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Trianon: Unsere gemeinsame Trauer

4. Juni 2021 Gastbeitrag von ZSUZSA THYSSEN-CIRKL (Bezdan, Vojvodina)

Charles De Gaulle drückte sich 1946 folgendermaßen aus: “Es gab viele unerwartete Ereignisse in dem dreißigjährigen Kriegsdrama, das mit unserem Sieg geendet hat.” Auch die meisten Historiker betrachten den Zeitraum zwischen den zwei Weltkriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als nichts, weiter als eine Waffenruhe vor der unvermeidlichen Fortsetzung.

Die erzwungene Friedensordnung durch die 1919 im Umland von Paris entstandenen Friedensverträge und schlecht durchdachte Entscheidungen beschworen den zweiten Weltkrieg als Folge geradezu herauf.

Das am 4. Juni 1920 in Trianon, im Schloss der französischen Könige unterzeichnete Friedensdiktat entzog Ungarn zwei Drittel der seit tausend Jahren ihm gehörenden Gebiete, gleichzeitig zwang es den dazu proportionalen Teil seiner Bevölkerung in ein Minderheitendasein, größtenteils unter der Herrschaft von Nachbarländern und -völkern, die in der Welt nicht unbedingt für ihre Gerechtigkeit bekannt waren. Über die Folgen ließe sich lange sprechen: Die Muttersprache konnte nicht mehr gesprochen und die eigene Kultur nicht mehr ausgelebt werden, fast alle seit Jahrhunderten gut funktionierenden Institutionen wurden von den Ordnungskräften verboten, Besitz wurde beschlagnahmt, Menschen wurden umgesiedelt usw.

Sämtliche Maßnahmen verstießen gegen die im Friedensvertrag von Trianon festgelegten Regelungen.

Ungarn verlor zudem sein fruchtbarstes landwirtschaftliches Gebiet, das zuvor als Kornkammer des Landes gegolten hatte. Die serbischen Machthaber schlossen der größtenteils von Ungarn und Deutschen bewohnten Vojvodina, die nun zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gehörte, bei der Aufteilung in Landkreise auch nördliche Regionen Serbiens an. Dadurch wurden die ethnischen Verhältnisse verändert, was der Friedensvertrag eigentlich eindeutig untersagte. Leider beschäftigten sich die Mächte, die die Zerteilung des Landes angeordnet hatten, mit derlei ungerechten Vorgehensweisen kaum noch.

Kein Wunder, schließlich bereiteten sie sich schon auf den zweiten Weltkrieg vor!

Mit anderthalb Millionen Euro hat Ungarn die Sanierung der historischen Synagoge von Szabadka (Maria-Theresiopel, Subotica) unterstützt (2017) Biéldquelle: Vajdasági Magyar Szövetség

Die nicht-slawische Bevölkerung in der Vojvodina erlebte ihre schmerzhaftesten, bis heute nicht überwundenen Verluste im Zeitraum vom Herbst 1944 bis Sommer 1948. Jede einzelne ungarische oder deutsche Familie trug Trauer, vorausgesetzt, es war von ihr noch jemand übrig geblieben, der trauern konnte.

Von Frühjahr 1941 bis Herbst 1944 hatte Ungarn seine durch das Friedensdiktat von Trianon verlorenen südlichen Gebiete zurückgewonnen. Deren erneuter Verlust wurde im Herbst 1944 offensichtlich, und dieses Mal nahm die neu entstehende Regierung des aus der Monarchie zur Republik umgeformten Jugoslawiens, mit Josip Broz Tito an der Spitze, ihre Rache sehr ernst. Am 21. November dieses Jahres traf der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens (AVNOJ) einen eindeutigen Beschluss.

Durch diesen wurden die in der Vojvodina lebenden Deutschen, also mehr als eine halbe Million Menschen, für kollektiv schuldig erklärt und vollständig enteignet. Gleiches galt für drei ungarische Gemeinden. Damit begann ein Blutvergießen, das den Begriff des Kriegsverbrechens bei Weitem erschöpft.

Diejenigen, die die ungarischen und deutschen Bewohner der Region nach dem ersten Weltkrieg noch am Leben gelassen hatten, wollten nicht noch einmal ein Risiko eingehen. Die Geschehnisse können mit Sicherheit als indirekte Folge des Vertrags von Trianon betrachtet werden. Die ungarische Bevölkerung der Vojvodina erwartet zu Recht Verständnis und Mitgefühl seitens des deutschen Volkes, denn wir hier fühlten und fühlen auch mit Deutschen mit, die am Ende des 18. Jahrhunderts aus Baden-Württemberg, dem Elsass, der Pfalz, Hessen und dem Saarland hierher umgesiedelt und vom Regime Titos fast vollkommen ausgerottet wurden.

Da dies in den deutschsprachigen Medien und im deutschen Schulwesen nicht thematisiert wird, möchten wir hier kurz zusammenfassen, was sich eigentlich zugetragen hat.

Im Oktober und November 1944 flüchteten fast 240 000 Deutsche aus der Vojvodina, ihren gesamten Besitz ließen sie dabei zurück, er wurde freie Beute. Sie versuchten ihr Leben zu retten. Die meisten von ihnen fuhren mit dem Schiff nach Südamerika und bis heute weiß man nicht, wie viele von ihnen dort an Land gingen und ein neues Leben beginnen konnten.

Die in der Vojvodina verbliebenen 260 000 Deutschen wurden, mit sehr wenigen Ausnahmen, von den Partisanen in Sammellager getrieben. Über Nacht wurden viele deutsche Dörfer mit Stacheldraht umzäunt, dorthin wurden auch die Bewohner der Nachbardörfer gebracht.

Es entstanden 30 Sammellager für Deutsche in der Batschka, 43 im Banat und 9 in Syrmien, in der benachbarten Teilrepublik Kroatien sind 9 Lager bekannt. Infolge der unmenschlichen Verhältnisse und körperlichen Peinigung starben etwa 100 000 Menschen, und auch das Überleben war kein dankbares Schicksal. Laut der Daten des Innenministeriums der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien waren am 18. Januar 1946 in Jugoslawien 117 485 sogenannte Volksdeutsche in Gefangenschaft, und nur 12 897 Deutsche lebten in Freiheit.

Das letzte Lager, in Gakowa (serbisch Gakovo), wurde 1948 aufgelöst!

Wie viel Zeit war seit dem Ende des Krieges bereits vergangen?! In Gakowa waren mehr als 8000 Deutsche den Torturen des Lagers erlegen, im vier Kilometer entfernten Kruschiwel (serbisch Kruševlje) mehr als 5000. In diese zwei Lager hatte man Frauen, Kinder und Alte verschleppt. Hier waren auch meine Urgroßeltern väterlicherseits gefangen. Nach ihrer Freilassung verboten sie, wie viele andere, den Gebrauch der deutschen Sprache in ihrer Familie, da sie es für lebensgefährlich hielten, ihre Identität zu offen zu zeigen.

Erwiesenermaßen unterstützten mehr als 90 Prozent der Deutschen in der Vojvodina Hitlers Politik nicht, die meisten stellten sich sogar offen dagegen, womit sie ihr Leben riskierten.

Der gesamte Besitz der Deutschen, ihre Felder, Häuser, Werkstätten, Schlachthöfe und Fabriken, wurde beschlagnahmt. In ihre Häuser siedelte Tito die Armen aus dem weniger entwickelten südlichen Teil das Landes um, großzügig schenkte er ihnen alles, wofür mehrere Generationen geschuftet hatten.

Von 500 000 Deutschen bleiben heute kaum mehr als 3000, und nur wenige von ihnen sprechen noch die Muttersprache.

Sicher, Jugoslawien und der in den Augen der Welt bis heute hoch angesehene Marschall Tito können nicht mit einer halben Million Deutscher und vierzigtausend Ungarn abgerechnet haben. Deswegen bedeutet Trianon für uns Deutsche und Ungarn aus der Vojvodina gleichermaßen Trauer!

Autorin, Zsuzsa Thyssen Cirkl war Journalistin in Vojvodina

Deutsche Übersetzung von Sophia Matteikat

Magyarul itt olvasható: 2022plusz.hu

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