15. Dezember 2021 Mandiner von GELLÉRT RAJCSÁNYI
Gedankenkriminalität, Gedächtnislücken: Facebook hat die Erreichbarkeit unserer Seite begrenzt und könnte sie wegen der Zitate in unseren Nachrichten und Meinungsbeiträgen, die nicht dem Geschmack von Facebook entsprechen, jederzeit löschen. Die zugrunde liegenden Ideen könnten dem Journalismus rund um die Welt endgültig den Garaus machen. Die Facebook-Guillotine schwingt über dem Kopf des Mandiners: Die Social-Networking-Seite unserer Zeitung wurde von der allmächtigen Plattform beschränkt und steht kurz davor, gelöscht zu werden. Die Seite, auf der wir mit fast 80.000 Followern in Kontakt sind.
Die Geschichte begann im Sommer, und jetzt, im Dezember, geht sie in die nächste Runde.
Unser Verbrechen? Es gibt mehrere. Zum Beispiel, dass wir in unserem Rundschauteil, der das gesamte Spektrum des politischen Lebens (Links, Rechts, Regierung, Opposition, Hardliner und die „sowohl als auch“ Intellektuellen) abdeckt, und immer wieder dem von Facebook geschaffenen Blasen- und Echokammereffekt mit unseren ureigenen Mitteln entgegenzuwirken versucht, im Sommer einen Auszug aus einem Artikel unseres Freundes Rod Dreher, einem amerikanischen Publizisten, aus der Zeitschrift The American Conservative veröffentlicht haben.
Rod Drehers Text, The American Conservative
„Es ist leicht vorstellbar, dass Franziskus Orbán nicht mag. Franziskus glaubt, dass Europa seine Türen für Einwanderer aus der Dritten Welt öffnen sollte; Orbán glaubt, dass das der Tod Europas wäre. Der katholische Journalist John L. Allen Jr. hat geschrieben, dass die Notlage der Migranten der Eckpfeiler des Papsttums von Franziskus ist. Franziskus hat es abgelehnt, sich mit dem führenden italienischen Politiker Matteo Salvini zu treffen, um gegen dessen einwanderungsfeindliche Ansichten und Politik zu protestieren. Aus diesem Grund weigert sich Franziskus eindeutig, sich mit Orbán zu treffen. Wenn ich Orbán wäre (ein Calvinist, obwohl seine Frau und seine Kinder katholisch sind), würde ich das als eine Art Ehrenabzeichen tragen. Man kann argumentieren, dass seine Politik mehr zum Schutz des europäischen Christentums beigetragen hat als die des Pontifex.“
Dreher, der in amerikanisch-konservativen Kreisen ganz und gar eigene Ansichten vertritt und zum Beispiel Trump ausdrücklich verachtet, kann nicht des politischen Extremismus bezichtigt werden, sondern er ist ein Anhänger des Christentums und des autonomen Denkens. Er schrieb in einem Meinungsbeitrag für die AC unter anderem, dass er glaubt, dass „der Westen die Menschen hier (in Mittelosteuropa) auf unehrliche Weise behandelt“ – weiter, es sei leicht zu verstehen, warum Papst Franziskus Orbán nicht mag und „Orbán glaubt, dass die Öffnung der Türen Europas für Einwanderer den Tod Europas bedeuten würde“.
Nach Ansicht der Verantwortlichen (wer sind die denn…) handelt es sich dabei um problematische Formulierungen.
Auf Deutsch: eine Meinung von Dreher darüber, wie der Westen über unsere Region denkt; eine Meinung darüber, was seiner Meinung nach Papst Franziskus über Orbán denken könnte (dieser Satz ist sozusagen „nicht bewiesen“); und eine faktische Aussage darüber, was Orbán über Migration und Europa im Allgemeinen denkt, seien allesamt problematisch.
Diese Zitate, welche ausschließlich Fakten und freie Meinungen enthielten, brachten unsere Facebook-Seite in diesem Sommer an den Rand der Schließung.
Während des ganzen Sommers haben wir über informelle Kanäle die Ratschläge bekommen, Rod Dreher möglichst nicht zu erwähnen oder zu zitieren.
Ähnlich haben wir inoffiziell aus den Kreisen der sozialen Netzwerke erfahren, dass wir es vermeiden sollten, László Toroczkai zu erwähnen oder Nachrichten über ihn zu vermitteln – er ist der Vorsitzende der legal operierenden Mi Hazánk (Unser Vaterland)-Partei und mehrmals wiedergewählter Bürgermeister von Ásotthalom. Oder, wenn wir über ihn schreiben, sollten wir das Adjektiv „rechtsextrem“ vor seinen Namen setzen, weil wir damit ohne abgeschaltet zu werden, durchkommen.
Auf diese Informationen folgend
kam jetzt, im Dezember, die konkrete Drohbotschaft und die Begrenzung durch Facebook.
Der Grund für die Bestrafung: unsere Nachricht vom 15. März über die Demonstration der von Toroczkai geführten Partei Unser Vaterland auf Facebook an diesem Tag, einschließlich der Aussagen von Toroczkai. Facebook hat also unsere Nachricht über ein Ereignis von vor einem dreiviertel Jahr aufgegriffen – weil wir es gewagt haben, nach den Grundsätzen der fairen und vollständigen Berichterstattung darüber zu schreiben und eine Person des öffentlichen Lebens zitierten,vorgetragen in der Öffentlichkeit, unabhängig davon, ob unsere Zeitung mit den zitierten Gedanken einverstanden ist oder nicht.
Wie würde es denn aussehen, wenn eine Zeitung nur über diejenigen berichten und nur von solchen zitieren würde, die ihre eigenen Ansichten teilen;
erst recht, wenn eine Zeitung ihren Nachrichtendienst, das Spektrum der Nachrichten, die sie schreiben kann, dem Geschmack der von ihr unabhängigen technologischen Akteure unterordnen würde! Aber genau dorthin steuert die Welt mit der Übermacht von Facebook.
Zur Strafe wurde unser Facebook-Post zu diesem Thema gelöscht und die Sichtbarkeit unserer Facebook-Seite mit 80.000 Followern eingeschränkt.
Sie drohen auch damit, unsere Seite ganz zu entfernen.
Das ist schon ziemlich erschreckend.
Damnatio memoriae aus der Geschichte Roms, na wer kennt das?
Oder das Gedächtnisloch aus „1984“?
Dieser auf lange Sicht rückwirkende Geltungsbereich ist besonders bemerkenswert: Es scheint,
Facebook kann praktisch jede Nachricht, ob aus jüngster Zeit oder aus der Vergangenheit, jederzeit als „Verstoß gegen die Gemeinschaftsgrundsätze“ bezeichnen.
Und Tatsache ist, dass wir im Durchschnitt fast 100 Artikel pro Tag, 3.000 pro Monat, über 30.000 pro Jahr veröffentlichen, mit einer unendlichen Vielfalt an Themen und Meinungen – es ist überhaupt nicht schwer, darunter einen zu finden, als „anstößig“ bezeichnet werden kann. Und damit kann nach der Einschränkung gleich die Löschung kommen.
Man könnte das alles mit Ironie betrachten, wenn die Prinzipien und Ideen, die hinter diesem Verfahren stehen, nicht auf globaler Ebene eine unglaubliche Gefahr für das Funktionieren der Öffentlichkeit, die Art und Weise, wie Zeitungen gemacht werden, die Zukunft der Nachrichten und der fairen Berichterstattung – von Amerika über unser eigenes Land bis in alle anderen Ecken der Welt – bedeuten würden.
Autor, Gellért Rajcsányi ist Chefredaktuer des Nachrichtenportals „Mandiner“
Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin
MAGYARUL: https://mandiner.hu/cikk/20211215_facebook_mandiner