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Was ist das Problem mit uns? Was ist das Problem mit euch?

10. Dezember, 2020, MANDINER – von Pál Fodor

Ich denke, dass ihr Intellektuellen in Westeuropa und die mit euch eng verflochtenen Akademiker in Nordamerika zunehmend Probleme mit Ungarn und Polen, aber auch mit fast ganz Mitteleuropa habt. Ich möchte von Anfang an klarstellen, dass dieses Gefühl gegenseitig ist, wir haben auch immer mehr Probleme mit euch.

Schuldbewusstsein und Sündenbocksuche

Viele von uns hierzulande sehen es so, dass Schuldbewusstsein eins der bestimmenden Merkmale und Eigenschaften der westlichen Intelligenz geworden ist. Schuld wegen Nationalismus, Nazismus, Schuld am Kolonialismus, Sklaverei, Verbrechen, die unter anderem von weißen Männern begangen wurden. Was ihr auch immer gebetsmühlenartig wiederholt – Meinungs- und Pressefreiheit, die Situation der Menschenrechte oder irgendetwas anderes – hinter all euren Manifestationen scheint dieses Schuldbewusstsein zu stecken. Im letzten halben Jahrhundert habt ihr dies zum wichtigsten „europäischen Wert“ auserkoren. Aber es ist schwer und unbequem mit ihm zusammen zu leben, also seid ihr bestrebt, mehr und mehr von eurer Verantwortung auf andere abzuwälzen, zu teilen und zu delegieren, auf solche, die wenig damit zu tun haben. Deshalb fühlt es sich für euch so angenehm an, ständig nach einem Sündenbock zu suchen. Deswegen werft ihr Ungarn, Polen oder anderen die Unterdrückung von Juden und Zigeunern vor, und deswegen erklärt ihr diejenigen, die es wagen, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, sofort zu Chauvinisten. Natürlich interessiert es euch nicht im Geringsten, dass die Zigeuner in Ungarn die beste Situation in ganz Europa inne haben; Zigeuner in Frankreich würden vor Freude tanzen, wenn sie ein Zehntel so viele Rechte und staatliche Zuwendungen wie ihre ungarischen Kollegen hätten. Hätte sich eine Gemeinde in Ungarn getraut, sich nur ein Zehntel dessen zu erlauben, was ein Franzose oder Italiener ohne weiteres tun könnte, wären wir längst aus der EU ausgeschlossen worden.

Krieg auf Kosten anderer

Schuld und universelle Verantwortung als europäische Werte sind auch geeignet, Buße und Entschädigung von denen zu erwarten, die nichts, aber auch gar nichts mit diesen Verbrechen zu tun haben. Die Migrationskrise ist das beste Beispiel. Ihr habt laut, sogar zunehmend wütend den Einlass der armen „Flüchtlinge„, die Einführung von Flüchtlingsquoten gefordert, und ihr habt von morgens bis abends über die gemeinsame Lastenteilung gepredigt. Im Prinzip wäre das auch in Ordnung, aber ihr habt etwas Wichtiges vergessen: Zuallererst sollte man vielleicht die tatsächliche Verantwortung für die Entstehung dieser fürchterlichen Situation feststellen. Wer hat den Krieg in Afghanistan begonnen und warum? Wer hat den Krieg im Irak begonnen und warum? Wer hat und warum wurde das verrückte Spiel angefangen, das zur Zerstörung Syriens führte? Wer hat auf die Art politisiert, dass ein Islamischer Staat aus dem Boden gestampft werden konnte? Wer hat warum Libyen zerschlagen und damit den letzten Damm aus dem Weg reisebereiter afrikanischer Menschenmassen geräumt? Warum, für wen musste die Ukraine in ein Kriegsgebiet verwandelt werden? Die Antwort ist nicht einfach, aber eins ist sicher: Es waren nicht wir, die neu beigetretenen Länder, die über den „bewaffneten Export der Demokratie„, diese neueste und sehr problematische Version des Orientalismus, entschieden haben. Wir sind bloß in diese Abenteuer, die uns schon jetzt viel zu viel kosten, hineingezwungen worden. Ich empfehle euch daher, von uns erst dann Solidarität zu verlangen, nachdem die Vereinigten Staaten, Frankreich, England und andere über die Ursachen dieser bewaffneten Konflikte Rechenschaft ablegen und sich für das entstandene globale Chaos zumindest halbwegs entschuldigen. Mit der militärischen Präsenz in Afghanistan, Irak, Bosnien und der obligatorischen Unterstützung der fürchterlichen Ukrainer – sie sind viel schlimmer als die Russen – zahlen wir ständig den Preis für westliche Missetaten, mit denen wir nichts zu tun haben. Ihr führt Krieg auf Kosten anderer, ohne diese zu fragen, und dann verlangt ihr wütend finanzielle Unterstützung von ihnen. Und wenn wir hier in Mitteleuropa deswegen murren, wird uns kurzerhand der Stempel von Populismus, Nationalismus und Antisolidarität aufgedrückt.

Keine Reue für den neuen Kolonialismus

Ihr lebt in ständiger Reue für den Kolonialismus, aber ihr habt überhaupt keine Reue dafür, dass ihr uns nach 1990 völlig überrannt und uns zu eurer Kolonie gemacht habt. Wir haben nach 50 Jahren Kommunismus, was wir auch euch zu verdanken haben – siehe das schmutzige Geschäft des alten Churchill in Moskau mit Stalin 1944 und das im Stich lassen Ungarns 1956 –, unsere natürlichen und bis dahin bestehenden Abwehrreflexe verloren. Als die Kommunisten zum Zeitpunkt der sogenannten Wende scheiterten, verstanden wir zunächst nicht, warum unsere gescheiterten Kommunisten sofort eure Lieblinge geworden sind. Heute verstehen wir es besser: sie haben sich schon immer gerne angepasst und waren glücklich, den Besitzer wechseln zu können (früher Moskau, jetzt ziehen sie zu euch), weil sie sich nie wirklich mit ihrem eigenen Volk verstanden haben. Deshalb haben sie, in dem sie ihre verbliebenen Wirtschafts- und Machtpositionen ausnutzten, unsere Länder an euch, eure multinationalen Konzerne für einen Appel und ein Ei verkauft, und uns ohne Produktionsmittel den eisernen Gesetze des „freien Marktes“ ausgeliefert.

 Warum fühlt ihr euch nicht schuldig, ein Europa zu schaffen, in dem wir die billige Lohnarbeit verrichten müssen, während eure Unternehmen immer fetter werden? Wo die Länder, die später beigetreten sind, als Mülldeponien genutzt werden? Wo für uns Konsumgüter und Lebensmittel nachgewiesenermaßen in minderer Qualität produziert und verkauft werden? Ihr redet ständig von Solidarität, aber alle schweigen darüber und niemand beginnt eine Pressekampagne, dass ihr unsere Ressourcen tatsächlich auf koloniale Art und Weise aussaugt. Wer redet, wer führt in der EU eine öffentliche Debatte darüber, dass ihr uns die Fachkräfte, die mit enormen Ausgaben ausgebildet wurden, mit euren hohen Löhnen, mit den bewussten und mit aller Kraft erhaltenen Lohnschere massenhaft wegnehmt, was uns ein riesiges Bevölkerungsdefizit verursacht und uns unsere Reproduktionsfähigkeit nimmt? Ich hoffe, niemand wagt es zu sagen, dass wir daran selbst schuldig wären…

Preis der verpfuschten Politik

Mit anderen Worten, ihr lässt uns stark für eure verpfuschte Politik bezahlen, haltet uns in vielerlei Hinsicht in kolonialer Lage, zapft ständig unsere mit enormem Aufwand erhaltenen Ressourcen an. Im Gegenzug werden wir auf vielerlei Arten durch verschiedene Vorwände kulpabilisiert. Dass eure Staaten und die multinationalen Konzerne, denen sie dienen, genau das tun, verstehen wir auch dann, wenn wir es nicht akzeptieren können. Sie tun nur das, was sie immer tun, und uns sind die Machtverhältnisse sehr wohl bewusst. Quod licet jovi, non licet bovi… Aber dass die bis ins Mark demokratischen und für die Verteidigung der europäischen Werte ständig kampfbereiten Akademiker, und die akademische Welt im Westen dasselbe tun, ist für uns unverständlich und unermesslich beleidigend. Ich frage noch einmal: Warum sollten wir mehrmals und ständig zahlen, weil Belgier, Engländer, Franzosen, Italiener und andere Nationen in der Vergangenheit schreckliche Dinge im Nahen Osten, in Afrika und anderswo begangen haben? Warum sollten wir für die Fehleinschätzungen bezahlen, die die „entwickelten Länder“ und ihre Regierungen in der näheren Vergangenheit taten?

Geschichte als Instrument zur Solidarität und zum Verständnis

Oft, heutzutage fast täglich, wirft man uns an den Kopf, dass wir nicht nur für Subventionen Schlange stehen, sondern auch unseren Teil von der Last tragen sollen. Doch wie ich zu schildern versucht habe, haben wir bereits sehr viel finanziell und sozial weit über unsere Kräfte hinaus auf dem Altar eines gemeinsamen Europas geopfert. Aber ihr wollt nichts davon wissen, sondern ihr wollt die Folgen eurer eigenen Wahnvorstellungen mit uns teilen. Gerade im Namen der für uns auch grundsätzlich wichtigen Solidarität erwarten viele in dieser Region, dass ihr mit diesem zunehmend aggressiven herablassenden Verhalten aufhört. Die Erforschung der Geschichte Europas als Ganzes wäre ein gutes Instrument zur Solidarität und zum Verständnis. Vielleicht werdet ihr dann erkennen, was wir schon lange wissen: dass all die Schrecken des 20. Jahrhunderts, all die Ismen, die zur Katastrophe geführt haben, die Vernichtung von Millionen von Menschen, allesamt von euch gekommen sind. Im Mittelalter die antijüdische Pogrome, moderner Kolonialismus, nationaler Chauvinismus, Guillotine als Mittel zur Beilegung politischer Differenzen, die schreckliche Ideen von Marxismus, Faschismus, Nazismus und einer allzu freizügigen, permissiven Gesellschaft, die uns langsam die Möglichkeit nehmen, unsere Kinder gesund zu erziehen und zu entwickeln.

Das sind alles Produkte eurer fortschrittlichen, an vorderster Front orientierten, äußerst demokratischen Länder. Ihr könnt stolz auf sie sein. Erinnert ihr euch noch daran, wie Hitler in Wien empfangen wurde? Ich hoffe es: mit euphorischem Jubel. Wisst ihr, wie die einmarschierenden deutschen Truppen in Budapest begrüßt wurden? Natürlich weiß man das nicht: Mit eisernem Schweigen! Und nachdem ihr das Monster, den Nazismus, an die Macht gebracht habt, dann seid ihr mit dem anderen, dem kommunistischen Monster übereingekommen, um das erstere zu vernichten, und uns habt ihr zuerst in die Arme des einen und dann in die des anderen geworfen. Und jetzt wundert ihr euch, oder noch mehr schaut ihr auf uns herab, wie unterentwickelt und unreif wir nach all den Jahren sind, nachdem alles, was bei uns bürgerlich und euch ähnlich gewesen ist, von euren kommunistischen Freunden ausgelöscht wurde. Wie groß das Ausmaß des Schadens ist, nur ein Beispiel: Zwischen den beiden Weltkriegen waren die meisten Wirtschaftsdaten und die sozialen Indikatoren Ungarns besser als die von Österreich, aber als der Sozialismus zusammenbrach, war Österreich 30 Jahre vor uns.

Im Namen der ehrenwerten alten europäischen Werte

Ihr westlichen Intellektuelle scheint den Kommunismus mit dem Mäntelchen der wohltuenden Vergessenheit bedeckt zu haben. Wir erwarteten, dass solche und ähnliche ideologische Verrücktheiten endgültig verschwinden und sich mit den Russen zusammen aus unseren Ländern zurückziehen, und jetzt wollt gerade ihr, die noch nie unter diesen Verhältnissen gelebt habt, uns die Richtung weisen. In der Zwischenzeit seid ihr alle Kommunisten geworden, aber auf eine etwas andere Art und Weise: Anstelle des wirtschaftlichen Marxismus wollt ihr uns den Kulturmarxismus überstülpen, in der Wirklichkeit genau dasselbe, was uns hier in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verkrüppelt hat. Ihr verhält euch genauso, wie unsere guten alten Marxisten: Ideologie kontrolliert all eure Gedanken und eure Handlungen und ihr seid genau so aggressiv, wie sie waren. Der einzige Unterschied, wenn auch nicht groß, ist: Unsere alten Marxisten wollten uns im Namen der Gesellschaft ihre ideologischen Albträume aufzwingen, ihr bezieht euch auf individuelle Freiheiten und alle möglichen aggressiven Minderheiten.

Wenn ihr schon die Schuld zu einer Voraussetzung für politische Korrektheit gemacht habt, ist es höchste Zeit, dass ihr so etwas auch uns gegenüber gelten lässt: Seid endlich einmal auf unsere Gefühle und Bedürfnisse bedacht. Es ist an der Zeit, dass ihr euer mit nichts zu rechtfertigendes Überlegenheitsverhalten einstellt, denn das erinnert zunehmend wieder an die Welt der Inquisitoren und Zensoren. Im Namen der ehrenwerten alten europäischen Werte, die wir treu bewahren, verspreche ich: Wenn ihr das tut, werden wir euch wieder im wahren Europa willkommen heißen.

Der Autor ist Historiker

Original: https://mandiner.hu/cikk/20201209_mi_a_baj_velunk_mi_a_baj_veletek.  Aus dem Ungarischen: Andrea Martin

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