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„Ich verstehe die europäische bzw. die deutsche Politik überhaupt nicht“

21. Februar 2024 Vasárnapi Újság Interview mit General Harald Kujat a.D.

  • Herr General, als wir im Herbst gesprochen haben, sagten sie, es ist zu sehen, dass die sogenannte ukrainische große Offensive nicht erfolgreich war, dass die russische Armee sich verstärkt hat, und es ist zu erwarten, dass es weiter vordringen kann. Aber eigentlich, glaube ich, sieht man die Einsicht auch heute nicht. Gerade heute habe ich darüber gelesen, dass Deutschland der Ukraine Hubschrauber schickt. Was passiert eigentlich in der Frontlinie und sehen sie die Absicht des Westens, einen Frieden zu finden?

Also die groß angekündigte und auch mit großen Erwartungen erfüllte Offensive der ukrainischen Streitkräfte ist gescheitert. Man wollte mehr erreichen bei Mariupol, Melittopol und wollte die Russischen Streitkräfte von ihrer logistischen Drehscheibe, also der Krim, wo alle Versorgung mit Munition, Verpflegung und Treibstoff ankommt abschneiden.

Dieses Ziel ist nicht erreicht worden, auch wenn nach wie vor die westlichen Medien und auch westliche Regierungen nicht bereit sind, das offen zuzugeben.

Aber die Frage ist natürlich, wie es jetzt weitergehen soll. Natürlich gibt es Überlegungen, insbesondere auch auf der amerikanischen Seite, dass man die Front, so wie sie jetzt verläuft, einfriert. Auf jeden Fall müsste die ukrainische Armee sich in die Defensive, in eine strategische Defensive zurückziehen, vor allen Dingen auch, um die sehr, sehr hohen Verluste zu reduzieren. Das würde aber voraussetzen, dass man zumindest zu einem Waffenstillstand kommt. Diese Überlegungen gibt es in den Vereinigten Staaten, in Europa ist das noch nicht angekommen.

Hier wird nach wie vor behauptet, man könnte die ukrainischen Streitkräfte dadurch, dass man Material, Waffensysteme und Geld liefert, in die Lage versetzen, doch noch

Das muss man ganz deutlich sagen. Dazu sind die ukrainischen Streitkräfte überhaupt nicht in der Lage. Der ukrainische Präsident hat auf der Konferenz in Davos einen Waffenstillstand mit dem Einfrieren der derzeitigen Front abgelehnt, und er hat das damit begründet, dass ein solches Vorgehen Russland nur Zeit geben würde, sich zu rüsten und dann irgendwann doch anzugreifen.

Auf der ukrainischen Seite fordert man also weiter Waffensysteme. Ich möchte vielleicht auch noch anfügen, dass der ukrainische Präsident selbst Anfang Oktober 2022, also nachdem Russland die Annexion dieser 4 Regionen, nämlich Luhansk, Donezk, Herson und Zaporizja erklärt hatte, einen Präsidenten Dekret herausgegeben indem er Verhandlungen jeder Art mit Russland verboten hat. Insofern haben wir hier 3 verschiedene Positionen, und es ist im Augenblick schwierig zu beurteilen, wie man zu einer gemeinsamen Lösung kommen soll.

  • Schon eine Menge Waffen und Geld sind ins Land eingeflossen. Sie sagen, die USA will wahrscheinlich in der Zukunft nicht unbedingt teilnehmen an der Versorgung der Ukraine, kann sein, dass es Europa überlassen wird? Kann das allein dieses Kontinent dann übernehmen oder was könnte passieren? Woran hofft wirklich Ukraine?

Das ist sehr, sehr schwer zu beurteilen. Ich habe ja gesagt, die ukrainischen strategischen Ziele sind nicht erreichbar. Es ist im Grunde eine Illusion auf westlicher Seite, insbesondere in Europa, glauben die Regierungen, mit Waffenlieferungen könnten sie die Ukraine in die Lage versetzen, doch noch was zu erreichen. Auch das ist eine Illusion. Denn Waffen müssen bedient werden, Waffen alleine können überhaupt nichts ausrichten, sondern sie brauchen Soldaten, die motiviert sind, die ausgebildet sind, die Kampferfahrung haben und die mit diesen Waffen umgehen können.

Der ehemalige Generalstaatsanwalt der Ukraine hat vor wenigen Tagen noch einmal betont, dass die Verluste tatsächlich über 500 000 Mann betragen. Das ist ein gewaltiger Aderlass. Der kann nicht ersetzt werden, und wenn es auch gelingen sollte, eine Mobilisierung von 500 000 Soldaten durchzuführen, dann würde es ja Jahre dauern, bis die wirklich ausgebildet sind. Diese Zeit hat die Ukraine nicht, denn die russischen Streitkräfte werden sehr langsam, weil sie eigene Verluste möglichst vermeiden wollen, aber sicher weiter vordringen. Ich persönlich  bin nach wie vor der Überzeugung,

dass das russische Ziel ist eben nicht die gesamte Ukraine zu erobern oder gar, wie jetzt in einer gewissen Kriegshysterie immer gesagt wird, auch NATO Staaten oder Anrainerstaaten anzugreifen, sondern die Regionen, die Präsident Putin am 30 September 2022 als russisches Staatsgebiet erklärt hat, also die 3, die ich eben schon mal genannt habe, die vollständig zu erobern, die Besetzung zu konsolidieren.

Und dann hat die russischen Armee das erreicht, was sie eigentlich als strategisches Ziel Erfolg hat. Es gibt allerdings noch ein Fragezeichen, ich halte es durchaus für möglich, dass die russischen Streitkräfte darüber hinaus 2 weitere Bereiche, 2 weitere Regionen erobern wollen nämlich Harkiw und Odessa. Diese Eroberung würde es Russland erlauben, die Ukraine völlig vom Schwarzen Meer abzuschneiden.

  • Wenn man es auch wirtschaftlich nur betrachtet, sehen wir, was alles Europa an diesem Krieg verliert. Was glauben Sie, was ist eigentlich die Motivation der europäischen Länder, dass sie immer wieder, auch jetzt wie geplant über 50 Milliarden Euro für die Ukraine bestimmen wolle, dass sie doch diesen Krieg unterstützen und nicht diplomatische Lösungen suchen?

Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen. Ich verstehe die europäische Politik überhaupt nicht, und ich verstehe auch die deutsche Politik nicht.

Man mag nicht zugeben, dass man mit einer größeren Aufgeschlossenheit zu Verhandlungen den Krieg hätte verhindern können, bevor er stattfand. Man mag nicht zugeben, dass es auch andere Situationen gab, wo man in der Lage gewesen wäre, diesen mörderischen Krieg und diese hohen menschlichen Verluste und die Zerstörung der Ukraine zu beenden. Ich habe ja beim letzten Gespräch genannt, die Verhandlungen in Istanbul, die dann Anfang April praktisch vom Westen torpediert wurden, man muss sich einmal überlegen, wie viele hunderttausende Menschen in der Zwischenzeit ihr Leben verloren haben. Der Krieg hätte schon längst beendet sein können.

  • Man hört jetzt immer öfter, dass sich Europa auf einen Krieg vorbereiten sollte. Heute hörte man das auch von dem britischen Ministerpräsidenten, dass sie vielleicht mobilisieren sollten, aber auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht von einer Kriegsgefahr und auch von Seite der Nato hört man, dass die Nato sich auch einen umfassenden Krieg mit Russland in den nächsten, man sagt 20 Jahren vorbereiten sollte. Aber für uns alltägliche Bürger hört es sich doch ein bisschen komisch an, in den kommenden 5 oder 20 Jahren. Also wenn das wirklich so ist und wenn man das befürchtet, kann man das dann nicht vermeiden? Wäre das nicht eigentlich gerade die Aufgabe der Politik, der Diplomatie, dass es ist nicht dazu kommt?

Im Grunde genommen verstehen die Menschen,

Jetzt wurde ein neues Narrativ in die Welt gesetzt und das lautet, die Russen haben auf Kriegswirtschaft umgeschaltet und in spätestens in 5 bis 6 Jahren sind sie in der Lage, den Westen anzugreifen. Die Ukraine verstärkt das natürlich auch, die sagt,

„Wir verteidigen ja Europa, die Freiheit Europas, und wenn wir das nicht täten, dann würden die Russen sozusagen durchmarschieren”.

Das ist eine neue Variante, die dazu führen soll die Unterstützung der Ukraine fortzusetzen und nicht jetzt zu sagen, Moment mal, warum tun wir das eigentlich noch? Ist es nicht jetzt vernünftig, Frieden zu schließen oder zumindest einen Waffenstillstand herbeizuführen, oder müssen noch mehr noch hunderttausende mehr Menschen in der Ukraine sterben?

Theoretisch weiß niemand, was in 10 Jahren der Fall sein wird, aber es gibt einfach ein paar Sachaspekte, die darauf hindeuten, dass diese russische Absicht nicht besteht. Sehen Sie, Russland hat am 22. Februar die Ukraine angegriffen mit hundertneunzigtausend Mann. Die ukrainischen Streitkräfte waren mehr als doppelt so stark. Also wenn Russland die Absicht gehabt hätte, die gesamte Ukraine zu erobern, dann wäre sie mit wesentlich mehr Soldaten dort einmarschiert. Das wäre die Voraussetzung dafür, dass sie dann auch in der Lage wäre, zum Beispiel die baltischen Staaten oder Polen oder Rumänien anzugreifen. Dann müssten sie eine enorme Anzahl an Soldaten aufbringen, als Besatzungsmacht. Das wäre extrem teuer auch der Wiederaufbau, würde viel Geld kosten. Zum Vergleich in der DDR waren 300 000 russische Besatzungstruppen stationiert und die DDR war im Vergleich zur Größe der Ukraine winzig, und es war sogar ein befreundeter Staat.

Jetzt kommt das entscheidende Argument. Warum macht Russland das eigentlich alles mit der Ukraine? Ich zitiere jetzt einmal Henry Kissinger, der in einem Namensartikel 2014 gesagt hat,

„die Ukraine darf nicht zu einem Vorposten des Westens oder der NATO gegenüber Russland werden, und umgekehrt darf die Ukraine auch nicht zu einem Vorposten Russlands gegenüber dem Westen werden. Die eigentliche Aufgabe der Ukraine wäre, eine Brücke zu sein zwischen Ost und Westen, dazu müsste sie neutral bleiben. „

Das ist das Ziel, das meiner Meinung nach Russland verfolgt. Eine neutrale Ukraine, die nicht in der Nato ist und die sozusagen ein Puffer bildet zwischen den russischen Streitkräften und den Nato Streitkräften.  Sollten sich Nato-Soldaten und russische Soldaten Auge in Auge gegenüberstehen, dann ist das Risiko, dass es zu einem menschlichen Versagen kommt oder zu einem technischen Versagen, und beides könnte dazu führen, dass eine Installation eintritt, die politisch nicht mehr kontrollierbar ist. In Europa ist das anscheinend noch nicht so richtig verstanden worden.

Also dieser Druck weiter die Ukraine weiter aufzurüsten, obwohl es im Ergebnis nichts weiter bringt als nur mehr menschliches Leid, mehr Zerstörung bringt, das kann eigentlich nicht die Aufgabe der Politik sein, das Ziel der Politik müsste sein eine europäische Friedensordnung, in der die Ukraine ihren Platz hat und in der auch Russland seinen Platz hat. Aber leider ist das bisher nicht erkennbar.

Aus deutscher Sicht muss ich folgendes noch sagen. Die Verfassung schreibt uns vor, die Bundeswehr so stark zu halten, dass sie in der Lage wäre unser Land zu verteidigen, gemeinsam mit unserem Verbündeten in der Nato, diese Aufgabe wird seit 2011 nicht mehr erfüllt. Der Bundeswehr und Neuausrichtung bedeutet Weg von der Landes und Bündnisverteidigung hinzu lediglich Peacekeeping, Stabilisierungsmaßnahmen, Auslandseinsätze. Das ist ein glasklarer Verstoß, ein Bruch der Verfassung, und dieser Verfassungsbruch ist bis heute nicht korrigiert worden.

  • Was ist eigentlich mit diesem 100 Milliarden Sondervermögen, das für die Bundeswehr beschlossen wurde?

Naja, das ist auch wieder so eine Maßnahme, die aus der Situation heraus entstand, um zu zeigen, wir müssen jetzt handeln. Eigentlich hätten wir seit 2011 handeln müssen, und jetzt nimmt man sozusagen als Argument, dass dies notwendig ist, nicht die Tatsache, dass die Verfassung das fordert, sondern man sagt, die Situation erfordert, dass die Lage erfordert, dass das Risiko, dass Russland uns angreifen könnte, uns dazu zwingt. Ich sage dazu, wir brauchen diese Kriegshisterie nicht. Wir sollten einfach das tun, was die Verfassung von uns fordert. Aber die deutsche Verfassung fordert noch etwas anderes,

die Verfassung fordert nämlich von jeder Regierung, und das zitiere ich erstmal wörtlich, als gleichberechtigtes Mitglied zum Frieden in der Welt beizutragen. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung, permanente Aufgabe.

Das heißt, selbst wenn sie sagen, ja, man müsste natürlich die Ukraine unterstützen in der Verteidigung, müsste sie gleichzeitig alles unternehmen, um einen Friedensschluss herbeizuführen. Das wird von der Bundesregierung nicht getan und es wird auch insgesamt von den europäischen Staaten nicht getan. Dies ist eine absolute Fehlentwicklung in der Politik und ich denke mal, das ist eine eine Entwicklung, die uns nicht nur viel Geld kostet, sondern die auch Risiken birgt für die Zukunft.

Harald Kujat ist ein deutscher General a.D. der Luftwaffe. Er war von 2000 bis 2002 der 13.  Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.

Das Interview wurde von Ágnes Horváth am 28. 02.2024. für die Sendung „Vasárnapi Újság“ im Kossuth-Rádió geführt.

MAGYARUL: https://mediaklikk.hu/radio-lejatszo-kossuth/?date=2024-01-28_06-08-25&enddate=2024-01-28_08-40-01&ch=mr1 7:40 perctől hallgatható meg

Ein Kommentar

  1. Solche klugen, weitsichtigen und realistischen Fachleute, wie General a. D. Kujat, müssten in der deutschen Regierung und im Bundestag sein …

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