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Für meine Kinder und Enkelkinder – Hoztam utat

7. November 2021 eine Gastrezension von Zoltán W.-Nemessuri

Krisztina Wébers neues Buch “Hoztam utat” (‘Ich überbringe den Weg’) hat uns den Weg nicht nur überbracht, sondern stellt ihn uns auch dar. Als Angehörige einer seit Jahrhunderten ansässigen donauschwäbischen Familie zeigt uns die Autorin die Vergangenheit von innen heraus, mit einer verblüffenden Glaubwürdigkeit und auf dem Thema angemessenen Niveau. Nicht zufällig beginnt sie ihr Werk mit einem Zitat Hermann Hesses“Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.”

Die kurz abgehandelte Vorgeschichte umfasst einen Zeitraum von fast eintausend Jahren.

Im Jahr 1140 siedelte der ungarische König Géza II. zum ersten Mal Volksgruppen aus dem Rhein-Mosel-Gebiet in Siebenbürgen an, gemeinsam mit dem Deutschen Orden. Der nächste Schub folgte 1224, auf einen Beschluss von Andreas II. hin. Den einsiedelnden Sachsen gestand der König mittels eines Großen Freibriefes ein eigenständiges Rechtssystem und eine autonome Verwaltung zu, welche ihre Entwicklung mehr als 800 Jahre lang förderten. Diese Sachsen können als die Begründer des Zunftwesens in Ungarn betrachtet werden. Die eingewanderten Sachsen (Zipser) sind in Oberungarn (heutige Slowakei) und in Siebenbürgen auch heute noch als Städtebauer bekannt. Nur wenige Menschen wissen, dass die in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Siebenbürgen erbaute Martinsberger Kirche von Brassó/Kronstadt (Brașov) der östlichste gotische Dom Europas ist, das letzte Denkmal des Katholizismus auf der Landkarte.

Nach der Rückeroberung der Budaer Burg von den Türken,

ab 1686 kamen in mehreren Wellen deutschsprachige Siedler in verschiedenen Regionen Ungarns an

unter ihnen auch die Vorfahren Krisztina Wébers. Ihr Vieh und Werkzeug luden sie im Hafen von Ulm auf Boote, gingen an Bord und machten nicht Halt, bis sie in Harta im Komitat Bács-Kiskun angekommen waren. Die Vorgeschichte dessen waren der Dreißigjährige Krieg und die regelmäßigen Einfälle der Franzosen, die schreckliche Blutopfer gefordert hatten, sodass die katholischen Donauschwaben ihren Glauben an den Augsburger und den Westfälischen Friedensschluss verloren.

Diese Ereignisse werden von Krisztina Wéber eingehend behandelt, einschließlich der hohen Opferzahlen und der rasanten Verarmung der Bauern und Handwerker.

Zehntausende Deutsche trafen zu dieser Zeit den Entschluss, auszuwandern und Ungarn zu ihrer neuen Heimat zu machen.

Ihr christlicher Glaube, legendärer Fleiß sowie ihre Beharrlichkeit und ihr Sachverstand, der ganze Regionen aufblühen ließ, erleichterten die Integration. Die Einwanderer besiedelten hauptsächlich die durch die Türken verwüsteten Gebiete und wurden für längere Zeit von der Steuer befreit, um ihre Gutshöfe aufbauen zu können. Später durften sie sich allerdings nur noch entfernen, nachdem sie eine Ablösung ihrer Leibeigenschaft gezahlt hatten und wenn sie einen Wegzugsbrief, also eine schriftliche Genehmigung ihres Gutsherren vorzeigen konnten.

Das rege Treiben am Hafen von Ulm, die bis zum Rand vollgepackten Karren, das Durcheinander verschiedener Mundarten, die Möbel, landwirtschaftlichen Geräte, Fässer, Säcke von Saatgut, Hühner, Schweine, Pferde und Kühe, mit denen die Boote rappelvoll beladen wurden… Krisztina Wéber beschreibt diese Vorbereitungen so lebendig, als wäre sie selbst dort gewesen.

Die Schwaben von Harta konnten schon wenig mehr als zehn Jahre nach ihrer Ankunft in eigens erbauten Steinkirchen ihre Gebete sprechen, und während des Freiheitskampfes von 1848-49 stellten sie auf eigene Kosten ein Husarenregiment auf.

Die Erzeugnisse der aufblühenden Ortschaft, ihre verschiedenen Fleischwaren, Würste und Aufschnitte erlangten einen so guten Ruf, dass sie auf Märkten und in Fleischereien noch heute eine eigene Kategorie darstellen.

Der Fleiß und Sachverstand der Schwaben ist auch für eine Familiengeschichte charakteristisch. Die Autorin berichtet, nachdem man sich im Einparteienstaat in den 70er Jahren mit viel Mühe einen westlichen Reisepass beschafft hatte, habe ihr Vater, ein Dachdecker, gemeinsam mit ihrem Bruder und ihr einige mittelalterliche Kirchen in Österreich besucht. Sie baten um Erlaubnis, in den Dachstuhl steigen zu dürfen, damit der Vater seinen Kindern zeigen konnte, was für eine Sachkunde in den Bau der Dächer geflossen war. Dies trifft natürlich nicht nur auf das Kleingewerbe zu. Die einst weltberühmten Ungarischen Optikwerke (Magyar Optikai Művek) waren 1876 vom schwäbischen Nándor Süss gegründet und zu einem der florierendsten Unternehmen Europas entwickelt worden. Ähnlich war es mit dem Maschinenbauwerk Hofherr & Schranz, dessen Gründer Albert Hofherr vom König und Kaiser Franz Joseph einen ungarischen Adelstitel verliehen bekam. Lipót Aschner, der jüdischer Deutscher war, brachte 1921 die Tungsram-Glühbirnenwerke zum florieren und gründete deren bis heute existierendes Forschungslabor. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen und

illustriert gut, welche Rolle die deutschsprachige Bevölkerung in der Industrie, Landwirtschaft und nicht zuletzt Kultur des Aufnahmelandes Ungarn gespielt hat.

Krisztina Wébers Buch beschäftigt sich eingehend mit den anfänglichen Schwierigkeiten der in Harta angesiedelten Donauschwaben, die in der baumlosen Tiefebene das Holz ihrer Boote verbauen mussten, Straßen und Plätze zu planen hatten, 1852 eine Feuerkatastrophe erlitten, und dann den harten und dennoch motivierten Prozess des Wiederaufbaus antraten. Es ist eine lebensnahe, romanartige Geschichte, in der jedes Wort auf dramatische Weise wahr ist.

Eine Stärke und ein interessanter Punkt des Buches ist die gründliche Darstellung des Lebens und der Arbeit Tibor Gallés, des aus Harta stammenden schwäbischen Pastorensohns und zu Unrecht in Vergessenheit geratenen großen Malers (das Buch enthält farbige und schwarz-weiße Reproduktionen seiner Werke). Die Autorin und der Verlag IdőJel haben damit nicht nur der gemeinsamen deutsch-ungarischen Geschichte, sondern auch der gemeinsamen Kunst ein Denkmal gesetzt – und damit gleichsam eine Lücke gefüllt.

Der Band macht es sich nicht zur Aufgabe, den Schandfleck unserer Vergangenheit, die Aussiedlung der in Ungarn lebenden Deutschen, zu behandeln. Dieses unmenschliche Vorgehen vollzog sich 1946-48 im von sowjetischen Truppen besetzten Ungarn, aufgrund einer Anweisung der aus der Moskauer Emigration zurückgekehrten Kommunisten. Es gab allerdings auch einige, die bleiben durften, und viele derjenigen, die ausgesiedelt wurden (bzw. deren Nachkommen), kehrten später in ihre ungarische Heimat zurück, ob als Besucher oder sogar endgültig. Dies könnte man als Beweis sehen, dass

Ungarn, wie seit tausend Jahren, auch heute noch gastfreundlich ist,

selbst wenn es nicht bereit ist, Forderungen nach unbegrenzter und vor allem unüberwachter Migration nachzugeben.

Als Nachwort möchte ich das Vorwort Krisztina Wébers zu ihrem Buch zitieren: “Für meine Kinder und Enkelkinder… Hiermit gebe ich ihnen die glaubwürdige Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Wurzeln in die Hände, in der Hoffnung, dass all dies – nach dem Beispiel ihrer Vorfahren – sie auf ihrem Weg voranbringen wird.”

Wéber Krisztina: Hoztam utat (Der große Schwabenzug in den 1720 Jahren) Budapest, IdőJel Kiadó, 2021.

Buchrezension von Zoltán W.-Nemessuri

Magyarul: https://2022plusz.hu/2021/11/10/hoztam-utat-nemetek-magyarorszagon/

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