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Variationen auf eingefrorene Geldmittel und EU-Werte

17. Dezember 2022 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

Als ob am Montagabend nichts geschehen wäre auf dem Treffen in Brüssel, als ob es keine gültige Vereinbarung, als ob es keine für Ungarn günstige Entscheidung gegeben hätte. Das ist wahrscheinlich nicht das, was die Mainstream-Presse erwartet hat, denn sie hat ihr Möglichstes getan, um sicherzustellen, dass uns die EU-Bürokraten die uns rechtmäßig zustehenden EU-Finanzmittel vom Wiederaufbaufonds bis hin zu den vertragsgemäß fälligen Zahlungen aus dem Kohäsionsfonds vorenthalten. Die Schlagzeilen in den deutschen Medien am Dienstag drehten sich darum, wie sehr Ungarn bestraft wurde, dass es trotz aller Taktik auf 6,3 Milliarden EU-Gelder verzichten musste, dass die Mitgliedsstaaten einstimmig für das Einfrieren der Gelder waren, dass die EU gezeigt hatte, dass sie sich nicht länger für dumm verkaufen lässt. Außerdem hat Orbán kein Veto eingelegt, das Geld kann in die Ukraine fließen und die globale Mindeststeuer für Unternehmen kann endlich vereinheitlicht werden. Kurzum, es herrscht große Freude darüber, dass der Rechtsstaat gesiegt hat und die europäischen Werte sich durchgesetzt haben.

Ich bin seit langem der Meinung, dass wir in Parallelwelten leben und denken. Wenn das, was die deutschen Medien jubeln, stimmen würde, dann gäbe es tatsächlich ein großes Problem. Dies ist nämlich das erste Mal in der langen Geschichte der EU, dass

die Mitgliedstaaten gemeinsam eines ihrer eigenen Mitglieder finanziell zur Verantwortung ziehen und jemanden für verfassungsrechtliche Mängel oder Gott weiß warum bestrafen.

Denn verfassungsrechtliche Defizite, Korruption, rechtsstaatliche Defizite, wenn man ein wenig an der Oberfläche kratzt, gibt es in jedem Mitgliedstaat und sogar – wie wir in letzter Zeit ganz konkret gesehen haben – auch im Europäischen Parlament! Wer nicht im Gleichschritt marschiert, bei dem kann der Mechanismus des Geldentzugs jederzeit angewendet werden, weil es bereits einen Präzedenzfall dafür gibt.

Ungarn sollte bestraft werden, weil dort eine konservative Regierung mit patriotischer Gesinnung an der Macht ist. In den letzten zwölf Jahren hat man vieles probiert, und seit kurzem gehört auch die finanzielle Erpressung zum Repertoire. Wir geben kein Geld, daraufhin stürzt die Orbán-Regierung. Mündlich hat man uns nun Geld gegeben, man hat den, – übrigens für ausgezeichnet gehaltenen – Sanierungsplan akzeptiert, aber wer weiß, wann die 5,8 Milliarden Euro, die seit anderthalb Jahren zurückgehalten werden, in die Staatskasse fließen werden. Dies gilt auch für die eingefrorenen Kohäsionsmittel. Wann werden sie freigegeben und wann werden die fast 6 Milliarden Euro, die nicht eingefroren wurden, ausgezahlt? Wie viele weitere Meilensteine werden zu den derzeitigen siebenundzwanzig noch hinzukommen? Bis wir in Brüssel ankommen? Bis sie uns dazu bringen, unsere Verwaltung, Justiz und andere demokratische Säulen nach ihrem Vorbild umzugestalten? Oder bis zum Sturz der Orbán-Regierung? Ich weiß, man hat uns Garantien gegeben. Aber das gegebene Wort, die Einlösung von Garantien, gilt nur unter Gentlemen. Und in Brüssel gibt es leider nur vereinzelt Gentlemen.

In Brüssel wurde ein kompliziertes Deal ausgehandelt, ein komplexer, manchmal undurchsichtiger Prozess. Mich interessierte die finanzielle Unterstützung für die Ukraine. Seit Wochen wird kommuniziert, dass Ungarn 18 Milliarden Euro für die Ukraine blockiere und sich weigere, dem Land im Krieg zu helfen. Ungarn nutze das Veto als Mittel der Erpressung, um endlich sein  –  im Übrigen „zu Recht einbehaltene“ – Geld zu bekommen. „Ungarn verantwortet, dass wir der Ukraine, die aus vielen Wunden blutet, kein Geld geben können! Wir müssen eine andere Lösung finden“, sagte der deutsche Finanzminister, Lindner.

Das einzige, was sie verschwiegen haben, war Ungarns Äußerung, dass es nur der gemeinsamen Kreditaufnahme nicht zustimmen würde. Denn die Aufnahme von Krediten würde die Mitgliedsstaaten still und leise in eine Schuldenunion führen.

Auf jeden Fall hat die ungarische Regierung das Geld für die Ukraine bereits im Haushalt des nächsten Jahres vorgesehen. Ohne jegliche Kreditaufnahme.

Der deutsche Rechnungshof vertrat im März 2021 eine ähnliche Auffassung wie Ungarn, als es darum ging, die Annahme einer gemeinsamen Anleihe, des so genannten Wiederaufbaufonds, in den Mitgliedstaaten zu ratifizieren. Denn mit ihrer Zustimmung ermächtigen die nationalen Parlamente die Europäische Kommission, 750 Milliarden Euro auf den Finanzmärkten zu leihen und gleichzeitig zu garantieren. Darüber hinaus gibt das Ratifizierungsgesetz der Kommission die Möglichkeit, viel mehr Geld zu leihen, als für den Wiederaufbauplan benötigt wird. 

Die Staats- und Regierungschefs, angeführt damals von Bundeskanzlerin Merkel, einigten sich jedoch darauf, dass das Geld ab 2027 – über 30 Jahre – aus dem EU-Haushalt zurückgezahlt wird und jedes Land für die Rückzahlung anhand seines Anteils am EU-Haushalt verantwortlich ist.

In der Haushaltsperiode 2021-27 beträgt der Anteil Deutschlands an den EU-Haushaltsmitteln rund 24 Prozent, was ein erhebliches Risiko für die deutschen Steuerzahler darstellt,

warnte der Rechnungshof.

Wie immer wurde die Idee einer gemeinsamen Kreditaufnahme der EU am vehementesten von George Soros und der Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde unterstützt. Olaf Scholz, der zum Zeitpunkt der Einigung Finanzminister war, begrüßte die Idee ebenfalls und sagte, dass dies zu einer europäischen Fiskalunion führen würde, einer EU, die ihre eigene Wirtschaft führen, ihre eigenen Steuern erheben und ihre eigenen Schulden aufnehmen könnte.

Die Verschuldung, die mit der gemeinsamen Kreditaufnahme einhergeht, würde das Europa der Nationen langsam in die Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der USA verwandeln.

Was für eine Gemeinschaftsvision!

Mit dem gleichen Prinzip wollte man die 18 Milliarden Hilfe für die Ukraine finanzieren, also sollen wir uns alle schön weiter verschulden! Die größten Nettozahler, Scholz und Macron, haben sich vielleicht gefragt, wie groß die Belastung für ihr Land sein würde. Doch es war Ungarn, nicht sie, das eine weitere gemeinsame Kreditaufnahme verhinderte, und siehe da, es gelang ihnen schließlich, einen Plan und eine Geldquelle zu finden, um der zahlungsunfähigen Ukraine Kredite zu gewähren.

Das am Montag auf Botschafterebene erzielte Abkommen muss noch von den europäischen Staats- und Regierungschefs gebilligt werden. Ich frage mich, was das für ein Spiel sein wird? Wie wird Olaf Scholz abstimmen, der am 10. November kurz vor Mitternacht, als nur noch an Schlaflosigkeit leidende Abgeordnete im Reichstag saßen, von seiner eigenen rot-gelb-grünen Koalition beauftragt wurde, auf dem EU-Gipfel für die Aussetzung der Milliardenzahlungen an Ungarn zu stimmen? Die divers-bunten Linken dort sind sehr besorgt über die EU-Gelder und haben trotz Korrekturmaßnahmen kein Vertrauen, dass die Ungarn die von ihnen diktierten Reformen durchführen werden. Die Munition für diese Besorgnis über die Rechtsstaatlichkeit liefern ihnen sich gegenseitig übertreffend ihre ungarischen linken Genossen.

Es herrscht gerade Krieg, es gibt eine Energiekrise sowie Migrationsdruck und  soziale Spannungen. Europa wird Tag für Tag durch dämliche Sanktionen geschwächt. Am Ende könnte sich sogar herausstellen, dass wir Ungarn an allem schuld sind, weil wir, abgekoppelt von den gemeinsamen europäischen Werten, getrennte Wege gehen. Wir liefern keine Waffen, wir schützen unsere Grenzen, wir machen aus der Energiefrage kein Politikum und wir versuchen, die Sanktionen zu überwinden. Und wir wollen zu allem Übel auch noch das Geld, das uns zusteht.


Autorin, Dr. Phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Deutsche Übersetzung: Dr. Andrea Martin

MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20221214-variaciok-befagyasztott-penzekre-es-unios-ertekekre

2 Kommentare

  1. Ich lese sehr gern, was Dr. Phil. Irén Rab hier schreibt, weil ich daraus viele, wertvolle Argumente gegen Ungarn-Bashing gewinne.
    Oft weiche ich aber auf „magyarhirlap.hu“, auf das Original aus, weil die Übersetzung manchmal sehr anstrengend ist.

    Nein nein, inhaltlich ist es voll korrekt, aber manchmal habe ich das Gefühl, daß Dr. Andrea Martin sich nicht traut „deutsch“ zu schreiben, sondern sich oft nah am ungarischen Satzbau bewegt, wodurch Monstersätze entstehen.

    Natürlich ist es nicht der Weisheit letzter Schluss, aber ich empfinde es so.

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