12. Februar, 2021 von IRÉN RAB
Wir haben hundertfünfzig gemeinsame Wörter! – begeisterte sich der finnische Gevattersmann, als er erfuhr, dass wir Ungarn sind.
Er zog seinen Stuhl im Café sofort zu uns, und er hätte gerne ein Gläschen Wodka für uns alle bestellt, aber soetwas wird vormittags an Wochentagen in Helsinki nicht mal in einer Kneipe serviert. Wir waren nicht so begeistert wie unsere entfernten Sprachverwandten. Gott weiß warum, aber wir Ungarn sind in der Regel nicht begeistert von der finnougrischen Verwandtschaft. Obwohl wir in der Schule den Beweis für diese Verwandtschaft lernen und noch viel mehr gemeinsame Wörter kennen, sind wir eher stolz auf die Einzigartigkeit und große Einsamkeit unserer Sprache. Wir verstehen weder die Sprache noch die Mentalität der „Verwandten“, beide sind sehr weit von uns entfernt.
All dies ist mir eingefallen, weil wir unlängst den 251. Jahrestag der dreiteiligen Lesung von Demonstratio (Demonstratio idioma Ungarorum et Lapponum idem esse 1770) in der Dänischen Akademie der Wissenschaften durch den Jesuitenmönch János Sajnovics über die Einerleiheit der ungarischen und lappischen Sprachen gefeiert haben. Sajnovics wurde umgehend zum Mitglied der Dänischen Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen und der Norwegischen Akademie der Wissenschaften in Trondheim gewählt. Die Abhandlung wurde in Kopenhagen sofort veröffentlicht und in die wissenschaftliche Welt herausgeschickt.
Die Skandinavier und die Deutschen freuten sich, dass ihre seit einiger Zeit aufgestellte, bis dato unbewiesene These über das Identischsein der Sprache der Lappen und der von Ungarn endlich bewiesen werden konnte, sie selbst waren dazu nicht in der Lage, da sie weder die Lapp-Sprachen noch Ungarisch verstehen konnten. Auch der König von Dänemark freute sich, denn als aufgeklärter Herrscher interessierte er sich sehr für das Schicksal der Lappen jenseits des weit entfernten Polarkreises in seinem Reich und er wollte ihnen ein Geschenk der Identität und des Schriftttums überreichen.
Alle waren glücklich, nur wir Ungarn nicht. Sajnovics wurde zu Hause in Ungarn ziemlich feindlich empfangen, und obwohl das Demonstratio 1770 in Nagyszombat (heute Trnava, Slovakei) erneut verlegt wurde, zog die Öffentlichkeit schnell darüber hinweg. Wie sie damals sagten, „niemand wollte eine nach Fisch riechende Verwandtschaft”. Sie versuchten es deswegen zu vergessen, weil die Mythen der Zeit alle wesentlich attraktiver waren: die Skythen, die Hunnen und die (sprachliche) Verwandtschaft mit Gottes auserwähltem Volk, dem Judentum, passten eher zum ungarisch-romantischen Selbstbild. Nur einige der Linguisten hielten am Finnougrischen fest und fochten ihren Krieg mit den Wissenschaftlern der türkisch-skythischen Seite aus. Der Krieg wurde von den Finnougrischen gewonnen, der letzte Frieden wurde vor der Ungarischen Akademie der Wissenschaften geschlossen, sie haben das letzte Wort gehabt und unsere Sprache hat sich als finnougrisch eingebürgert.
Viele sahen darin allerdings eine demütigende „Beleidigung des Selbstwertgefühls einer heroischen Nation“ und vermuteten fremde Machtinteressen. Bis heute sind diese Gedanken nicht verschwunden und immer wieder tauchen verschiedene Theorien auf, von einer Sumer-Verwandtschaft über die Etrusken bis hin zu Maya und Maori, und es gibt Hochschulen, die ihren Schülern die Dämmerung der finnougrischen Welt unterrichten.
Das Demonstratio, der Beweis der ungarischen Sprachidentität mit den Lappischen, war nur ein Nebenprodukt eines großen astronomischen Projekts, wozu zwei ungarische Jesuitengelehrte vom König von Dänemark aufgefordert wurden. Es war bekannt, dass am 3. Juni 1769 die Venus vor der Sonne vorbeizieht und dieses Phänomen tritt maximal zweimal in einem Jahrhundert auf. Bei erfolgreicher Beobachtung konnte man aus dem Ergebnis endlich die Erd-Sonne-Entfernung genau berechnen, eine wichtige Basis für astronomische Messungen. Die Verantwortlichen waren renommierte Astronomen, Miksa Hell damals Leiter des Königlichen Observatoriums in Wien, und sein Kollege J. Sajnovics, ein Mathematiker. Der Venus-Transit musste am nordöstlichsten Punkt Skandinaviens auf der Insel Vardø beobachtet werden.
Die 4000 Kilometer lange Fahrt von Wien nach Vardø dauerte sechs Monate und verursachte „unbeschreibliche Qualen“. Auf Postkutschen, in Pferdewägen, auf Karren, auf steilen felsigen, kaum begehbaren Straßen und dann auf einem zerbrechlichen kleinen Segelboot auf ständig tosendem Meer, entlang der Fjorde, jenseits des Polarkreises führte der Weg. Die Insel Vardø war ein Außenposten im Arktischen Ozean nahe der russischen Grenze.
Für mitteleuropäische Augen war dieses eisige Düsternis, der Mangel an Bäumen und Ackerland schier unglaublich. „Es gibt keine Anzeichen für ein Dorf wie das unsere. Häuser im Boden versunken, mit Rinde bedeckt, nicht mal Hafer wird hier reif, ein Volk im Elend“, schrieb Sajnovics in sein Tagebuch.
Der Venustransit mag das erste große weltweite wissenschaftliche Experiment gewesen sein: Siebenundsiebzig Orte auf der Erde haben versucht, das Phänomen zu verfolgen, aber aufgrund der Wetterbedingungen ist das nur an sehr wenigen Orten gelungen. Kapitän Cook auf Tahiti hatte kein Glück, die andere englische Expedition am Nordkap auch nicht, obwohl es ihnen nicht an Unterstützung oder Ausrüstung mangelte. Die britische Fregatte mit 200 Mann Besatzung erreichte den gewählten Punkt in zehn Tagen, aber wegen des Nebels konnte nichts beobachtet werden. Die Russen richteten an fünf Orten Überwachungsstationen ein, aber sie funktionierten nicht, auch die von den Schweden nicht. Im Norden gelang nur der zweiköpfigen ungarischen Expedition die Beobachtung. Obwohl der Himmel auch dort von dunklen Wolken bedeckt war und die Sonne nur von Zeit zu Zeit auftauchte, leuchtete sie immer dann in vollem Licht, wenn es für die Beobachtung gerade wichtig war. Diese beiden ungarischen Astronomen erlebten das alles wie ein Wunder und sahen darin die Gnade Gottes.
Neben dem Durchgang der Venus wurden eine große Anzahl weiterer wissenschaftlicher Beobachtungen durchgeführt. Siebzig noch unbekannte Sterne wurden aufgezeichnet. Die Verfahren zur Bestimmung der geographischen Länge wurden verbessert, sie korrigierten Fehler in skandinavischen Karten und zeichneten sogar eine Karte von Nordnorwegen. „Weil es noch keine gute Karte von diesem Gebiet gibt“, schrieb Sajnovics. Sie beobachteten die Polarlichter, Veränderungen des Meeresspiegels und machten Polhöhenmessungen. Die ersten länger dauernden meteorologischen Studien, die in einem Gebiet nördlich des Polarkreises durchgeführt wurden, tragen auch ihre Namen. Sie bauten ein Observatorium, sammelten Pflanzen, sezierten Tiere. Sie verbrachten achteinhalb Monate auf der Insel Vardø, zwei Monate in völliger Dunkelheit ohne Sonnenlicht. Die Einheimischen verstanden den Fleiß und die Arbeitsamkeit der Ungarn, die vielen abgebrannten Kerzen, ihr Maßhalten und ihre Moral nicht. Aus Dankbarkeit wurde jedoch eine Gedenktafel an der Wand der Sternwarte aufgestellt, die dort noch heute zu sehen ist. Das kollektive skandinavische Gedächtnis ist nicht mehr so dankbar, das norwegische Lexikon widmet den beiden ungarischen Wissenschaftlern nur noch wenige Zeilen.
Die Ergebnisse der auf der Insel durchgeführten Forschung trug Miksa Hell viele Wochen lang bei den wöchentlichen Treffen der Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen vor. Als ihm der Text ausging, fragte der Vorsitzende der Akademie auch Sajnovics, ob er ebenso einen Vortrag halten möge. „Da es am nächsten Freitag niemanden gab, der einen Vortrag gehalten hätte, wurde ich gebeten, es zu tun“, schrieb er bescheiden in sein Tagebuch. Dann trug er in drei Wochen seine auf mathematischer und sprachlicher Logik basierende Erklärung über die Identität der ungarischen und der lappischen Sprachen vor. Eine Woche später brachte eine Hamburger Zeitung die große Nachricht: Sajnovics „sprach auf Vardø mit ein paar Finnen, die ihn weitgehend verstanden haben“. Den Rest kennen wir schon.
Das in Latein verfasste Demonstratio gilt als das Grundwerk der finnougrischen Linguistik, wurde nach den beiden Ausgaben 1770 allerdings 200 Jahre lang nicht mehr veröffentlicht. In 1972 erschien es in deutscher Sprache und auf die ungarische Ausgabe musste man bis 1994 warten. Das hier mehrfach zitierte Manuskript des Sajnovics-Tagebuchs befindet sich im Observatorium der Wiener Universität und wurde nur 1990 ins Ungarische übersetzt. Dennoch ist das Tagebuch ein ausgezeichneter Reisebericht, eine großartige, zuverlässige Beschreibung einer wenig bekannten Welt durch einen guten Beobachter. Es zeigt auch, dass die beiden entgegen der offiziellen Erzählung kaum die Gelegenheit hatten, echte Lappen zu treffen, weil diese eher im Binnenland lebten und in den Bergen wanderten. Vielmehr haben sie nur von den Missionaren, Kaufleuten einiges gehört und in geschenkten Büchern gelesen, in welchen Sajnovics in seiner Freizeit blätterte.
„Unsere andere Entdeckung ist viel schöner, sie deckt fast ganz Europa ab und für Ungarn ist es sehr nah, und wir halten es für so wichtig, dass wir es geheim halten, bisher haben wir es nur Seiner Majestät, dem König von Dänemark, mitgeteilt“ lesen wir in einem Brief an seine Jesuitenkollegen. Tatsächlich gibt es im Tagebuch über die Beobachtung und das Studium der Sprachidentität nichts zu erkennen bis sie nach Kopenhagen zurückgekehrt sind. Auch war es vermutlich nicht Aufgabe der Mission, Beweise für eine angenommene Sprachverbindung zu sammeln. Wenn ja, stellt sich die Frage: Warum hat er darüber nichts in seinem ausführlichen, umfassenden Tagebuch geschrieben? Vielleicht gab es eine geheime Mission, die weder im Tagebuch noch in den Briefen erwähnt werden sollte? Warum hat der dänische König nicht den führenden Astronomen am Dänischen Königlichen Observatorium, sondern die beiden Jesuitenpater nach Vardø geschickt? Was war der eigentliche Zweck dieser Mission?
All diese Fragen können vielleicht eines Tages beantwortet werden. Bis dahin bleibt die Beobachtung des Venustransits als unbestreitbarer Ruhm, den die beiden vollständig und vollkommen mitbekommen konnten. Auch das hätte man kritisieren können, wenn der Wind die dunklen Wolken nicht weggeblasen hätte: „Oh, welch bitterem Spott wäre unser Unternehmen ausgesetzt gewesen, wenn diese nautische Expedition, um die wir von so vielen beneidet worden sind, nicht ihr Hauptziel erreicht hätte!“ Verbale Aggression scheint kein Phänomen von heute zu sein, Neid, bitterer Spott, Hassrede scheint eine Art Hungaricum zu sein, auch über die Jahrhunderte hinweg.
Der Text in ungarischer Sprache: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20200204-halszagu-rokonsag