6. Dezember 2023 Auszug aus dem Interview mit Viktor Orbán am 1. Dezember im Kossuth-Rádió
Zunächst einmal gibt es eine Reihe von Fragen, auf die wir keine Antwort wissen. Erstens: Die Ukraine befindet sich im Krieg. Wenn sich ein Land im Krieg befindet, funktionieren sein Rechtssystem und sein politisches System anders als in einem Land, das ein friedliches Leben führt. Wir können also heute nicht sagen,
ob die Ukraine sich innerhalb jener verfassungsmäßigen Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit befindet, so wie jedes Land der EU
innerhalb eines bestimmten Rahmens funktioniert, ob sie sich innerhalb dieses Rahmens befindet oder nicht. Das ist unmöglich zu sagen.
Zweitens können wir nicht sagen, wie groß das Territorium der Ukraine ist, denn obwohl ein Teil davon ohne Zweifel rechtlich zur Ukraine gehört, ist es militärisch von Russland besetzt.
Drittens: Wir wissen nicht, von einer wie großen Bevölkerung wir sprechen, weil Menschen ständig aus der Ukraine fliehen. Wir wissen nicht, ob die Einbeziehung der ukrainischen Landwirtschaft in den freien Markt für die Landwirte in den Ländern, die bereits dort sind, gut sein wird oder nicht. Die ungarischen Landwirte sagen, und ich habe mit ihnen gesprochen – ich meine ihre Vertreter –, dass die Einbeziehung der ukrainischen Landwirtschaft in das europäische Agrarsystem die ungarischen Landwirte zu Hunderttausenden ruinieren wird. Warum sollten wir das also unterstützen?
Wir wissen auch nicht, wie viel Geld im Falle eines Beitritts der Ukraine benötigt würde, um ihre Entwicklung in Gang zu bringen. Und woher sollen wir das Geld wegnehmen? Sind die derzeitigen EU-Länder bereit, mehr zu zahlen, oder sollten wir das Geld, das wir bereits haben, zur Finanzierung der Entwicklung der EU verwenden? Wenn es mit den vorhandenen Geldern verwaltet werden muss, werden die mitteleuropäischen Länder von den baltischen Staaten bis hinunter nach Kroatien, einschließlich Ungarn, einige finanzielle Mittel verlieren. Das bedeutet also, dass wir Entwicklungsgelder verlieren.
Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, lohnt es sich nicht, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, denn wir können die Frage nicht beantworten, welche Folgen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU hätte.
Wenn wir das nicht wissen, dann sollten wir auch keine Verhandlungen aufnehmen. Einen solchen Fehler haben wir bereits begangen. Wir haben mit den Türken verhandelt, wir haben ihnen die Mitgliedschaft versprochen, wir haben über die Mitgliedschaft verhandelt, und das geht jetzt seit zwanzig oder dreißig Jahren so, und wir haben es nicht geschafft, sie aufzunehmen. Alle sind frustriert, das Ganze ist ein Misserfolg.
Deshalb werde ich, wenn auch wir um unsere Meinung gebeten werden, dafür sein, dass die Europäische Union zum ersten Mal ein strategisches Partnerschaftsabkommen mit der Ukraine abschließt. Das könnte fünf bis zehn Jahre dauern. Bringen wir sie näher, die Entfernung ist jetzt zu groß. Wir müssen sie näher heranholen, wir müssen Zeit dafür lassen, um mit der Zusammenarbeit beginnen zu können. Und wenn wir sehen, dass wir zusammenarbeiten können, dann sollten wir die Frage der Mitgliedschaft angehen. Aber das ist erst nach vielen, vielen Jahren möglich. Das wäre der ungarische Vorschlag, aber niemand hat uns je nach unserer Meinung gefragt.
Die Kommission schiebt uns ein Papier vor, in dem steht, dass wir den Vorschlag unterstützen sollen. Nun, so funktioniert das nicht.
- In Bezug auf die Ukraine gibt es einen weiteren strittigen Punkt, nämlich die weitere Finanzierung. Brüssel würde dafür 50 Milliarden Euro fordern, und das wäre Teil einer zusätzlichen Zahlung von etwa 100 Milliarden Euro, die die Mitgliedstaaten leisten müssten. Ist der ungarische Standpunkt auch hier derselbe, dass dieser Vorschlag nicht auf die Tagesordnung des nächsten EU-Gipfels gesetzt werden sollte?
Hier sind mehrere Fragen übereinandergeschichtet. Die Grundfrage ist, ob das, was wir tun, sinnvoll ist. Wenn es Sinn macht, sollten wir weitermachen; wenn nicht, sollten wir nicht weitermachen. Was tun wir jetzt? Was wir jetzt tun, ist, dass wir den Ukrainern eine Menge Geld gegeben haben, über 100 Milliarden Euro – teilweise in Waffen und teilweise in bar –. Hätten wir ihnen dieses Geld nicht gegeben, sondern es für die Entwicklung Europas verwendet, wären die europäischen Volkswirtschaften heute in einer besseren Verfassung.
Heute sind die europäischen Volkswirtschaften in einem schlechten Zustand. In vielen Ländern ist es zu Nebenkostensteigerungen gekommen. Es gibt Länder, zum Glück nicht Ungarn, aber die Arbeitslosigkeit steigt, die Investitionen sind gestoppt oder sinken,
Europa ist in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, und gleichzeitig wirft es mit Geld um sich: Es schickt Waffen und Geld in Waggons in die Ukraine. damit die ukrainische Armee, die gegen Russland kämpft, an der Front siegen kann, aber sie siegt nicht! Und es ist höchst zweifelhaft, dass sie siegen würde, wenn wir mehr Geld schicken würden.
Davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt. Ich denke, wir brauchen einen Waffenstillstand statt eines Krieges. Also sollte nicht der Krieg finanziert werden, sondern der Waffenstillstand und dann der Frieden. Wenn wir Geld für die Ukraine ausgeben wollen, dann nicht für den Krieg, sondern für den Frieden und einen Waffenstillstand. Das ist unser Standpunkt. Das ist die erste, sagen wir, die tiefste philosophische oder strategische Ebene dieser Debatte.
Die zweite Debatte lautet: Wenn wir Geld geben wollen – sogar für die Fortsetzung des Krieges, wie die Kommission übrigens vorschlägt –, woher sollen wir es nehmen? Sollen die Mitgliedstaaten es in den Haushalt der Europäischen Union einzahlen und von dort aus? Oder lassen wir den Haushalt der Europäischen Union in Ruhe – er hat schon genug Probleme –, und wenn wir der Ukraine Geld geben wollen, dann lassen Sie uns ein separates zwischenstaatliches Abkommen schließen, um einen Finanzfonds zu schaffen, in den jeder einzahlen kann, was er will, und von dort aus schicken wir das Geld an die Ukraine. Ich bin für die zweite Variante.
Die Situation ist also immer noch dieselbe: Der Grund dafür, warum dieses Thema so ein heißes Eisen ist, ist, dass
das Geld bisher aus dem EU-Haushalt in die Ukraine geflossen ist.
Und das hat den Haushalt strapaziert. Denn die Unterstützung und die finanzielle Hilfe für einen Krieg und das Funktionieren des Haushalts laufen in unterschiedlichen Rhythmen ab. Beim Haushalt geht es um Stabilität und Vorhersehbarkeit. Und die Kriegsunterstützung muss, je nach Bedarf an der Front, erhöht werden oder kann reduziert werden. Nehme ich beides zusammen, so kommt es dazu, dass die Kriegshilfe den Haushalt sprengt, wie wir es jetzt erlebt haben. Und deshalb muss oder müsste ja der Haushalt geändert werden – man kann dies übrigens nur einstimmig tun, da kommen wir ins Bild –, weil das Geld alle ist. Wir haben einen Siebenjahreshaushalt, und wir sind im dritten Jahr und haben bereits kein Geld mehr. Das wird so nicht funktionieren.
Der ungarische Vorschlag lautet also, wenn wir der Ukraine Geld geben wollen, dies auf jeden Fall außerhalb des Haushalts erfolgen sollte und dass es transparent sein sollte.
In vielen Ländern sind die Menschen heute nicht dafür, der Ukraine Geld zu geben, aber die Staats- und Regierungschefs verbergen dies vor den Menschen, indem sie sagen, dass nicht wir es sind, die es geben, sondern die EU, aber in Wirklichkeit geben wir es, weil wir die EU sind. Aber auf diese Weise können sie die persönliche Verantwortung abwälzen. Sie sollen sich auf eine transparente Weise hinstellen und sagen: „Meine Herren, sehr geehrte Ungarn, die Ukraine ist in dieser Situation, lasst uns diskutieren, ob wir sie finanziell unterstützen wollen und wie viel wir ihr geben können.“ Und dann soll jeder dieses Geld auf den Tisch legen. Die Niederländer in gleicher Weise, die Belgier in gleicher Weise, die Franzosen in gleicher Weise und auch die Deutschen. Das ist ein faires Verfahren in einer Demokratie.
Die Tatsache, dass wir uns hinter dem Rücken der EU verstecken, dass die Menschen nicht verstehen, was passiert, dass sie nicht genau verstehen, was passiert, dass sie einfach sagen, natürlich, lasst uns die armen Ukrainer unterstützen, aber dass dies auf ihre Kosten geht, ist nicht klar, und die Konsequenzen daraus sind nicht klar.
Ich denke, das ist in einer Demokratie nicht akzeptabel. Deshalb sind Konsultationen eine gute Sache, und die Menschen werden deutlich machen, ob sie damit einverstanden sind oder nicht.
Der Ministerpräsident wurde von Zsolt Törőcsik befragt.
MAGYARUL: https://miniszterelnok.hu/ukrajna-unios-tagsaga-nem-esik-egybe-magyarorszag-nemzeti-erdekeivel/