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Jenseits der grünen Grenze ist alles rot

6. September 2023 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

Boris Palmers Geschichte ist eine gute Möglichkeit zu sehen, wie es um die Meinungsfreiheit und unabhängige Entscheidungen in der westlichen Welt der liberalen Demokratie bestellt ist, was mit denen geschieht, die vom Mainstream und den Parteirichtlinien abweichen, und wie Rufmord funktioniert.

„Jenseits der grünen Grenze.“ So lautet der Titel des für den 5. September angekündigten Vortrags des Deutsch-Ungarischen Instituts des MCC. Grün, klein oder groß geschrieben? Wir Ungarn denken sofort an die klein geschriebene grüne Grenze, an die nicht umzäunten und unbewachten Grenzgebiete, wodurch die unkontrollierte Migration nach Europa zu gelangen versucht. Die kleingeschriebene grüne Grenze ist die offizielle Version des populären Ausdrucks „über Stock und Stein“. Das großgeschriebene Grün ist ein Parteiname oder ein ideologisches Bekenntnis, das hier in Ungarn nicht oft verwendet wird, obwohl, wenn man sich das nationale politische Spektrum ansieht, mindestens drei bis vier Kleinstparteien internationale Unterstützung unter dem Banner einer irgendwie gearteten grünen Partei kassieren. 

Bei der MCC-Veranstaltung gilt der Großbuchstabe Grün, da es sich bei dem eingeladenen Gast um Boris Palmer, den Oberbürgermeister von Tübingen, einer deutschen Kleinstadt handelt. Palmer ist ein Anhänger der Grünen, seit er in die Politik hineingeschnuppert hat. Nun ja, er ist nicht aus der klassischen 68er-Generation, da war er noch gar nicht auf der Welt. Er gehörte der Zwischengeneration der Grünen an, der Generation, die sich nicht nur an den Universitäten herumtrieb, sondern auch die Bänke benutzte. Er war zum Beispiel ein diplomierter Absolvent der renommierten Universität Tübingen.

Er war noch nicht einmal 30, als er für seine Partei in den Landtag gewählt wurde und 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen aufstieg. Von Anfang an hatte er Probleme, weil er eigenwillig und selbstdarstellerisch war, sich in vielen Dingen nicht an die Vorgaben der Partei hielt und nicht einmal bereit war, Selbstkritik zu üben. Die Öffentlichkeit sah nur, dass der Draufgänger Palmer mal wieder etwas gesagt oder getan hatte, was dem Tübinger Unipublikum gefiel. Und die machen dreißig Prozent der Stadtbevölkerung aus, mehr als die Hälfte der Wählerschaft. Vielleicht hat niemand geglaubt, dass die Partei Palmers seine Verfehlungen auflistet und dann, wenn er diese gewisse grüne Grenze überschritten hat, eine Untersuchung einleiten wird.

Dies geschah etwa gegen Ende seiner zweiten Amtszeit, so dass er seine dritte Amtszeit (ab 2022) als unabhängiger Kandidat absolvierte, der zwar zehn Prozentpunkte an Popularität einbüßte, aber immer noch über genügend Stimmen verfügte, um die absolute Mehrheit zu erreichen.

Palmers Äußerungen zeichnen das Bild eines Parteimitglieds, „das allmählich und in zunehmendem Maße von der Linie seiner eigenen Partei abweicht und sich zunehmend gegen deren Grundwerte wendet“,

fasste der Anwalt der Grünen Palmers Vergehen in seinem Antrag auf seine Disqualifizierung zusammen. Ich werde nur einige seiner Verbrechen hervorheben, um die Fehler aufzuzeigen, die er gemacht hat. Sie kommen uns vielleicht bekannt vor, ob wir nun an die Liste der Verbrechen von Ernő Nemecsek aus dem Roman von Franz Molnár (Die Jungen von der Paulstaße) denken oder an die Verbrechen der kommunistischen Dissidenten in den 1950er Jahren.

Palmer hat zum Beispiel einmal gesagt, dass es lächerlich ist, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie eine Süßigkeit heißt. Wenn es Tübinger Mohrenköpfle heißt, dann heißt es nun mal so. Punktum. Und doch hat die politische Korrektheit den Negerkuss anderswo in einen Schokokuss verwandelt, und in unserem Land wurde die Herstellung mangels politischer Korrektheit gar eingestellt. Später, während der großen Migrationswelle, forderte Palmer in einem Interview, dass sich die Asylbewerber an das Gesetz halten sollten, denn er sagte, dass ohnehin nicht jeder Recht auf Asyl habe. Außerdem sagte er, die Außengrenzen der Europäischen Union sollten „notfalls mit Waffengewalt“ verteidigt werden, was nicht nur gegen die Grundsätze seiner Partei, sondern nach Ansicht der Grünen auch gegen das Grundgesetz verstößt. Zu Covid-Zeiten eröffnete er die Clubs der Stadt, in denen ein Schnelltest ausreichte, um Zutritt zu erhalten. Das „Tübinger Modell“, das sich über zentrale Vorgaben hinwegsetzte, trat die föderalen Werte der gesellschaftlichen Solidarität mit Füßen. Ich werde die Sünden Palmers nicht weiter aufzählen, obwohl es noch einige saftigere gibt, welche – wie N-Wort – die Presse nicht mal zu nennen wagt.

Der Ausschluss droht Palmer schon seit einiger Zeit, aber er ist nicht bekehrt, und er hat mit einer antisemitischen Äußerung wiederholt gegen die Grünen Gemeinschaftsgrundsätze verstoßen. Wenn jemand das dürfte, dann er, zumindest in unserem Land, denn sein Großvater, Siegfried Kilsheimer, war ein Jude, der 1938 aus Nazi-Deutschland in die Vereinigten Staaten fliehen musste. Dennoch hielt er es nach seiner antisemitischen Äußerung für das Beste, diesen bunten, weltverändernden, weltverleugnenden Nichtsnutzeklub freiwillig zu verlassen

Kann es sein, dass Boris Palmer, der unabhängige deutsche Bürgermeister, es sich nicht einmal leisten kann, dorthin zu reisen, wohin er eingeladen wird, um aufzutreten? In diesem Fall nach Budapest, in das Mathias-Corvinus-Collegium.

Nach Bekanntwerden der Sache wurde der Bürgermeister von der gesamten deutschen Presse und seinen politischen Gegnern heftig angegriffen. „Ein rechter, von Orban finanzierter Think-Tank hat den unabhängigen (!) Palmer gekauft! Das MCC vertritt flüchtlingsfeindliche und homophobe Werte, sie wollen Europa spalten, statt Menschlichkeit und Solidarität, statt gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Mit seinem Besuch in Ungarn macht sich der Tübinger Oberbürgermeister zum Handlanger der Rechtsextremen.“ So brodelt die anti-ungarische Stimmung in der deutschen Bevölkerung.

Palmer erklärt mehrfach, dass er den ungarischen Ministerpräsidenten nicht treffen wird. Seine dreitägige Reise nach Ungarn dient dem „partnerschaftlichen Austausch und Dialog“, wie etwa der Stärkung der Städtepartnerschaft zwischen Unterjesingen bei Tübingen und Iklad im Komitat Pest. Aber niemand kann leugnen, dass er eigentlich auf der Suche nach der politischen Familie ist, die ihn willkommen heißen würde.

Palmer erklärt mehrfach, dass er nach Erhalt der Einladung einen renommierten Professor aus Tübingen um eine fachliche Meinung über die einladende Institution gebeten hat, und der Professor empfahl die Annahme. Jetzt erklärt sich der Professor auch, weil er das Mathias Corvinus Collegium mit der Corvinus Universität verwechselt haben soll.

Ich weiß nicht, was peinlicher ist, dieses mea culpa oder die Tatsache der Verwechslung der beiden Institutionen. Denn Letzteres zeigt sonnenklar, wie „gut“ selbst sich für kompetent haltende Deutsche über die Situation in Ungarn informiert sind.

Boris Palmers Geschichte ist auch eine gute Möglichkeit zu sehen, wie es um die Meinungsfreiheit und unabhängige Entscheidungen in der westlichen Welt der liberalen Demokratie bestellt ist, was mit denen geschieht, die vom Mainstream und den Parteirichtlinien abweichen, und wie Rufmord funktioniert. All das ist für uns ein Déjà-vu, denn es hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Welt, die wir hier im Osten Europas einst – vor der Wende – bitter erlebt haben.

Autorin, Dr. Phil Irén Rab ist Kulturhistorikerin und Gründungschefredakteurin von UNGARNREAL

Deutsche Übersetzung: Dr. Andrea Martin

Magyarul: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20230905-a-zold-hataron-is-tul-ott-a-voros

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