen praktisch weggespült. Von Studenten aus Kolozsvár (Klausenburg, Cluj-Napoca) vor der totalen Zerstörung gerettet, wurde die Kirche wunderschön restauriert und wird bald in den Kreislauf des Tourismus eingeschaltet.

Ähnlich spektakulär, wenn auch aufgrund mangelnder Ressourcen eher zeitaufwendig, ist die Sanierung des Schlosses Bánffy in Bonchida (Bonisbruck; Bontida), bekannt als das Versailles Siebenbürgens.

Der Zustand des Schlosses Bánffy in Bonchida 2018.

Die Güter und Schlösser der siebenbürgisch-ungarischen Aristokratie wurden im Kommunismus verstaatlicht, in die imposanten Gebäude zogen staatliche Institutionen, aber Geld wurde sehr wenig aufgewendet. Mehrere Besitze konnten in den letzten Jahrzehnten per Gerichtsverfahren zurückgeholt werden, aber

ein großer Teil befindet sich in einem Zustand des permanenten Verfalls, von einer Reihe von Schlössern bleiben nur Ruinen.

Es wäre ein großer beruflicher und gemeinschaftlicher Erfolg, wenn eines oder zwei dieser Gebäude wieder in einen nutzbaren Zustand versetzt würden.Touristen, die in Siebenbürgen unterwegs sind, können in Verbindung mit den verfallenden  Baudenkmälern viele Erzählungen über die menschlichen Schicksale und kommunalen Dramen hören, die sich dort zutrugen.

Der menschliche Kontext der letzten hundert Jahre siebenbürgischer Geschichte erschließt sich am ehesten aus den bedauerlichen Geschichten der Einheimischen.

Dieser Beitrag ist nicht geeignet, die tieferen Zusammenhänge herzustellen, sondern soll lediglich zum Nachdenken anregen.

Eines der dramatischsten Werke der siebenbürgisch-ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist Zoltán Jékelys Gedicht „In der Kirche von Marosszentimre“, in dem er parallel zur Zerstörung einer mittelalterlichen Dorfkirche den Untergang einer Gemeinschaft und einer Kultur voraussieht. Aber als ich im Frühjahr dort war, arbeiteten Archäologen, Zimmerleute und Maurer rund um die Ruinen des historischen Gebäudes: Der symbolträchtige Ort erwacht wieder zum Leben, und das ist eine positive Entwicklung sowohl für die Mehrheitsbevölkerung als auch für die Minderheiten.

Autor, Róbert Laczkó-Vass ist Schauspieler in Kolozsvár

Deutsche Übersetzung von Dr. Gergely Muraközi

Magyarul itt olvasható: 2022plusz.hu

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