29. März 2023 Magyar Hírlap von KÁROLY SZERENCSÉS
Die beiden Weltkriege haben uns gelehrt, dass es keine Situation gibt, die den Eintritt in einen Krieg, der von Kräften geführt wird, die sich unserer Kontrolle entziehen, rechtfertigt. Wir verfügen über ein Wissen, das unsere politische Entscheidungsfindung in den Bereich der Moral einordnet. Diese Macht stellt sicher, dass wir ungeachtet des politischen (wirtschaftlichen) Drucks an unserem Engagement für den Frieden im aktuellen Konflikt festhalten.
Einen Krieg zu beginnen ist viel einfacher, als ihn zu beenden.Wir Ungarn betonen gerne, dass uns alle unsere verhängnisvollen Kriege aufgezwungen wurden – vielleicht sind wir „in sie hineingerutscht“ – und wir sind damit nicht weit von der Wahrheit entfernt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir, wenn wir einmal darin verwickelt sind, nicht aus dem Krieg herauskommen – wir können nicht aus ihm herausspringen –, weil der einzige Ausweg darin bestünde, sich auf die andere Seite zu schlagen, und das ist völlig ausgeschlossen.
Wir sind von Franz Joseph I., der alles bedacht und durchdacht haben soll, in den Ersten Weltkrieg hineingeführt worden und er hat auch nicht verheimlicht, dass er diese Entscheidung allein getroffen hat. Selbst in seiner berühmten Ansprache betonte er zumeist nur seine alleinige Verantwortung vor dem Allmächtigen und sein eigenes ruhiges Gewissen. Heute, während der „Westen“ den „Osten“ mit Waffengewalt befrieden will, klingen die Worte des greisen Monarchen lehrreich: „So muss Ich denn daran schreiten, mit Waffengewalt die unerlässlichen Bürgschaften zu schaffen, die Meinen Staaten die Ruhe im Inneren und den dauernden Frieden nach außen sichern sollen.“ Seine Worte wurden mit großem Beifall aufgenommen, und im Sommer 1914 mag es lächelnde Demonstranten gegeben haben, aber auch damals gab es Zweifel und Ängste in den empfindlicheren Gemütern des Volkes.
Schließlich kristallisierten sich zwei starke Positionen heraus. Die von István Tisza, der den Ausweg im Sieg sah – und in diesem Sinne bis zum Äußersten ging – und die von Mihály Károlyi, der für eine Politik der erhobenen Hand eintrat, ohne sich der damit verbundenen zerstörerischen Verwundbarkeit bewusst zu sein.
Das ewige ungarische Dilemma: ein aussichtsloser Kampf um ein würdiges Überleben oder Selbstaufgabe und unwürdiger Frieden.
Beides zusammen brachte den Zusammenbruch von 1849, 1918, 1945 und sogar 1956. Aber aus den Zusammenbrüchen ist immer Leben erwachsen. Vielleicht, weil der Trotz, der ebenso sehr eine Quelle des Lebenswillens wie des Kompromisses sein kann, geblieben ist.
Die Kriege, die Ungarn aufgezwungen wurden, haben jedes Mal die Evolution, die friedliche soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung gestoppt. Evolution bedeutet eine allmähliche, kontinuierliche Entwicklung, frei von gewaltsamen Erschütterungen – von „Sprüngen“. Alle Elemente dieser Definition sind wichtig. Dies ist die Entwicklung, die Ungarn im Mittelalter durchlief, vom Heiligen István (1000-1038) bis zu Matthias Hunyadi (1458-1490) . Diese Entwicklung wurde durch die Schlacht Mohács (1526) und die Türkenkriege aufgehalten. Es ist ein großes Wunder, dass das Land und die Ungarn dies alles überhaupt überlebt haben.
Unter Maria Theresia (1740-1780) begannen unsere Vorfahren mit dem Aufbau. In der Reformära (1825-1848) schuf dann eine große Generation den modernen ungarischen Staat und die Nation. Wir feiern den 15. März als Revolution, und das zu Recht, aber wir wissen, dass auch die Revolution ein integraler Bestandteil der Entwicklung unseres Landes gewesen ist. Doch dann kam der Krieg.
Unter der Flagge der Habsburger kamen Österreicher, Tschechen, Italiener, Kroaten, Serben und Rumänen mit dem Beil. Und schließlich kamen die Russen. Es schien, als sei das ganze Land hin, und die Ungarn auch mit. Die Entwicklung war festgefahren.
Auch Zweifel wurden geweckt. Lajos Kossuth oder István Széchenyi? Sind wir auch für den Krieg verantwortlich? War es doch nur ein Bürgerkrieg und kein Befreiungskrieg? Und wie geht es weiter? Flucht (wie Kossuth nach Turin) oder Selbstmord (wie Széchenyi) in Döbling? Ist das die Wahl? „...das Volk steht starr / In dumpfem, betäubtem Schmerz“.
Das war noch nicht alles. Es gab noch eine Möglichkeit. Sie wurde nicht umsonst gegeben, es war eine Chance, die aus dem hartnäckigen, trotzigen und einsamen Widerstand einer Nation geboren wurde. Mit Glück und göttlicher Vorsehung. Oder aus Opportunismus, Schwäche, politischer Blindheit.
Wir nennen die historische Wende 1867, die der politische Ausgangspunkt für eine allumfassende Entwicklung hätte sein können „Ausgleich“ (mit Österreich).
Leider erwies sich das 1867 geschaffene System gerade im politischen Sinne als unflexibel. Wirtschaftlich, kulturell und bis zu einem gewissen Grad auch gesellschaftlich hat sich vieles friedlich und stetig entwickelt.
Nach einer Generation wäre auch der politische Fortschritt immer dringlicher geworden, aber die politische Elite wurde durch die Gefahren, die ihr drohten, in Geiselhaft genommen. Unter denen war am erdrückendsten die Nationalitätenfrage, denn im ersten Jahrzehnt des XX. Jahrhunderts wurden serbische (südslawische), rumänische und tschechische Territorialansprüche auf Kosten des Königreichs Ungarn erhoben.
Auch die russische imperiale Idee des Panslawismus schwebte über Mitteleuropa.
István Tisza vertraute auf die Lebensfähigkeit der österreichisch-ungarischen Monarchie und auf die Evolution als Lösung für diese Frage. Im Grunde auf den gesunden Menschenverstand, dass es zum Beispiel für einen Rumänen aus Siebenbürgen oder einen Kroaten aus dem Mittelmeerraum besser war, zum österreichisch-ungarischen Reich im Zentrum Europas zu gehören als zu Rumänien auf dem Balkan oder zu einem serbisch dominierten südslawischen Staat. Das hatte Logik und sogar eine Chance. Es gab nur eine Möglichkeit, diese friedliche Entwicklung zu verhindern. Ein Krieg. Der Krieg wurde von Masaryk und Beneš mental vorbereitet und von Serbien provoziert, wobei es sich auf die Unterstützung Russlands verließ. Und Franz Joseph I. hatte ihn befohlen. Leider auch in unserem Namen.
Die Folgen sind bis zum heutigen Tag unfassbar. Es gab nur ein Positives, an das man sich klammern konnte: Ungarn – zumindest das, was davon übrig blieb – wurde ein unabhängiger Staat. Gleichzeitig wurde es aber auch ein Kleinstaat. Im Jahr 1920, als der Vertrag von Trianon unterzeichnet wurde, hatte es acht Millionen Einwohner. Es wurde neben Österreich der kleinste Staat in der Region.
Das war unverdaulich, denn seit tausend Jahren war das Königreich Ungarn auf die eine oder andere Weise das dominierende Land in der Region gewesen. Von London, Paris oder Washington aus war das vielleicht wenig sichtbar, aber in Pozsony (Pressburg/Bratislava), Kolozsvár (Klausenburg/Cluj), Szabadka (Subotica), Munkács (Munkatschewo), Buda und Pest war es offensichtlich.
Das Ziel eines unabhängigen – geschrumpften – Ungarn konnte nur darin bestehen, den früheren Status Quo wiederherzustellen. Möglichst friedlich. Die Betonung der Gerechtigkeit („Gerechtigkeit für Ungarn!“) war mit dem Mangel an Stärke verbunden. Das wäre kein schlechter Tausch, aber er ist in der Regel nicht erfolgreich. Was konnte man tun? Verbündete suchen unter den Großmächten. Wir haben sie gefunden: Italien und Deutschland. Beide hatten große Ziele, und beide konnten mit den ungarischen Zielen in Einklang gebracht werden. Die Achse Berlin-Rom beherrschte bald ganz Europa.
In der Zwischenzeit war Ungarn wieder aufgebrochen und auf dem Weg der Evolution im zwanzigsten Jahrhundert losmarschiert. Es hatte seine Wirtschaft organisiert – und sich damit an die Spitze des europäischen Mittelfeldes gesetzt – , ein modernes Netz der sozialen Sicherheit, ein Bildungssystem von Weltrang, eine wissenschaftliche Basis und ein lebendiges Kulturleben aufgebaut. In der Innenpolitik hinkte man wiederum etwas hinterher, doch in den 1930er Jahren war dies eher ein Vorteil als ein Nachteil.
Verglichen mit dem Nationalsozialismus, dem Faschismus, dem Kommunismus, dem Falangismus und dem Pseudo-Parlamentarismus auf dem Balkan befand sich Ungarn trotz aller Fehler bis zum letzten Friedensjahr (1938) auf dem richtigen Weg.
Sogar die vielgeschmähte offene Wahl wurde abgeschafft, obwohl sie durch ein umstrittenes plurales Wahlsystem ersetzt wurde. Eine Landreform und vieles andere stand auf der Tagesordnung. Es hätte Zeit und Frieden gebraucht, um diese Entwicklung abzuschließen. Selbst das Hauptziel, die Wiedervereinigung des ungarischen Volkes, wurde zu einem beträchtlichen Teil erreicht. Und dann kam wieder der Krieg. Wir wurden „hineingetrieben“. Es gab einen Grund, einen Vorwand und eine Gelegenheit. Man musste abwägen. Wer wird gewinnen? Wohin denn?
Dies ist auch ein Teil des ungarischen Dilemmas. Die beiden Weltkriege haben uns jedoch vor Augen geführt,
dass es keine Situation gibt, die den Eintritt in einen Krieg, der von Kräften geführt wird, die sich unserer Kontrolle entziehen, rechtfertigt. Deshalb sind wir gegen den Krieg bis zum Ende.
Im Zweiten Weltkrieg hätte der Sieg der Deutschen wahrscheinlich zu unserer Vernichtung geführt, während der Sieg der Russen unsere schreckliche Unterwerfung zur Folge hatte – wir stöhnen darunter noch jahrzehntelang. Davor hatten wir Trianon von den Franzosen, den Angelsachsen, eine Katastrophe, lassen wir es. Deshalb sind wir gegen den Krieg bis zum Ende – bis hin zur Notwendigkeit der direkten Selbstverteidigung. Gleichzeitig erkennen wir das Recht der anderen auf Selbstverteidigung an.
Der Krieg ist bereits im Gange, seine scharfen Krallen haben sich in uns eingegraben. Er würde uns mit in den Untergang reißen. Sollen wir es zulassen oder sollen wir uns dagegen wehren? Entscheiden wir uns für den Krieg, der unseren eigenen Willen verschlingt, oder halten wir an der scheinbar aussichtslosen, aber einzig würdigen Position des Friedens fest. Wie hat sich das ungarische Dilemma in hundert Jahren verändert! Oder ist es im Kern genau dasselbe? Die Kraft und Entschlossenheit der Krallen der Bestie sind zweifellos bedrohlich. Und sie könnten sogar noch beängstigender sein. Wir verfügen jedoch über ein Wissen, das unsere politische Entscheidungsfindung in den Bereich der Moral einordnet. Diese Macht stellt sicher, dass wir ungeachtet des politischen (wirtschaftlichen) Drucks an unserem Engagement für den Frieden im aktuellen Konflikt festhalten.
Autor, Dr. Károly Szerencsés ist Historiker, Universitätsprofessor
Deutsche Übersetzung: Dr. Andrea Martin
MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20230310-magyar-dilemma
Bildquelle: Háború és béke, Opera
Ein Kommentar
Als Bayer, der sich damals über die vertriebenen Ungarndeutschen wunderte, die sich über den Sieg der deutschlen Nationalmannschschaft über Ungarn nicht recht freuen konnten, ist mir erst viel später manches klar geworden.
In meinem Weltbild war Ungarn hauptsächlich von den Daten 955 und 1956 geprä.gt. Diese Katastrophe machte aus mir einen Antisowjet. Und deswegen fielen mir später die komischen Kommunisten auf.
Leider haben nur die Ungarn einen Staatspräsidenten von der Statur eines Viktor Orbán. Seine eindeutige Präsentation ist sein Lebensversicherung.