10. NOVEMBER 2021 Index von GÁBOR VONA
Natürlich wird sich Orbán bis zu den Wahlen nicht einfach so zurücklehnen und Kaffee trinken. Er selber weiß nur zu gut: Der Wettstreit dauert so lange, bis ihn der Staatspräsident abpfeift. Trotzdem lohnt es sich, einmal die wichtigsten Gründe zu betrachten, die für eine Fortsetzung der Fidesz-Regierung sprechen.
- Die abschreckende Wirkung der Unsicherheit
Der Zusammenschluss der Opposition wurde aus der Überzeugung geboren, das eine aus mehreren Akteuren bestehende und miteinander rivalisierende Opposition nicht in der Lage ist, Orbán abzulösen. Deswegen müsse man sich zusammentun. Die Feuerprobe dieses Plans wird im kommenden April sein. Dann wird sich zeigen, ob das, was den vielen allein nicht gelungen ist, endlich gemeinsam gelingen wird. Dafür muss der Zusammenschluss jedoch reibungslos funktionieren. Seine einzelnen Bestandteile müssen miteinander harmonieren. Die inneren Gegensätze dürfen die Gesamtkonstruktion nicht gefährden.
Gegensätze gibt es jedoch reichlich. So reichlich, dass sie nicht verborgen werden können. Sie sind riesige Wunden, in die Orbán mit beiden Händen Salz streuen kann. Da ist das Gyurcsány-Dilemma von Márki-Zay. Gegen den Willen des DK-Chefs kann er vielleicht Spitzenkandidat der Opposition sein, niemals aber kann er gegen den Willen von Gyurcsány Ministerpräsident werden.
Und das ist noch nicht alles. Obwohl es die Parteien nachdrücklich dementieren, ist klar erkennbar, dass sie nicht nur Drehbücher für den Sieg haben. Die sechs – und gewiss auch Péter Márki-Zay – rechnen sicher auch damit, was sein wird,
wenn sie eine Niederlage erleiden. Dann wären sie nicht mehr Verbündete, sondern Rivalen, die nach der Niederlage um die Trümmer kämpfen müssten.
Den Zusammenschluss zusammenzuhalten ist also keine einfache Aufgabe. Orbán muss ihn nicht einmal um jeden Preis zerschlagen. Es reicht, wenn er dessen innere Bruchlinien verstärkt und ihn der Lächerlichkeit preisgibt. Dabei kann er darauf bauen, dass die unentschiedenen, aber entscheidenden Wähler, wenn sie sich zwischen dem stabilen, dabei korrupten Fidesz-System und der instabilen, aber vielleicht nicht korrupten Opposition entscheiden müssten, ihr Kreuz ohne zu zögern neben die erste Alternative setzen. Es ist einfach eine anthropologische Tatsache, dass die Menschen etwas sicheres Schlechtes besser finden als die Unsicherheit. Auf diesen Wunsch nach Sicherheit kann Orbán bauen.
2. Unsere Truppen stehen im Kampf
Nehmen wir einmal an, dass der Zusammenschluss einwandfrei funktioniert und die Reihen diszipliniert und professionell geschlossen bleiben. Das allein ist aber nur eine strukturelle Antwort auf das Fidesz-System. Für den Sieg ist eine gute Strategie nicht genug, man braucht auch eine starke Armee. Gerade das ist jedoch der zweite Pfeiler von Orbáns Ruhe.
Die Vorwahl hat erbracht, welche Führungspersönlichkeiten ins Rennen gehen werden, und dass auch der gesellschaftliche Hintergrund vorhanden ist. Das aber ist zu wenig, wenn es keine schlagkräftige Armee gibt, die am Tag der Wahl den Kriegsplan umsetzen kann. Zur Zeit scheint es aber so, als wenn es sie nicht geben würde. Damit kann man auch die Niederlage der Opposition in Sachen Mobilisierung vom 23. Oktober erklären. Die Oppositionsparteien haben ganz klar die Mobilisierung vernachlässigt. Ohne das werden sie es aber nicht weit bringen. Hier haben wir es mit einem größeren Problem zu tun.
Der Zusammenschluss ist wie ein wohlwollender Schleier, der die verschiedenen Fehler der einzelnen Teilnehmer verbirgt. Das ist sehr gut, denn es reduziert die Angriffsfläche. Zugleich kann das aber auch negativ sein, wenn die Teilnehmer dadurch der Kleinarbeit entwöhnt werden. Derzeit scheint es so, als wenn gerade das geschieht. Der ohnehin nicht brillante organisatorische Zustand der Parteien wird durch den Schleier nicht nur verborgen, vorhandene Probleme können weiter vor sich hin schwelen.
Nach den sauberen Fernsehstudios hatte niemand Lust, sich bei Reisen in die Provinz die Schuhe schmutzig zu machen und sich mit organisatorischen Problemen herumzuschlagen. Inmitten der vielen Parteien verliert sich die Verantwortung. „Wir sind so viele, da wird es schon jemanden geben, der ein Problem an meiner Stelle anpackt.“
3. Teilen und multiplizieren
Die Inflation und die Kraftstoffpreise können zwar noch eine Überraschung verursachen, dennoch scheint es so, als würden die Wirtschaftszahlen am Jahresende ausgesprochen gut werden. Jetzt kommt ohnehin das Wahljahr, noch dazu liegen Monate der Pandemie hinter uns, wer wird da schon die Regierung verurteilen, wenn das Defizit etwas größer ausfällt. Orbán wird natürlich bis zu den Wahlen unglaublich gezielt und in großem Umfang Geld verteilen. Selbst wenn dieser Geldsegen nicht bei jedem ankommt, die notwendigen 2,5 bis 3 Millionen Wähler wird er schon erreichen.
4. Die Fata Morgana der Brüsseler Panzer
In der ungarischen Opposition, aber auch generell in unserer gesamten Nation steckt dieses Warten auf ein Wunder aus dem Ausland. Einmal kommt jemand aus der Ferne und rettet uns vor dem, wovon wir uns nicht selbst befreien können. Dieses kollektive Hoffen haben wir mit der Muttermilch eingesogen. Wieder und wieder.
Dabei hätten wir im Geschichtsunterricht lernen können, dass wenn jemand aus der Ferne kommt – seien es nun die Tataren, die Türken oder die Russen –, dann nicht, um uns zu befreien, und falls doch – so wie die Habsburger und die Sowjetunion – dann, um unsere neuen Besatzer zu sein. Dieses Warten auf den Messias haben wir trotz gegenteiliger Erfahrung über all die Jahrhunderte nicht aus uns rausbekommen.
Jetzt hoffen viele von Brüssel, dass es den Fidesz in die Knie zwingt.
Das Problem ist nur, dass die EU das Fidesz-System nicht beenden wird. Denn die EU ist vor allem der Europäische Rat, dem auch Orbán angehört – weit mehr, als das die Rolle eines zahnlosen Tigers spielende Europäische Parlament. Wer auf Showeinlagen steht, der wird sie vom Parlament bekommen. Hier gibt es alle möglichen Petitionen, Erklärungen, Ultimate und leidenschaftlichen Reden. Wer wirklich glaubt, die Union würde Orbán die Leviten lesen, der kann sich auf eine bittere Enttäuschung gefasst machen. Orbán weiß das nur zu gut.
5. Das krönende Coronavirus
Die Pandemielage spitzt sich erneut zu. Die vierte Welle beginnt über unseren Köpfen zusammenzuschlagen. Egal, wie es weitergeht,
die Schlacht gegen das Coronavirus hat Orbán bereits gewonnen.
Was auch auf uns wartet, das Virus spielt ihm in die Hände. Wenn es wieder voll zuschlägt, dann kann Orbán erneut in die Rolle eines tatkräftigen Landesvaters schlüpfen, er kann sich außerordentliche Rechte erbeten und die Ungarn noch einmal vor der Seuche verteidigen.
In einer solchen Situation kann die Opposition nur verlieren, entweder als unverantwortliche Unkenruferin oder indem sie die Regierung unterstützt. Sollte uns jedoch die vierte Welle verschonen, dann kann der Regierungschef die Aufmerksamkeit auf die dramatische Lage in den Nachbarländern lenken, die in Ungarn vermieden werden konnte. Selbstverständlich würde er nicht vergessen, uns alle daran zu erinnern, dass all das ein Ergebnis der Impfungen ist, vor denen die Opposition die Bürger zu Beginn gewarnt hatte. „Wer würde einer solchen verantwortungslosen Truppe die Leitung eines Landes anvertrauen? Erinnern wir uns daran, wenn wir wählen gehen!“ – wird es von Seiten des Fidesz ertönen. Es kann leicht sein, dass 2022 das Coronavirus die Krone auf Orbáns Haupt setzen wird.
Der Autor, Gábor Vona war von 2006 bis 2018 Vorsitzender der rechtsradikalen Jobbik-Partei
Der leicht gekürzte Kommentar erschien in Budapester Zeitung, aus dem Ungarischen übersetzt von Karl Frankenfeld.
Magyarul: https://index.hu/velemeny/2021/11/01/ot-ok-amiert-orban-megnyugodhat/