10. Mai 2022
Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn” von Radio Kossuth am 6. Mai 2022
Katalin Nagy: Es ist drei Minuten nach halb acht. Die Präsidentin der Europäischen Kommission stellte am Mittwoch den sechsten Sanktionsvorschlag der Kommission gegen Russland vor. Darin kommt auch das Ölembargo vor. Der ungarische Regierungschef hat bereits am Donnerstagnachmittag seinen Antwortbrief versandt, sie haben diesen Vorschlag bewertet. Im Studio anwesend ist Ministerpräsident Viktor Orbán. Ist es dermaßen eindeutig, dass wir diesen Vorschlag nicht auf uns nehmen können? Guten Morgen!
Guten Morgen! Ich danke Ihnen, dass ich erneut eingeladen worden bin. Ich denke, das nächste Mal komme ich erst nach der Regierungsbildung, also wenn ich Erfolg haben sollte, aber wie das der Dammwächter Pelikán in dem die fünfziger Jahre karikierenden Film „Der Zeuge“ sagt: „Die internationale Lage steigert sich.“ Und die Angelegenheit ist tatsächlich schwerwiegend, und der Krieg, der die Sicherheit im Allgemeinen gefährdet, gefährdet jetzt auch unmittelbar die Energiesicherheit. In diesem Zusammenhang müssen wir den Vorschlag der Kommission deuten, der empfiehlt, wir sollten die aus Russland kommenden Öllieferungen einstellen. Damit gibt es vielerlei Probleme.
Das erste ist, dass wir vor einigen Wochen auf einer zweitägigen Gipfelberatung der Ministerpräsidenten in Versailles – denn die Franzosen stellen die EU-Präsidentschaft – einen Konsens geschaffen haben, das ist der Versailler Konsens, wir haben dies auch in der Erklärung von Versailles niedergeschrieben, indem wir sagten, man dürfe nur Schritte unternehmen, die beachten, dass die Länder unterschiedliche Energiestrukturen besitzen, und man müsse beachten, dass es das souveräne Recht eines jeden Landes ist, festzulegen, mit welcher Energiezusammensetzung es seine Wirtschaft betreibt, also wie viel Öl, wie viel Gas, wie viel Atomenergie, Wasser usw. es anwendet. Ohne auch nur mit jemandem auf der Ebene der Ministerpräsidenten sich abgestimmt zu haben, ist die Kommission mit einem Vorschlag herausgekommen, der diesen Versailler Konsens bricht, ihn umstößt, denn ohne die nationalen Interessen zu beachten, will sie allen eine einheitliche Regel aufzwingen. Dies hat die Präsidentin der Kommission initiiert, das ist ihre Verantwortung, und damit hat sie die nach den zweitägigen, Tag und Nacht geführten Verhandlungen geschaffene europäische Einheit gesprengt. Es gibt also ein Problem, dass die Präsidentin der Kommission gewollt-ungewollt die unter sehr großen Schwierigkeiten geschaffene europäische Einheit attackiert hat. Und in Zeiten eines Krieges besitzt dies schwerwiegende Konsequenzen.
Was jetzt den Inhalt dieses Vorschlags angeht, so ist er in vielerlei Hinsicht problematisch, denn er sieht über den Umstand hinweg, dass in der Europäischen Union Länder mit vollkommen unterschiedlichen Gegebenheiten zu finden sind. Und natürlich, wer über ein Meer verfügt, und Meereshäfen besitzt, der kann auf Schiffen Öl von überallher in der Welt herantransportieren lassen, doch gibt es Länder, die keine Meere besitzen, auch wir hätten welche, wenn man sie uns nicht genommen hätte, doch im gegenwärtigen Moment haben wir keine, deshalb kann nach Ungarn russisches oder jedwelches Öl ausschließlich nur über Rohrleitungen ankommen, die eine Hälfte der Pipelines ist in Russland, das eine Ende ist in Russland, und das andere in Ungarn. Das ist eine Gegebenheit. Einen Vorschlag, der diesen Umstand außer Acht lässt, können wir nicht akzeptieren, denn dieser Vorschlag ist so, in dieser Form gleichbedeutend mit einer Atombombe, die auf die ungarische Wirtschaft abgeworfen wird.
Aber auch dann nicht, wenn man uns bis Ende 2023 Zeit gibt, um diese Frage zu lösen?
Betrachten wir, warum auch das keine Lösung ist. Zunächst einmal muss dieses Öl hierherkommen. Es besteht die Möglichkeit, dass Öl aus anderer Richtung, nicht aus dem Osten, sondern aus dem Süden aus Kroatien in einer Rohrleitung ankommen soll, doch dafür muss Kroatien die Kapazität des Rohres in einem Abschnitt in bedeutendem Maß erhöhen. Die zweite Sache ist, dass in Ungarn eine Raffinerie in Betrieb ist – das ist jene in Százhalombatta, die im Übrigen zu der gleichen Firmengruppe, zur Mol gehört, wie jene Raffinerie in Pozsony/Bratislava/Pressburg, der es genauso geht –, die ausschließlich und ausgesprochen für das russische Öl geplant worden ist, es ist also nicht so, dass ich anstelle der einen Art von Öl plötzlich eine andere zu raffinieren beginne. Dazu habe ich gestern alle im Bereich der Energetik zuständigen Fachleute zusammengerufen, damit ich in der Sache klarsehen kann, und dort wurde deutlich, dass wir dafür die Raffinerien in bedeutendem Umfang umformen müssen. Das kann Ausgaben von mehreren hundert Milliarden Forint für Ungarn bedeuten. Die EU bittet also darum, dass wir mehrere hundert Milliarden Forint für die Umformung einer Raffinerie ausgeben sollen, wonach dann das hierher ankommende Öl teurer sein wird als der in der gegenwärtigen Situation bekannte Preis. Das ist an sich schon kein sinnvoller Vorschlag, aber lassen wir das jetzt beiseite; wenn wir uns auf ein anderes System der Ölraffinerien umstellen wollen, dann müssen wir einige hundert Milliarden Forint ausgeben, sodass wir aus ungarischer Perspektive dies jetzt überhaupt nicht gebrauchen können, das muss jemand bezahlen.
Aber die Frau Präsidentin hat gesagt, sie würden dann helfen. Aber wie?
Wir werden dann gerne darüber verhandeln. Wenn wir also sehen werden, was dieser Vorschlag ist, der den ungarischen Interessen entspricht, dann werden wir natürlich mit Freuden verhandeln. Wir wollen also im Zusammenhang mit dem Ölembargo keine Entscheidung über die Russen oder über die Ukrainer treffen, sondern über Ungarn. Und der Vorschlag, der auf dem Tisch liegt, erschafft ein Problem, ein ungarisches Problem, und macht keinerlei Vorschläge für eine Lösung. Das ist aus der Perspektive der ungarischen Interessen nicht annehmbar, das ist nicht zu akzeptieren. Also, um auf den Punkt zurückzukommen, wenn wir unsere Raffinerie oder unsere Raffinerien umgeformt haben, kommt danach die Frage, wie viel das neu ankommende Öl, jetzt bereits auf eine andere Weise raffinierte Öl kosten wird. Jetzt würde es laut dem Vorschlag der Kommission bedeuten, dass morgen Früh das Benzin 700 Forint und das Dieselöl 800 Forint kosten würde. Deshalb sage ich, dass – von den industriellen produzierenden Firmen ganz zu schweigen, von denen ein Teil kaputtgeht, schließt, es gibt Arbeitslosigkeit – dies eine Atombombe ist, die sie auf die ungarische Wirtschaft abwerfen wollen, und das können wir nicht akzeptieren.
Also damit wir uns auf ein neues System der Ölversorgung umstellen können, muss nicht nur die Angelegenheit des Öls geregelt, sondern das gesamte ungarische Energiesystem muss modernisiert werden, damit es in der Lage ist, die Energie billiger herzustellen, wir müssen Paks errichten, und die Menge der Sonnenenergie vergrößern. Wir sprechen hier also über eine sehr ernsthafte Investition von mehreren tausend Milliarden Forint, denn nicht nur die Produktion, sondern der Transport, das Leitungssystem, alles muss umgebaut werden. Das haben wir schön ausgerechnet. Wir wissen genau, was wir benötigen. Zunächst einmal brauchen wir fünf Jahre.
Bis dieser ganze Prozess abgeschlossen ist, dauert es fünf Jahre, also mit dem einen Jahr und den anderthalb Jahren können wir nichts anfangen. Danach brauchen wir Geld, um die Raffinerien umformen zu können, und es sind mehrere tausend Milliarden Forint notwendig, damit wir das ungarische System des Energietransports und der Energieeinspeisung umformen können. Dazu haben wir Geld, denn die Europäische Union gibt hierfür Geld – wenn sie es gibt.
Doch dieses Geld ist nur auf dem Papier vorhanden, denn bisher haben sie es noch nicht hergegeben. Solange sie es uns nicht geben, können wir in dieser Größenordnung mit dieser Arbeit auch nicht beginnen, oder wir müssen von anderswo Geld besorgen, sagen wir vom Finanzmarkt, und dann kann dieser gesamte Prozess innerhalb von vier-fünf Jahren durchgeführt werden.
Meiner Ansicht nach lohnt es sich darüber nachzudenken, ob eine mit derartigen Kosten verbundene Umformung einen Sinn besitzt, die erst in vier-fünf Jahren die Arbeit aufnehmen kann, während der Krieg die Ursache für das Ganze ist, und den Krieg haben wir jetzt. Das sind also Gesichtspunkte, die die Ministerpräsidenten erneut gemeinsam besprechen müssen, und wenn wir den zuvor hergestellten Konsens verändern wollen, dann können wir das einstimmig tun. Hier besitzt die Meinung Ungarns genau das gleiche Gewicht in der Waagschale wie jene der Großen.
Eine einstimmige Entscheidung ist notwendig. Solange die ungarische Frage nicht gelöst ist, gibt es kein ungarisches “Ja“,
sodass ich diesen Vorschlag auch postwendend an die Frau Präsidentin zur Umarbeitung zurückgeschickt habe, wir erwarten den neuen Vorschlag.
Wir haben seitens der Europäischen Union keine Studie über die Auswirkungen gesehen. Übrigens ist nicht nur Ungarn in so einer Situation, in keiner derart ausgelieferten Lage, denn im Laufe der Geschichte hat sich das System der Leitungen so entwickelt, und es war auch klar, woher wir das Öl und das Gas erhalten, sondern es gibt auch mehrere andere Länder. Können wir in dieser Angelegenheit auf jemanden anderen zählen, der bereit ist, sein Veto einzulegen?
Am Ende pflegen wir allein zu bleiben. Es gibt also Stimmenländer, die manchmal etwas sagen, doch wenn man am Ende dort die Hand heben und sagen muss: „zurück an den Absender“, dann – ich sage nicht, es sei immer so – bleiben wir häufig allein, deshalb pflege ich auch nicht mit einem Veto zu drohen, sie sehen, ich vermeide auch das Wort, den Ausdruck, denn
ich möchte keine Konfrontation mit der Europäischen Union, sondern mit ihr zusammenarbeiten. Wir sind an einer konstruktiven Zusammenarbeit und an einem Dialog interessiert, doch ist das nur dann möglich, wenn man unsere Interessen beachtet.
Das geht nicht, dass man uns gar nicht beachtet und ohne die ungarischen Interessen zu überdenken Vorschläge vorlegt, die den früheren Vereinbarungen entgegengesetzt sind. Hier kann ich nichts tun, das muss man zurücksenden, sie sollen es umarbeiten, wir erwarten den neuen Vorschlag.
Die Senkung der Nebenkosten würde hierdurch sicherlich gefährdet werden, wenn dies die EU akzeptieren würde.
Die Senkung der Nebenkosten wäre vorbei. Wenn wir dies also akzeptiert hätten, wenn ich das also nicht gestern zurückgeschickt hätte, dann wäre hier ab dem Montag die Senkung der Nebenkosten vorbei, kann sein, dass ich übertreibe, und sie wäre ab dem Jahresende vorbei, denn die Senkung der Nebenkosten ist eine sehr komplizierte finanzielle Konstruktion, die wurde mit Hilfe der Apothekerwaage ausgeformt, wie wir die Familien schützen können, wie wir ihnen Hilfe leisten können, dahinter stecken finanzielle Berechnungen, und dies wäre vollkommen umgestoßen worden. Das kann ich den Zuhörern also mit Sicherheit sagen, wenn die ungarische Frage nicht gelöst und ein Ölembargo und später eventuell ein Gasembargo eingeführt wird, denn natürlich wird sich das dann herausstellen, denn am Ende wollen sie hierhin gelangen, wenn sie also diese Embargos einführen, dann ist es mit der Senkung der Nebenkosten vorbei. Der Kampf, den ich jetzt führe, ist der Kampf für den Schutz der ungarischen Senkung der Nebenkosten.
Der Treibstoff wird teurer, das Gas zum Heizen und für die Industrie wird teurer, die Senkung der Nebenkosten ist vorbei, doch Experten meinen, es könne auch vorkommen, dass es keine Energieträger geben wird. Dass es also einen Mangel geben wird, und wohin entschwindet dann die Sicherheit, die Energiesicherheit?
Das ist das größte Problem. Wir sprechen jetzt also darüber, was wie viel kosten wird. Doch ist die Grundfrage nicht, wie hoch der Preis sein wird, sondern ob es überhaupt welches geben wird. Und das,
was die Frau Kommissionspräsidentin jetzt initiiert hat, könnte eine Situation hervorrufen, in der es ganz einfach in Ungarn keinen Kraftstoff und auch nicht eine Reihe für die Industrie wichtiger, aus Öl hergestellter Derivatprodukte geben wird.
Deshalb sage ich aus ungarischer Perspektive noch einmal: Zurück an den Absender!
Das ist ja das sechste Sanktionspaket. Bisher hat die Europäische Union bereits fünf eingeführt. Was für Ergebnisse hatten diese fünf Sanktionspakete?
Leider wäre die gesamte heutige Sendezeit bis Mitternacht nicht ausreichend, um alle Elemente dessen zu besprechen, denn Ungarn besitzt eine ganz eigene Meinung, eine Minderheitenmeinung über diese Angelegenheit. Ich hatte bereits im Zeitraum 2014-15, als wir wegen der Annexion der Krim Sanktionen gegen die Russen eingeführt hatten, auch schon den Standpunkt vertreten, dass so wie wir das auch jetzt machen, dies uns insgesamt mehr wehtun wird als den Russen. Das trifft meiner Ansicht nach auch jetzt zu. Also
jene Sanktionen, die wir bisher eingeführt haben, haben der europäischen Wirtschaft einen größeren Schaden zugefügt als der in Russland. Ich halte es also von vornherein für kein gutes Instrument, was wir machen, doch besitzt Ungarn die Größe, die es besitzt,
sein Gewicht ist auch so groß, und außer uns gibt es noch sechsundzwanzig Länder in der Europäischen Union. Die anderen sechsundzwanzig haben ihre Meinung entweder nicht ausgeführt oder haben eine entgegengesetzte Meinung ausgesprochen. Wenn man nun sieht, dass einem auf der Autobahn alle entgegenkommen, dann ist es besser, zu überlegen, ob man nicht selbst die Richtung ändern müsste. Das ist hier die Situation. In so einer gewaltigen Angelegenheit, in der derart große Länder wie Frankreich, Deutschland, die Skandinavier, auch unsere Freunde, die Polen verrückt nach einer Sanktionspolitik sind, also wollen, fordern, offensichtlich mit großer Spannung kaum erwarten können, dass sie weitere Schritte unternehmen, denn sie sind davon überzeugt, dass dies in der Auseinandersetzung mit Russland helfen wird…
Na, aber es hat auch schon bisher nicht geholfen, sie konnten die Aggression nicht aufhalten.
…ja, aber sie glauben trotzdem daran. In solchen Momenten glaube ich, dass das Veto Ungarns, seine Fähigkeit, Angelegenheiten aufhalten zu können, in den aus ungarischer Perspektive wichtigsten Fragen aufrechterhalten werden muss, weil wir ansonsten alle unsere Freunde und Genossen in der Europäischen Union gänzlich verlieren. Also war ich entgegen meiner besten Überzeugung, aber hinsichtlich der ungarischen Interessen auf eine noch zu verteidigende Weise bereit, „ja“ zu den ersten fünf Sanktionspaketen zu sagen, doch haben wir bereits bei dem ersten Mal klargestellt, dass es eine rote Linie geben wird, sie nicht bis zu ihr kommen sollten, denn dort können wir ihnen nicht mehr zustimmen, und diese ist das Energieembargo. Danach hat sich herausgestellt, dass sie natürlich weitergegangen sind, diese Linie überschritten haben. Wir sagten „gut, bei der Kohle kann es gehen, denn das berührt Ungarn nicht, doch sind wir jetzt wirklich an der roten Linie angelangt“, das ist eine doppelte Linie, denn
das Öl- und das Gasembargo macht uns kaputt. Aber sie kommen immer weiter. Und das ist der Punkt, wo wir sie aufhalten müssen.
Es gibt auch noch einen anderen, in dem Ungarn, wenn es sein muss, bis zur offenen Diskussion gehen muss. Und das ist jenes Element des sechsten Sanktionspaketes, das auch das Oberhaupt der Orthodoxen, der russischen Orthodoxen, den Patriarchen Kyrill auf die Sanktionsliste setzen möchte. Ich habe jetzt auch einen Brief von der Gemeinde und Gemeinschaft der Orthodoxen in Ungarn erhalten, in dem sie mich bitten, hiergegen alles zu unternehmen. Es gibt jetzt also die große Angelegenheit, das ist das Öl, aber es gibt auch eine aus prinzipieller Perspektive vielleicht noch wichtigere, doch in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung doch eine andere Dimension betreffende Angelegenheit, das ist die Angelegenheit des Patriarchen Kyrill.
Wir werden es nicht unterstützen, dass man Kirchenführer auf eine Sanktionsliste setzt, das tangiert die Frage der Religionsfreiheit der Gemeinschaften in Ungarn, und diese ist heilig und unverletzbar.
Ich habe die Einspielung gesehen, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat auf einer Straßenveranstaltung, auf der man gegen ihn und die Sanktionen demonstrierte, dem einen Demonstranten zurückgerufen, er wolle keine Sanktionen, doch habe der Demonstrierende kein Mitleid mit den Ukrainern? Geht es tatsächlich darum?
Schauen Sie, von Budapest aus ist es schwer, den Wellengang der deutschen Innenpolitik zu verfolgen.
Aber man könnte eventuell auch uns sagen: „Sie, Ungarn, tun Ihnen die Ukrainer nicht leid?“
Na, darauf kann ich leichter antworten. Das pflegt man zu sagen. Jetzt hat ja jedes Land seine eigenen historischen Erfahrungen. Das hier ist ein Krieg. Wir haben Kriegserfahrungen, deshalb muss man zu Beginn klären, wer mit wem im Krieg steht, und wie unser Verhältnis dazu ist. Nach ungarischer Auffassung ist dies ein russisch-ukrainischer Krieg. Wir setzen kein Gleichheitszeichen, denn dieser Krieg hätte nie begonnen werden dürfen, und dass er anfing, geschah, weil die Russen die Ukraine angegriffen haben.
Wir vermischen also nicht die Situation der beiden einander gegenüberstehenden Seiten, doch ist das unabhängig davon noch ein russisch-ukrainischer Krieg. Das ist nicht unser Krieg. Das ist nicht Ungarns Krieg.
Wenn jetzt ein Krieg ausbricht, in dem wir nicht unmittelbar betroffen sind, muss man die Frage entscheiden, wie unser Verhältnis zu ihm ist. Nun gibt es Länder, manchmal war auch Ungarn im Laufe seiner Geschichte so ein Land, die in solchen Momenten für sich eine Seite auswählen, sich an die Seite der einen involvierten Partei stellen, doch nach meiner Auffassung und meiner Meinung nach diktiert die ungarische historische Erfahrung und der ungarische Gedankengang, dass man sich keine Seite wählen muss, sondern einen Standpunkt muss man sich wählen. Man muss bestimmen, was das ungarische Interesse ist, das dem ungarischen Interesse entspricht, und zugleich auch moralisch richtig ist, diesen Standpunkt muss man bestimmen und das muss man vertreten. Wir haben so einen Standpunkt, dieser heißt „Frieden“.
Unser Standpunkt ist also der Frieden, wir stehen nicht auf der Seite der einen oder der anderen kriegsführenden Partei, wir stehen auf der Seite des Friedens, und jeder Schritt, den ich unternehme, den die ungarische Regierung unternimmt, dient dem Ziel, dass es so schnell wie möglich eine sofortige Feuerpause gibt und so schnell wie möglich die Friedensverhandlungen beginnen.
Unser Standpunkt war dies auch bereits vor dem Krieg, deshalb bin ich nach Moskau auf eine Friedensmission gegangen, um mich auf die Seite des Friedens stellend irgendein Ergebnis zu erreichen. Nun können wir sehen, wohin wir gelangt sind, wir haben keinen Erfolg gehabt. Es ist vielleicht zu einem gewissen Grad wichtig anzumerken, dass nicht nur ich keinen Erfolg hatte, sondern auch der französische Präsident und auch der deutsche Bundeskanzler nicht.
Es gelang also nicht, die jüngsten Ereignisse der europäischen Geschichte auf der Seite des Friedens zu halten. Man muss aber den Standpunkt des Friedens nicht aufgeben, meiner Ansicht nach muss man dafür kämpfen, dafür streiten, dass sich der Standpunkt des Friedens durchsetzt. Und Ungarn muss diesem Krieg fernbleiben. Ich bin nicht dazu bereit, ich sage dies geradeheraus,
weder den amerikanischen noch den deutschen Interessen und auch denen keines anderen europäischen Landes, selbst denen unserer besten Freunde zu folgen und sie mit dem ungarischen Interesse gleichzusetzen, wenn diese dem ungarischen Interesse entgegengesetzt sind.
Wir sagen lieber geradeheraus, dass wir nicht so denken, wir das nicht wollen, wir diesem Krieg fernbleiben wollen. Wir besitzen ein Herz, auch uns hat eine Mutter geboren, wir sehen die leidenden Menschen, wir leisten die größte humanitäre Hilfe Ungarns aller Zeiten, 600, langsam 700 tausend Flüchtlinge aus der Ukraine lassen wir ohne Vorbehalte herein, um deren Versorgung wir uns kümmern müssen, wir sorgen dafür, dass die Kinder in die Schule gehen. Wir haben jetzt auf einer Unterstützerkonferenz in Warschau 37 Millionen Euro zugesagt, die wir dann für die ukrainischen Flüchtlinge aktivieren werden. Wir errichten auch gerne Krankenhäuser und Schulen auf dem Territorium der Ukraine, um ihnen zu helfen. Die gesamte ungarische Gesellschaft hat sich bewegt, ich spreche hier nicht nur über die ungarische Regierung. Die Ungarn haben das in Klammern gesetzt, wie die Ukrainer in den vorhergehenden Jahren mit den Ungarn umgegangen sind, denn jetzt sehen wir den leidenden Menschen, jetzt wollen wir keine politischen Diskussionen führen, nicht jetzt muss ausdiskutiert werden, warum man die Möglichkeit zum Unterricht in der Muttersprache weggenommen hat, warum sie den Ungarn etwas antun, weil diese Ungarn sind, das können wir später diskutieren, jetzt sehen wir fliehende, leidende Menschen, besonders Frauen und Kinder, und wobei wir ihnen helfen können, dabei helfen wir ihnen. Frieden – wir stellen uns hin und helfen.
Interessanterweise sagen auch sehr viele europäische Politiker, sie stünden auf der Seite des Friedens, zugleich schicken sie Waffen. Es ist also sehr schwer, jene alte Wahrheit zu erklären, ob es denn so sei, dass wer Waffen schickt, der will nicht den Frieden.
Ungarn schickt keine Waffen, denn nach unserer Auffassung nähern wir uns damit nicht dem Frieden, sondern entfernen uns von ihm, und andererseits, nach unserer Ansicht handelt sich der, der Waffen liefert, selber Probleme ein, besonders wenn er ein Nachbar eines im Krieg stehenden Landes ist, Ungarn ist also so ein Land. Jetzt hat man auch schon nach Transkarpatien hineingeschossen. Transkarpatien ist also innerhalb der Feuerreichweite angekommen, weil jemand – das waren nicht wir – Waffen geliefert hat oder sich darauf vorbereitete, Waffen zu liefern, und die Russen werden jene Verkehrsknotenpunkte, in erster Linie jene der Eisenbahn, wo solch ein Umpacken und so ein Transport geschieht, werden sie abschießen. Und das ist jetzt das erste Mal geschehen, doch wird das auch im Weiteren so sein.
Wer also jetzt dorthin in die Ukraine Waffen hineinliefert, der bringt die Ukraine innerhalb der Feuerreichweite, und macht aus der Ukraine sowie den dort lebenden Menschen Zielpunkte.
Ungarn möchte das Gegenteil tun. Für uns ist die Ukraine, innerhalb der Ukraine ist uns Transkarpatien besonders wichtig. Es ist wichtig, dass Transkarpatien nicht zerstört wird, in Transkarpatien soll es keine Menschenopfer geben und der Krieg soll möglichst von unseren Grenzen fernbleiben.
Unter solchen Umständen müssen Sie über die Bildung der neuen Regierung Gespräche führen. Wie steht es um diese Gespräche? Und kann man schon etwas sehen, ob und wie sich die Struktur der Regierung verändert?
Wir sind noch mitten im Walde, ich sehe also weder nach vorne noch zurück vollkommen klar, doch weiß ich, warum ich da bin, wo ich bin, in dieser Arbeit. Dies werde ich erzählen, wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.
Eine Regierung pflegen wir so zu bilden, also die christdemokratischen nationalen Regierungen kommen auf die Weise zustande, indem wir zu verstehen versuchen, was für Herausforderungen auf uns in den kommenden vier Jahren warten.
Hier ist ja, nicht wahr, die Migrationskrise mit uns, diese wird bleiben, das wird meine Bewertung sein, ja der Druck wird sogar aus dem Süden zunehmen. Mit dem Embargo gegen die Russen werden wir das russische Getreide vom Weltmarkt ausschließen, wegen des Krieges fällt das ukrainische Getreide aus, es wird in zahlreichen Gebieten der Welt Hungersnöte geben, aus denen auch bisher schon Migranten nach Europa kamen, dieser Druck wird zunehmen. Ich möchte, dass Ungarn sich selbst schützen kann, wir müssen also die Verteidigung gegen den Migrationsdruck verstärken. Das ist die erste Gefahr.
Die Pandemie ist noch nicht vorüber, und es hat sich herausgestellt, dass wir, dass die ganze Welt auf so eine Epidemie nicht vorbereitet ist. Wenn eine neue kommt, dann muss man sich auch auf diese vorbereiten, der Fragenkreis der Pandemie bleibt also auch Teil des Denkens und der Arbeit der Regierung.
Und die dritte Gefahr, dass der Krieg hier ist. Eine gefährliche Welt umgibt uns jetzt also. Diese Gefahren treten gemeinsam auf.
Man muss eine Regierung bilden, die in der Lage ist, Ungarn vor diesen Gefahren zu schützen.
Ich komme immer mit jedem Minister und Staatssekretär für vier Jahre überein. Ich habe mich jetzt auch bei allen für ihre Arbeit bedankt, ein jeder hat seine Arbeit anständig und ehrlich verrichtet, ich bin auch persönlich stolz darauf, mit diesen Menschen zusammengearbeitet zu haben, und jetzt bilden wir eine neue Regierung, in der zur Teilnahme keinen Rechtsanspruch darstellt, dass jemand der vorherigen Regierung angehörte, denn deren Geschichte ist vorbei. Und jetzt beginnt eine neue Geschichte, und diese Arbeit ist keine Anstellung, sondern Berufung und Dienst, und dementsprechend, was für Herausforderungen kommen, muss man dann entsprechend den Antworten, die man auf diese geben muss, der Heimat dienen. (…)
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