5.Oktober, 2020, Budapester Zeitung von Irén Rab
Glauben wir bloß nicht, dass Vera Jourova uns – die Ungarn – auf dem Kieker hat und nur in uns und in unseren polnischen Freunden die einzigen Verletzer der Europäischen Werte zu sehen glaubt. In ihrem der EU Kommission neulich vorgelegten Bericht über die Rechtsstaatlichkeits tadelte die Kulturanthropologin (früher Ethnologin genannt) auch die deutsche Justiz, dort müssten einige Dinge ebenso reformiert werden. Das Gute ist, dass das Wissensspektrum dieser Dame so breit sein soll, dass sie das Recht aus dem Effeff kennt (sie hat es schließlich an der Seite von Juncker gelernt), und sich um europäische Werte, sowie um Reinheit und Transparenz der Prozesse kümmert. Sie weiß aus eigenen Erfahrungen, was Korruption ist und kennt die Welt hinter den schwedischen Gardinen von innen.
Jourova ist sich sicher, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist, gleichzeitig meint sie, dass die Justizminister der Bundesländer zu viel Macht innehaben, weil sie bei Straftaten in die Ermittlungsphase eingreifen können und den Staatsanwalt unmittelbar anweisen dürfen. Bereits diese Tatsache kann der Unabhängigkeit der Justiz Schaden zufügen, und weil die Minister in der Regel aktive Politiker und an der Ernennung von Richtern tatkräftig beteiligt sind, um Gottes Willen, es ist gefährlich darüber nachzudenken, was alles dabei herauskommen könnte.
Ich weiß zum Beispiel nicht, ob diese bestehende Justizstruktur echte Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Deutschland aufwerfen könnte? Sicher nicht, weil diese Minister absolut unparteiisch sein sollte und niemals durch gezielte Weisungen an Staatsanwälte in Strafverfahren eingreifen; sie sind ja die unumstößlichen Hüter des Rechts und der Gesetzlichkeit. „Allein der böse Anschein, dass die Minister Ermittlungen in die eine oder andere Richtung lenken könnten, beschädigt das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Strafjustiz”, sagt selbst der Präsident des Deutschen Richterbundes, also muss auch der Anschein von Einfluss verhindert werden. Noch bevor der Bericht offiziell eintraf, forderte der Präsident die Beteiligten auf, die seit langem bekannten Mängel in der Justizstruktur zu beheben. Ich glaube zwar nicht, dass das passieren wird, aber es klingt sehr nett und kooperativ.
Jourova tadelte auch, dass bestimmte Prozesse in Deutschland bereits in erster Instanz viel zu lange dauern und man auf das Urteil viele Jahre warten muss. Das liegt zum Teil daran, dass die Gerichte mit Asylverfahren und zunehmender Kriminalität schlicht überfordert sind. Das könnte die Entschuldigung für die Deutschen sein, und die Europäische Kommission würde dies sicherlich akzeptieren. Ein viel größeres Problem sieht die Vizepräsidentin allerdings im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai dieses Jahres, welches eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aufgehoben und formell für fehlerhaft erklärt hat. Mit dem Beschluss der deutschen Verfassungsrichter wurde das Recht der Mitgliedstaaten über das europäische Recht gestellt. Wie würde es aussehen, sagt Jourova natürlich vollkommen unvoreingenommen, wenn wir dieses Urteil akzeptieren würden, denn dann wären wir mit Ungarn und Polen im gleichen Boot! Was wäre, wenn dieses Urteil einen Präzedenzfall geschaffen hätte und die V4 Staaten ermutigen würde, selbst einige der Urteile des Luxemburger Gerichts in Frage zu stellen? Das hätte unabsehbare Folgen für die Legitimität der EU!
Was auch immer Jourova sagt, überall steckt Ungarn dahinter. Hier ist zum Beispiel die Mediengeschichte. Unabhängige Medien in ganz Europa stehen unter starkem wirtschaftlichen Druck, die Anzeigenkundenzahlen sinken in den Keller, weil alles von den sozialen Medien aufgesogen wird. Zum wirtschaftlichen Druck gesellt sich politischer Druck, selbst in den sehr entwickelten westlichen Demokratien. Die Unabhängigkeit der Medien besteht heute nur noch in ihrem Namen, in ihrem Inhalt lange nicht mehr, die deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten senden Regierungspropaganda und die „unabhängigen“ Zeitungen hämmern politisch orientierte Meinungen in die Köpfe ihrer Leserschaft. Es heißt dort Qualitätsjournalismus. Doch Jourova ist am meisten über die ungarischen Medien besorgt und teilt mit, dass der Gründung staatsnaher Medienholdinggesellschaften entgegengewirkt werden soll, dies unter dem Vorwand eines Verstoßes gegen das europäische Wettbewerbsrecht.
Die Vizepräsidentin macht sich jedoch überhaupt keine Sorgen um die deutsche Demokratie. Obwohl sie sich durchaus Sorgen machen könnte, denn laut Umfragen wagen es 70 Prozent der Deutschen nicht (mehr), ihre Meinung frei zu äußern, sie haben Angst, dass dies zu Nachteilen bei ihrer Arbeitsstelle oder anderswo führen könnte. Es gibt immer mehr Tabu-Themen, über die sie nicht zu reden wagen. Man kann die Migration, die epidemiologischen Maßnahmen, die Ausbreitung unterschiedlicher Geschlechteridentitäten, die Klimabewegung und Merkels Politik nicht kritisieren. Aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten gehen Familienbeziehungen und Freundschaften zugrunde.
Die Situation unter jungen Menschen ist auch nicht besser. Die Shell-Studie von 2019, die ihre politischen Interessen untersuchte, zeigt, dass vier Fünftel mit der Demokratie zwar zufrieden sind, aber laut ihrer Antworten auf die einzelnen Fragen glauben viele, dass sie in einer Meinungsdiktatur leben, zum Beispiel weil sie es nicht wagen, sich über Ausländer negativ zu äußern, damit sie nicht als Rassisten gebrandmarkt werden. Das alles ist das Ergebnis eines links-grünen Meinungsterrors.
Die freie Meinungsäußerung ist ein demokratisches Grundrecht, das durch den fünften Paragraph des Deutschen Grundgesetzes garantiert wird, aber die Garantie gilt in der Realität nicht mehr wirklich. Vor einem Jahr führte der Bundestag eine gesonderte Debatte zu diesem Thema, weil das Problem die Grenzen des deutschen Rechtsstaats zu sprengen drohte, aber die Abgeordneten waren kaum daran interessiert, der Plenarsaal war gähnend leer. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, Mitglied im Präsidium der FDP, fragte sich, woher dieses Demokratiedefizit in Deutschland stammen könnte. Er suchte die Ursachen für den Vertrauensverlust in den Fehlern der Politik, Gesellschaft und Medien – „Es würde den Tod der Demokratie bedeuten, wenn wir es nicht mehr wagen würden, unsere Gedanken frei zu äußern.“ – und schrieb ein Buch über die Probleme. Der Titel des Buches spricht für sich: „Meinungsunfreiheit. Gefährliches Spiel mit der Demokratie.“
Während die Deutschen also mit der Demokratie herumspielen, zeigen sie ständig mit dem Finger auf uns, die Ungarn; sie brauchen wohl eine Projektionsfläche. Wenn sie nur ein bisschen Ungarisch verstehen könnten, wüssten sie, dass wir eine echte Oppositionspresse haben, sie nennen sich selbst genau so und vermehren sich durch Teilung. Wenn ein Nachrichtenportal zu verschwinden droht, entstehen zwei davon. Ein unabhängiges ungarisches Gericht hat trotz politischem Druck und dem Gerechtigkeitsgefühl der Gesellschaft neunundneunzig Millionen Forint als Schadenersatz für schulschwänzende segregierte Roma zugesprochen. Jeder kann seine Meinung, sogar auch in einer Fäkalsprache äußern, die „eingeschüchterte“ Opposition kann die Regierung und den Ministerpräsidenten mit den unflätigsten Wörtern beschimpfen (das gilt in Deutschland als Straftat) und die jungen Studenten der Schauspieluniversität verbarrikadieren sich in ihrer „Wahnsinnsangst vor der Macht“ bereits seit einem Monat ohne jegliche Retorsionen in ihrem Unigebäude. Denn so geht es in Ungarn, in dieser „kranken Demokratie“ zu.
Gefährliches Spiel mit der Demokratie
https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20201005-beteg-demokracia Übersetzung von Andrea Martin