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Samisdat Nr. 14 – Abschied von Angela Merkel

7. Dezember 2021 Miniszterelnok.hu von VIKTOR ORBÁN

Am 8. Dezember verlässt Angela Merkel das Bundeskanzleramt. Ein Stück vom Leben der Mitteleuropäer wird sie begleiten. Wir haben sie verstanden, sie hat uns verstanden. Sowjetischer Einmarsch, kommunistische Diktatur, Widerstand und Volksbewegungen 1988-89, Sieg, Freiheit, die anschließende Wiedervereinigung unter Kanzler Helmuth Kohl, dem neuen Staatsgründer Deutschlands.

Als ungarischer Ministerpräsident hatte ich 1998 die Gelegenheit, einige Monate gleichzeitig mit Bundeskanzler Helmut Kohl, einem lieben, alten Freund, einem christlichen Bruder und treuen Förderer der Völker Mitteleuropas, im Amt zu sein.

Angela Merkel und ich mussten jahrelang die Strapazen der Opposition ertragen. Zuerst wurde sie Kanzlerin, dann kehrte ich fünf Jahre später an die Macht zurück. Wir haben die Finanzkrise 2010 gemeinsam bewältigt, wir waren Partner im Kampf um den Zusammenhalt der Europäischen Union und haben gemeinsam hilflos und rückhaltlos zugesehen, wie der für Europa so tragische russisch-ukrainische Krieg ausbrach.

Die loyalen und disziplinierten Deutschen, die rebellischen und hitzköpfigen Ungarn standen zusammen für ein gemeinsames Ziel: für ein Europa, in dem sich alle Nationen zu Hause fühlen können.

Und dann kam der Bruch, oder besser gesagt, die offensichtliche Krise des Jahres 2015: die Invasion der Migranten. Es war wie eine Verletzung, nach der die Bewegung eines Sportlers nicht mehr so ist, wie vorher war. Er versucht sich zwar erholen, er kämpft, aber mehr aus Ehrgefühl. Er weiß es und gibt nach einer Weile zu, dass er zu seiner alten Form nicht mehr zurückfinden kann.

Die Migrationskrise war an sich schon eine große Herausforderung. Sie wurde zum Rubikon, weil sie unser unterschiedliches philosophisches, politisches und emotionales Verständnis von einer Nation, der Freiheit und der Rolle Deutschlands hervorhob.

Dabei zeigte sich, dass die Heimat für Ungarn und andere Mitteleuropäer immanent, die nationale und kulturelle Identität substanziell ist. Ohne Patriotismus kann es für uns kein gesundes Gefühlsleben geben. Es stellt sich heraus, dass die Deutschen den anderen Weg der europäischen Zivilisation beschreiten, einen nachchristlichen und postnationalen Weg. Wir Ungarn haben verstanden, dass die Deutschen diesen Weg nicht als Problem, nicht als eine zu behebende Zivilisationskrankheit, sondern als einen natürlichen, sogar wünschenswerten und sogar moralisch überlegenen Zustand betrachten.

Das Gefüge der europäischen Einheit zerfiel, es war nicht mehr aufzuhalten. Über Migration, Gender, gemeinsame Verschuldung, über eine föderalisierte Europäische Unio haben wir unterschiedliche Ansichten. Wir wollen die Germanisierung Europas nicht.

Die Wiederherstellung der europäischen Zusammenarbeit wird in der Nach-Merkel-Ära übermenschliche Anstrengungen erfordern.

Hat Angela Merkel die Tür für diese Zerrissenheit geöffnet? Oder umgekehrt, hat sie versucht, standhaft zu bleiben, aber der Druck von links war zu groß? Heute kennen wir die Antwort noch nicht. Die neue linksliberale Regierung strebt weg von Kohls Europa der Vaterländer hin zu einer migrations- und genderfreundlichen, deutsch geprägten, zentralistischen Politik aus Brüssel. Hier stehen wir nicht mehr Seite an Seite.

Als Mitstreiter habe ich während Angela Merkels 16-jähriger Kanzlerschaft klare Antworten auf die Fragen unserer Zeit vermisst. Eines ist sicher: das Zeitalter der Zweideutigkeit, des unklaren Politikverständnisses und des Sich-treiben-Lassens ist jetzt zu Ende gegangen. Es kommen neue Zeiten, mit offenem Visier.

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(Unsere beiden Völker haben eine viel engere, emotionale Verbundenheit als andere, denn sie sind die einzigen, die sich über 1000 Jahre lang nie bekriegt haben. Es waren die Ungarn, die den ersten Stein aus der Berliner Mauer schlugen und 1989 so den Grundstein für ein freiheitliches Europa legten.

Ob unterschiedliche Ansichten tolerant und mit gegenseitigem Respekt in einem bunten Europa als Bereicherung empfunden werden oder als Belastung, wird die Entwicklung unter der zukünftigen Regierung in Deutschland zeigen.)

MAGYARUL: https://miniszterelnok.hu/szamizdat-14/

Ein Kommentar

  1. Lieber, verehrter Herr Ministerpräsident,

    ich bewundere die Noblesse, mit der Sie über die ungeheueren Unterstellungen und Lügen, mit denen die Merkel-Administration und ihre ergebenen Paladine in den deutschen Leitmedien in bösartigster Weise gegen Ihre Politik und sogar gegen Sie persönlich notorisch agitiert, in dieser Würdigung von Frau Merkel gewissermaßen hinweglächeln. Damit zeigen Sie wahrhafte Souveränität und deklassieren zugleich die Schreihälse und Hetzer des deutschen Mainstreams.

    Allein eine einzige Passsage Ihres Textes schmerzt mich: „Es stellt sich heraus, dass die Deutschen den anderen Weg der europäischen Zivilisation beschreiten, einen nachchristlichen und postnationalen Weg. Wir Ungarn haben verstanden, dass die Deutschen diesen Weg nicht als Problem, nicht als eine zu behebende Zivilisationskrankheit, sondern als einen natürlichen, sogar wünschenswerten und sogar moralisch überlegenen Zustand betrachten.“

    Denn ich betrachte mich als patriotischen Deutschen, dessen weitere Heimat das christliche Abendland mit seinen gleichermaßen klassisch griechisch-römischen und hellenistisch-jüdischen Wurzeln ist. Und als solcher erlebe ich wie Sie die Agenda aus Überfremdung unseres Kulturraums durch muslimische Invasoren, Verherrlichung von schweren Perversionen zur Zerstörung der naturwüchsigen Keimzelle menschlicher Gesellschaft und der Selbstvergöttlichung des Menschen als eine Zivilisationskrankheit, die das Leben unserer Kultur in höchstem Maße bedroht.

    Unleugbar haben die letzten Bundestagswahlen gezeigt, daß allzuviele Deutsche diese Autodestruktion bejahen oder ihr zumindest nicht entgegentreten wollen. Doch es gibt immer noch eine nennenswerte Zahl von Menschen in Deutschland, die unter diesem Trend genauso leiden wie ich. Und diese Menschen sind Ihnen und allen aufrechten Ungarn zutiefst verbunden und dankbar, daß Sie trotz aller Anfeindungen aus Deutschland und den imperialistischen Kräften der EU in Gelassenheit und, wie ich annehme, mit Gottvertrauen ihr Mandat ernst nehmen und das Wohl Ihres Vaterlandes verteidigen und mehren. Denn Sie tun das, selbst wenn das nicht primär intendiert sein mag, auch ganz im Sinne der Europäer, deren seelische Existenz untrennbar mit dem Bestand unserer gemeinsamen spirituellen und kulturellen Wurzeln verknüpft ist.

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