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„Für mich ist Ungarn das interessanteste Land Europas“

22. April 2022 Weltwoche von KURT W. ZIMMERMANN

Vor drei Jahren habe ich mir ein Haus in Budapest gekauft. Für mich ist Ungarn das interessanteste Land Europas. Wenn man als Autofahrer in Zürich sozialisiert wurde, so wie ich, dann ist Budapest eine Art Vergnügungspark. Die Strassen in der Innenstadt sind hier beiderseits und lückenlos von Parkplätzen gesäumt. Auf allen Strassen der City gibt es massenhaft Parkplätze, bei schmalen Strassen auf einer Seite, bei etwas breiteren Strassen auf beiden Seiten. Sogar auf Budapests Prunk-Boulevard, dem Andrássy út, gibt es links und rechts Parkplätze ohne Ende. Auf Zürich übertragen hiesse dies, dass an der Bahnhofstrasse beidseitig und durchgehend Parkplätze angelegt wären. Und dazwischen staute sich der Verkehr.

Geist von Eigenwilligkeit

Es ist ein alltägliches Beispiel, aber es zeigt ganz gut, was Ungarn ausmacht. Ungarn funktioniert gegen den Strich. Man könnte auch sagen: Der europäische Mainstream des richtigen Denkens und Handelns fliesst an Ungarn vorbei, wie die Donau hier vorbeizieht.

Die grossen und links-grünen Mainstream-Themen Westeuropas plätschern hier weitgehend spurlos vorbei. Es gibt kaum Applaus für das Gender-Gebot, das Energiewende-Gebot, das Gebot der offenen Grenzen, das Gebot der politischen Korrektheit und kaum Applaus für Skepsis gegenüber Patriotismus, Konservativismus, Religion und Tradition.

Ungarn hat etwas Archaisches. In der Luft liegt nicht der moderne Zeitgeist der schrankenlosen Toleranz, sondern der Geist von Eigenwilligkeit, Trotz und nationalem Stolz.

Ich habe mir vor drei Jahren ein Haus in Budapest gekauft, etwas ausserhalb, auf einem Hügel im Stadtteil Csillaghegy. Seitdem bin ich häufig in Ungarn und blicke mit Faszination wie Verwunderung auf diese Nation.

Ich glaube, es gibt derzeit kaum ein anders Land in Europa, das so interessant ist, politisch wie kulturell.

Gestern war ich unten in der City. In einem Strassencafé habe ich einen Flüchtling aus der Ukraine kennengelernt. Er hatte seinen kleinen Foxterrier dabei. Er erzählte mir, wie seine Wohnung zerbombt wurde und sich sein Hund dabei das Bein verletzte. Er trug seinen Foxterrier dann sechs Kilometer weit zum Haus seiner Schwester. Dort nahmen sie das Auto und entkamen nach Budapest. Er wohnt nun bei einer ungarischen Familie, die den beiden ein Zimmer zur Verfügung stellt. Tausende haben das Gleiche getan.

Über eine halbe Million Flüchtlinge sind bisher gekommen. Manche meiner Freunde in der Schweiz haben sich gewundert, wie grossherzig die Ungarn auf die Flüchtlingskatastrophe in der Ukraine reagierten. Sie hatten aufgrund ihrer früheren Migrationspolitik etwas anderes erwartet. Der Unterschied ist schnell erklärt und

geht auf diesen ungarischen Charakterzug der Auflehnung zurück. Wenn man den Ungarn sagt, was sie gefälligst zu tun haben, dann schalten sie in den Modus der Rebellion.

2015 war Ungarn für die EU «die Schande Europas», weil Ungarn die Grenzen für muslimische Wirtschaftsmigranten dichtmachte. Ministerpräsident Viktor Orbán war nie populärer als damals, weil er sich von aussen nicht auf die Kappe scheissen liess.

Bei Ungarn, sagen die Ungarn, entscheiden wir Ungarn allein.

Derselbe Reflex zeigte sich auch zuletzt. Mehrere EU-Staaten forderten Ungarn auf, Waffentransporte durch sein Land in die Ukraine zu erlauben. Nicht euer Bier, nicht unser nationales Interesse, kam sofort die Absage. Am EU-Gipfel von letzten Wochen kämpfte Orbán am heftigsten von allen gegen Sanktionen von russischem Gas und Öl. Nicht im nationalen Interesse.

Richtige Haltung in Sexfragen?

Ein besonders typisches Beispiel für ihre trotzige Zeitgeistverweigerung lieferte die ungarische Regierung mit ihrem Gesetz zum Jugendschutz.

Es verbietet Magazine, Videos und Werbung zu Homo- und Transsexualität in Schulen und anderen Bereichen, die für Minderjährige leicht zugänglich sind.

Wer älter als achtzehn ist, kann hingegen problemlos als lesbisch, gay, bisexuell, trans und queer auftreten und dazu jede Menge an LGBTQ-Anschauungsunterricht konsumieren. Die EU-Kommission griff natürlich sofort auf ihren üblichen Wortschatz zurück und bezeichnete das Gesetz als «Schande». Es diskriminiere die Homosexualität.

Die Ungarn sind, vom kleinen Alltag bis in die grosse Politik, eine konfliktfreudige Spezies.

Am 3. April fanden in Ungarn nicht nur die Parlamentswahlen statt. Es gab gleichzeitig auch eine Volksabstimmung über dieses sogenannte Homosexuellen-Gesetz. Es braucht nicht viel Fantasie, um den Ausgang des Referendums vorherzusagen.

Wenn sie in Brüssel und Berlin den Ungarn vorschreiben wollen, was die richtige Haltung in Sexfragen ist, dann spielt der ungarische Autonomie-Reflex: Ihr könnt uns mal.

Kernkraftwerke und Autobahnen

Ungarn erinnert mich in vielem an die Schweiz der sechziger Jahre, in der ich aufgewachsen bin. Die Schweiz war damals eine sehr selbstbewusste Nation. Sie war stolz darauf, dass sie anders war. Das Bankgeheimnis war heilig. Die bürgerlichen Parteien kamen auf über 70 Prozent der Stimmen. Die Staatsquote war halb so hoch wie heute. Die Armee war eine der grössten in Europa. Die Neutralität war unantastbar. Man fühlte sich mit Stolz als Sonderfall.

In Ungarn ist es heute ähnlich. Auch hier sieht man sich als stolzen Sonderfall, auch wenn dessen Prioritäten etwas anders liegen. Man baut hier zum Beispiel zwei neue Kernkraftwerke, während sie anderswo den Atomausstieg vorantreiben. Man baut hier neue Autobahnen, während sie anderswo Velowege finanzieren. Man fördert hier Familien mit viel Geld, und die Geburtenquote steigt, während anderswo Babyflaute herrscht. Man führt hier eine Flat Tax von 15 Prozent auf allen Einkommen ein, während anderswo Steuererhöhungen üblich sind.

Wir machen es anders, sagen viele Ungarn, wie es früher die Schweizer sagten, aber wir machen es richtig.

Dieses Selbstbewusstsein der Ungarn ist relativ neu. Lange litten sie, als Spätfolge des Kommunismus, unter Minderwertigkeitsgefühlen. Vor allem ökonomisch ging es überhaupt nicht voran. Hunderttausende von Ungarn, darunter viele Akademiker, wanderten in Länder wie Deutschland und Grossbritannien aus. Noch 2009 musste die Europäische Zentralbank ein Hilfspaket für das marode Ungarn schnüren.

Inzwischen boomt das Land. Im letzten Jahr wuchs das Inlandprodukt um gewaltige 7,1 Prozent. Die Löhne steigen stetig, die Immobilienpreise explodieren.

Das grösste Problem der ungarischen Wirtschaft ist der Arbeitskräftemangel. Ich erlebe das dauernd. Wenn ich in Budapest einen Sanitär oder einen Elektriker brauche, weil die Dusche oder die Gartenbeleuchtung defekt ist, dann klappere ich ein Dutzend Unternehmen ab. Ich bin schon froh, wenn dann endlich einer sagt: «Okay, in zwei Monaten kommen wir vorbei.»

Mehr noch als der wirtschaftliche Aufschwung hat Orbáns Migrationspolitik das neue Selbstbewusstsein der Magyaren gestärkt. Als sie 2015 die Balkanroute mit ihrem Zaun abriegelten, waren sie für die EU ein unmenschliches Verbrecherregime.

Heute sind sich die Ungarn sicher, dass sie damit Europa gerettet haben. Sie sehen sich seitdem als geistige Führungsnation. Um das Richtige zu tun, sagen sie, darf man auch heftige Konflikte nicht scheuen.

Die Ungarn, ich kann es bestätigen, sind, vom kleinen Alltag bis in die grosse Politik, tatsächlich eine konfliktfreudige Spezies. Ich erlebe das täglich hier. Wenn ich mich mit dem Blinker in eine fahrende Autokolonne einreihen möchte, wird diese territoriale Attacke mit wilden Hupkonzerten und wilden Drohgebärden zurückgeschlagen. Das Anstehen an der Ladenkasse ist ebenfalls eine Fortsetzung eines Guerillakriegs mit anderen Mitteln.

Im Parlament fliegen die Fetzen genauso. Ausdrücke wie «Behinderter» oder «Vollidiot» oder «Faschist» oder «Pädophiler» gehören zum Vokabular. Ein schönes Beispiel lieferte kürzlich auch Péter Márki-Zay, der oppositionelle Gegenkandidat von Orbán bei den bevorstehenden Wahlen. «Goebbels wäre stolz auf Viktor Orbán», sagte er.

Mär der kontrollierten Medien

Ähnlich heftig geht es in den Medien zu, die ich als Medienkolumnist natürlich mit Interesse verfolge. In unseren Blättern lese ich immer wieder, Orbán habe die Medien unter seine Kontrolle gebracht. Ich weiss auch nicht, wer diese Mär erfunden hat. Das ziemliche Gegenteil trifft zu, wie man zuletzt auch im Wahlkampf sehen konnte.

Praktisch alle grossen Medien Ungarns sind Orbán-kritisch bis Orbán-feindlich. RTL, der grösste TV-Sender des Landes, ist sehr regierungskritisch.

Anti-Orbán ist auch Ringiers Blikk, das grösste Boulevardblatt des Landes. Die grösste klassische Tageszeitung, die Népszava, genauso wie das grösste Newsmagazin HVG, feuern aus allen Rohren gegen Orbán. Das grösste ungarische Newsportal 24.hu hasst ihn bis aufs Blut.

Natürlich hat auch Orbán seine publizistischen Truppen. Es sind vor allem die regionalen Blätter und Radios, wo sich rund fünfzig Medienhäuser zu einem Orbán-Block zusammengeschlossen haben. Hier auf dem Land holt sich seine Fidesz-Partei ihre Stimmen. Der Tonfall in den Medien ist ebenso direkt wie der Tonfall in der Politik. Meine liebste Schlagzeile stammt aus dem Boulevardblatt Blikk. Die Schlagzeile stand riesig auf der Frontseite. Sie lautete: «Orbán ist Sperma!» So tönt Ungarn.

Dieser Artikel erschien am 1. April in der Weltwoche mit dem Titel „Mein Leben im wilden Osten“

6 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Zimmermann,
    wir freuen uns Sie als Mitbürger und Hausbesitzer in Budapest begrüssen zu können. Ihr Schreiben ist wohlwollend und mit tiefer Sympathie gegenüber Ihrer zweiten (Wahl-)Heimat. Erlauben Sie mir aber Ihren Standpunkt an einigen Stellen zu korrigieren. Sie Schreiben :
    „Der Unterschied ist schnell erklärt und geht auf diesen ungarischen Charakterzug der Auflehnung zurück. Wenn man den Ungarn sagt, was sie gefälligst zu tun haben, dann schalten sie in den Modus der Rebellion.“
    In der Geschichte rebbellierten oft die Ungarn gegen die Besatzer des Landes, gegen die Türken, die Österreicher, die Deutscher, die Sovjets. Vielleicht daraus entstand ein Reflex der heutigen, jetzigen Zuschauer, die Ungarn, als grundaus rebellierende, eigenwillige Nation und die Haltung der Orban-Regierung zu beschreiben. Bei aller Achtung Ihres Standpunktes lassen Sie mir meine Version vortragen: ES LIEGT NICHT AN DEN CHARAKTERZÜGEN DER UNGARN, SONDERN DIE ÜBERWIEGENDE MEHRHEIT DER UNGARN (UND DIE – GOTT SEI DANK- WEITERHIN REGIERENDE FÜHRUNG DES LANDES) HAT DEN NORMALEN MENSCHLICHEN VERSTAND – GEGENÜBER VIELEN WESTEUROPAEISCHEN NATIONEN) NOCH NICHT VERLOREN.
    Wir lehnen grundsätzlich nicht alles ab, weil es von aussen, von anderen vorgeschlagen, empfohlen oder – im schlimmsten Fall aufgezwungen – wird, falls es mit dem Interresse der Nation, oder unser gemeinsamen Heimat Europa übereinstimmt. Wir sind aber überzeugt, dass all die Fragen, in denen Ungarn und die EU in Konflikt geraten sind, nach einem – von uns nicht gewünschten – Sieg der EU in den totalen Abgrund und zurm Verschwinden des heutiegen/früheren Europas führen.. Das bezieht sich auf fast alle Gebiete, wie äthnische, demographische, kulturelle, wirtschaftliche, usw. Fragen die sogar schon einzeln, aber so gemeinsam 100 %-ig – und leider nicht mal langfristig – alles aus unserem gemeinsamen Kultur- und Erbgut vernichten.
    Glauben Sie mir (und das ist die Kernfrage, weshalb ich mich anmasste Ihren Gesichtspunkt ein wenig anzuzweifeln) die Ungarn und die ungarische Regierung wären heilfroh Direktiven aus Brüssel zu übernehmen, die der Bewölkerung Europas dienten und nützlich wären. Als Ungarn sich der EU anschloss, wir haben nicht die kleinste Ahnung davon gehabt, dass 10 Jahre später gut(oder schlecht)mütige Idioten und politische Gangster den Ruder an sich reissen und die von uns bewunderte EU in jeder Hinsicht ruinieren. Uns schwäbten noch Personen vom Format, wie in Deutschland Brandt, Schmidt, Kohl, in Frankreich de Gaulle, Chirac, in England Tacher vor und es war wünschenswert in diesen feinen Klub einzutreten. Wir haben die Eintrittskarte verdiehnt, wir haben viele Jahrhunderte lang genug Blut vergossen um dem westlichen Teil Europas von barbarischen Horden zu schützen und um eine kontinuierliche Entwicklung – die uns nicht zuteil wurde – zu ermöglichen..
    Nochmal auf die personelle Frage zurückzukommen: Sie brauchen dagegen heute nur einen Blick auf die Parlamentsmitglieder der EU werfen, Sie würden von der überwiegenden Mehrheit nicht einmal einen kleinen Krämerladen betreiben lassen.
    Wir fühlen uns, wie der Kerngesunde, der ins Irrenhaus eingesperrt wird. Leider wird der Gesunde in solchem Falle nach geräumer Zeit, wenn genug lang unter Wahnsinnigen ist, an sich zu zweifeln: bin ich, oder die Anderen die Irren? Wir müssen noch die Zeit nützen, bis wir selbst noch nicht vom Wahnsinn befallen werden. ….

  2. Sehr geehrter Herr Zimmermann! Danke für diesen Artikel, den ich als Deutsche und fast ein halbes Jahrhundert in Ungarn lebend, voll und ganz unterzeichne. Gern würde ich ihn meinen Bekannten und Verwandten in Deutschland schicken, aber die sind zum Großteil so medienverblendet, dass ich dort auf taube Ohren und Hirne treffe.
    Sollten Sie irgendwann mal wieder einen Installateur benötigen, wenden Sie sich getrost an mich, ich kenne einen nicht weit von Csillaghegy entfernt.
    Es grüßt Friederike Megyery

  3. Lieber Herr Zimmermann,
    danke für den Artikel, der so gut tut. Seit einem Jahr leben wir nun in Ungarn; haben alle Zelte und Verbindungen nach Deutschland abgebaut. In diesem Land zu leben, bringt Lebensqualität zurück, die lange verloren war.
    Wir können nur Danke sagen für die freundliche Aufnahme und Hilfsbereitschaft unserer ungarischen Nachbarn und Bekannten. Wir wurden schnell aus Fremden Freunde. Die Wesensmerkmale der Ungarn scheinen auch in unseren Genen verankert, wir lieben diese Art zu leben, zu denken und zu handeln. Leider begrenzt uns die Sprache noch ein wenig.
    Alles in Allem: Lang lebe Ungarn; Gott schütze Ungarn, die Nation , die Menschen und die Regierung.
    Schade, dass Sie soweit weg sind; sollte Sie der Weg an den Westbalaton führen, sind Sie und herzlich willkommen.
    Liebe Grüße
    Werner und Gisela

  4. Lebe seit 1998 in Ungarn und staune nur wie sich dieses Land entwickelt hat,musste 1999 wegen einer Krebserkrankung operiert werden(incl.Chemotherapie)und bekam einen Schreck,als ich das Krankenhaus betrat,an der Decke liefen rostige Rohre,Putz an den Wänden bröckelte ab usw usw!Die Op war Erfolgreich und ich sah,wie von Jahr zu Jahr die Uni-Klinik in Debrecen sich zum Vorteil veänderte!Heute,ist es ein Augenschmaus zu sehen,was alles gemacht wurde!Termine für CT,MRT und Körper-Scan werden innerhalb von 14 Tagen und früher ausgegeben!Auch die ganze Situation Verkehr,Industrie usw usw ist gewachsen,wenn ich mal in Deutschland bin und mir das dort alles anschaue,freue ich mich auf die Rückkehr in meine neue Heimat!

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