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Unsterblichen, 1956

Festrede von Zsuzsanna Borvendég am 4. November, zum Tag der Unsterblichen

Ich habe gezittert. Der Schweiß floss in dünnen Rinnsalen von meiner Stirn. Er sickerte nach unten und brannte in meinen Augen. Unter dem nach vorne gezogenen Rand des Stahlhelmes sah ich die Panzer, die gepanzerten Fahrzeuge auf dem Platz. Sie waren hundert-zweihundert Meter entfernt, still, bedrohlich. Ein T 34-er stand an der Einmündung der Straßenkreuzung quer. Wie eine Schlange, die auf die magischen Töne der Flöte starrt – einem unbekannten Zwang nachgebend –, blickte ich bewegungslos in den Lauf der Kanone. Ich hatte das Gefühl, diese seelenlose, kalte Bestie suchte mich. Und dass es kein Entkommen gäbe. In diesem Delirium reifte ein irrsinniger Wunsch in mir: ich wartete auf den Tod, ich wollte ihn. Er solle kommen, jetzt sofort, denn alles wäre hoffnungslos. Ich wäre allein, hilflos, gelähmt zwischen uralten, widerhallenden Wänden. Ein nicht zu greifender, schrecklicher Mechanismus kam gegen mich, ein gigantischer Menschenfresser. Was will ich mit meiner lächerlich winzigen Waffe gegenüber der feuerspuckenden Flut der Maschinen ausrichten? Ich hätte laufen, flüchten können, aber ich war nicht in der Lage. Das schlaflose, wilde Pulsieren der letzten Tage, die Schwärmerei, das dämonische Wellenschlagen der Verzweiflung ließ nach. Ich wurde erneut Mensch, ein alltägliches, graues Wesen. Ich war müde und ich fürchtete mich.“ (Ákos Tumbász)

Meine verehrten, die Erinnerungen pflegenden Landsleute!

Ich begann mein Gedenken mit den hastig zu Papier gebrachten Zeilen eines unschuldig hingerichteten Budapester Jugendlichen (Pesti Srác). Vor 65 Jahren, an diesem Tag, startete die größte Armee der damaligen Welt ihren vernichtenden Angriff gegen die ungarische Revolution. Die Vernichtung nahm kriegerische Ausmaße an, weil die Panzer mit der Absicht, Rache zu üben, gekommen waren. Sie konnten nicht das Beispiel ohne Vergeltung lassen, das jedem unterdrückten und gedemütigten Volk wie ein glänzender Stern den Weg wies. Sie konnten nicht zulassen, dass die Wahrheit, die Freiheit und die Menschenwürde siegen. Ein für alle Mal wollten sie unseren Wunsch tilgen, dass wir mit erhobenem Kopf, stolz, die Lenkung unseres Schicksals in die eigene Hände nehmen.

Und vor 65 Jahren, an diesem schrecklichen Tag, schien so, dass sie über uns triumphieren. Die Kanonen donnerten Tage lang, die Maschinengewehre knatterten, es herrschte Krieg auf den Straßen von Budapest, es geschah nämlich etwas, womit niemand gerechnet hatte:

eine kleine, handvolle Zahl an Freiheitskämpfern, die kaum bewaffnet waren, nahm den Kampf mit den sowjetischen Panzern auf, und sie hielten mindestens eine Woche lang durch.

Manche bewaffnete Gruppen – zurückgezogen in den Bergen, Wäldern – sogar noch länger. Aber die Revolution ging auch mit dem Abklingen der Kämpfe nicht zu Ende. Der stille Widerstand der Gesellschaft zeigte, dass die Übermacht zwar den Aufstand niederwerfen kann, aber der Geist des Freiheitskampfes weiterlebt: Arbeiterräte wurden gegründet, sie organisierten Streiks, Demonstrationen, die Machthaber aber ließen ohne Gnade schießen. Allein, ohne Hilfe war dieser Kampf aussichtslos, und bis Anfang 1957 erlosch auch der letzte Hoffnungsschimmer.

„Unter den Schuldigen macht sich mitschuldig, der schweigt.” – schrieb der große Dichter Mihály Babits (1883-1941), und wir konnten erneut die mitschuldige Interessenlosigkeit der großen Welt sehen, wir konnten wieder – wie schon so oft – erfahren, dass

man den Wert des ungarischen Blutes mit einem anderen Maßstab in der Westhälfte Europas misst:

die Anteilnahme, das Mitgefühl dauerte nur einige Augenblicke. Wo war damals noch die sog. „social media”, die Welt des Internets, trotzdem riss der Strom der Nachrichten und der Werbung den Hilferuf der Budapester Jugendlichen (Pesti Srácok) mit sich. Diese Erfahrung war eisig lähmend. Wir blieben allein, und es schien, dass die Zeit, die 1944 aus den Fugen geraten war, endgültig zu Normalität wird, denn das, was dem 4. November folgte, kam einer Katastrophe gleich, die Nation wurde an den Rand des Todes, der Vernichtung gespült.

Ich war müde und ich fürchtete mich“, schrieb dieser kaum zwanzigjährige junge Mann in November 1956. Und diese Furcht war tödlich. „Die Freiheit beginnt dort, wo die Furcht aufhört.“ – beschrieb der Politiker István Bibó (1911-1979) den Kern der Diktatur und den Kern des Aufstandes gegen die Diktatur. Ja, in Oktober 1956 hörte für einen Augenblick die Furcht auf, die aus den Fugen geratene Zeit fand in ihr Bett zurück, aber

nach dem 4. November wurde die Existenz erneut voller Angst und das änderte sich bis 1989 nicht.

Noch dazu wurde diese Angst listiger gegenüber allen früheren Ängsten, denn die Machthaber taten so, als ob wir uns mit der Unterdrückung einverstanden erklärt hätten. Sie belügten uns, dass es ein Bündnis mit uns existierte, sie behaupteten, dass sie sich mit uns verständigt hätten, obwohl sie uns gebrochen, niedergetrampelt, im Blut ertränkt hatten, um dann uns großzügig zu verzeihen. Ja, sie haben uns verziehen, als ob wir die Sünde begangen hätten und nicht sie. Mit dieser Lüge fing die Konsolidation bei Kádár an, und es folgten weitere. Kádár belog uns über die Vergangenheit, er log über die Gegenwart und auch über die Zukunft. Er log am Tag, in der Nacht, er log über alle Wellenlängen. Und auch wenn es sehr schmerzlich einem vorkommt, man muss zugeben, er hatte damit Erfolg:

die Mehrheit der Gesellschaft glaubte ihm, dass das Leben in der lustigsten Baracke ein Privileg wäre, wofür die Unterdrücker Dank und Lob verdienten.

Aus dem Mörder mit blutverschmierter Hand wurde der Wohltäter des Volkes. Diese hinterhältige Metamorphose verursachte eine ganz schlimme Zerstörung in der gesunden moralischen Haltung der Nation und in ihrer Wertvorstellung, wozu nicht einmal die 150-jährige Türkenherrschaft imstande war, und wodurch die als endgültig erscheinenden Folgen heute noch mit uns leben.

Selbst heute charakterisieren wir Kádárs Diktatur mit denselben Begriffen, die die Nomenklatur damals erfand.

Die Lüge Kádárs geistert weiter herum, sie will in die Dunkelheit des Vergessens hüllen, dass dieser „Gulaschkommunismus“ alles lächerlich machte, was als schön galt, er alles in den Dreck zog, was als rein angesehen wurde, er die absoluten Wahrheiten relativierte und falsche Götzen anstelle der echten Werte erhob. Es blieb der kristallklare Materialismus und die vorgespielte Gleichheit, wobei die Kreativität, die eigene Leistung und die Autonomie zu den größten Sünden zählte. Gerade die Eigenschaften, die von Zeit zu Zeit diese Nation groß gemacht haben.

Kádár beging den niederträchtigsten Verrat an seinem Land und Volk.

Das Leben hat keine solchen Höhen und Tiefen, die unter diesem Verrat nicht zusammenbrechen würden.“ – schrieb der Schriftsteller Béla Hamvas (1897-1968).

Aber zum Glück kämpften die Budapester Jugendlichen (Pesti Srácok) nicht umsonst, denn irgendwo, in der Tiefe der Seelen wurde die Flamme der Freiheit bewahrt. Kádár und die Sowjets mussten etwas davon erahnt haben, deswegen war die Vergeltung so brutal. Sie hatten es nicht verstanden, aber sie spürten es, dass diese unendliche Freiheitsliebe der wilden Steppen, die wir von unseren Ahnen ererbt haben, sowie unsere Vergangenheit nicht endgültig ausgelöscht werden kann. Diese Vergangenheit wurde bis in unsere tiefsten Seelen eingebrannt. Wir erzogen unsere Kinder in dem Geist, dass sie mit Hochachtung auf unsere, gegen die jeweiligen Kolonialisten trotzig widerstehenden Vorfahren blicken, und da sie die heldenhaften Kämpfe unserer Geschichte kennen, werden sie wissen, wie sie sich in Schwierigkeiten verhalten müssen.

Deshalb erinnern wir uns immer wieder an den übermenschlichen Kampf der Budapester Jugendlichen (Pesti Srácok). Sie vergossen ihr Blut für den kategorischen Imperativ, der da hieß: Vaterlandsliebe.

Meine lieben Freunde!

Heute donnern die Kanonen nicht, die Informanten der Staatssicherheit lauern nicht an jeder Ecke des Platzes. Heute herrscht Friede und Ruhe, aber wir wissen, dass es nicht ewig so bleiben wird. Es wird immer neue Reiche geben, die uns unterjochen wollen, es wird immer neue Ideologien geben, die gegen das Leben und gegen die Heiligkeit der erschaffenen Welt aufbrechen. Und wir müssen den Kampf mit ihnen aufnehmen und wir müssen durchhalten, wie die Helden von 56 es taten. So wird es sein.

„Unsere Truppen stehen im Kampf, die Regierung ist an ihrem Platz. Das teile ich dem Volk dieses Landes und der öffentlichen Meinung der Welt mit.” – In diesen ikonenhaften Sätzen versteckt sich mehr Wahrheit heute, im Gegensatz zu damals, als sie erklangen. Ministerpräsident Imre Nagy packte nach dieser Erklärung zusammen und lief in die jugoslawische Botschaft. Die Kommunisten waren meist nur auf Kosten anderer tapfer. Wir aber laufen nicht weg. Die Lehren des Kommunismus greifen heute mit neuer Kraft und unter neuer Maske an, obwohl man eigentlich spürt, dass sich ihre Kommissare nicht einmal mehr die Mühe machen, sich hinter einer Maske zu verstecken, sie benehmen sich vollkommen unverschämt. Sie denken, der Fluch der Vergesslichkeit, mit der die Handlanger des Regimes und Kádár uns schlagen wollten, wäre gereift und deshalb sie alles behaupten können. Aber sie irren sich.

Wir kennen unsere Geschichten und wir halten uns unbeirrt an der Wahrheit fest.

Wir wissen zum Beispiel, dass Antal Apró (1913-1994) am 25. Oktober 1956 an die Spitze des Militärkomitees der Zentralführung der ungarischen Arbeiterpartei berufen worden war und schon damals die Abrechnung mittels Waffen dringend gefordert hatte.

Deshalb können wir es nicht zulassen, dass seine Enkelin, Klára Dobrev (Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments), die Vergangenheit ihrer Familie vergessend fordert, dass 56 allen gehören solle. Nein, 56 gehört uns und es wird niemals ihnen gehören. Zwar haben sie versucht, uns glauben zu machen, dass es bei der Revolution um die Reform des Sozialismus ging, und dass die wahren Helden nicht die ihr Leben auf der Straße aufs Spiel setzenden Kinder, Arbeiter und Studenten, sondern die Reformkommunisten waren. Aber

wir wissen, dass der Kommunismus keine Variante mit menschlichem Gesicht hat, also er nicht reformierbar ist. Wir wissen, dass der Bolschewismus nirgends auf der Welt auf demokratischem Weg an die Macht kam,

und wenn es in 1956 eine Entfaltung stattgefunden hätte, und die Nation eine freie Wahl hätte abhalten können, dann hätte sie ihre Stimme einer bürgerlichen und nicht einer Volksdemokratie gegeben. Die Kommunisten verrieten und entehrten diese Nation sowohl vor, als auch nach 1956. Und sie demütigen unseren Nationalfeiertag seit 1989 jedes Jahr, wenn sie ihre Ehrenbezeugung für die Märtyrer vorspielen. Das müssten sie nicht tun, denn sie baten uns nicht um Entschuldigung und somit erhielten sie auch keine Verzeihung. Aber wir kennen sie, und wir wissen auch, dass sie sich – falls sie die Gelegenheit dazu bekommen würden – erneut gegen die nationale Selbstbestimmung und Demokratie wenden würden, wie sie das am 50. Jahrestag des Freiheitskampfes 2006 taten. Damals haben wir aus eigener Erfahrung die neuerliche und ewige Geschichtswahrheit erlernen können, dass dort, wo man schießt, keine Demokratie existiert.

Unsere Hochachtung gegenüber unseren Helden, Gott segne unsere Nation!     

Autorin, Dr. Zsuzsanna Borvendég ist Historikerin     

Deutsche Übersetzung von Dr. Gábor Bayor

Foto von Köztérkép, 1956-Denkmal, Budapest, XVII. Széchenyi utca

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