23. September 2022 Tagespost von BENCE BAUER
Die konservative ungarische Regierung ist abermals ins Kreuzfeuer internationaler Kritik geraten. Im Fokus der Auseinandersetzung steht eine Neuregelung, nach der vor einer etwaigen Abtreibung der Herzschlag des Ungeborenen von der Mutter gehört werden muss.
In Ungarn ist seit 2010 ein konservativ-christdemokratisches Regierungsbündnis mit Ministerpräsident Viktor Orbán (59) an der Macht. Die vielgescholtene Regierung wurde erst vor Kurzem im Amt mit 54 Prozent Wählerzuspruch bestätigt. Insbesondere in der Migrations-, Familien- und Wirtschaftspolitik konnte Ungarn in den letzten Jahren wichtige Wegmarken setzen, die auch in den europäischen Diskussionen Beachtung fanden und die in Ungarn als Erfolg wahrgenommen werden. Nicht zuletzt unterstützen auch große Teile der oppositionellen Wählerschaft die Positionen der Regierung in diesen Bereichen. Insbesondere die Familienpolitik mit weitreichenden Unterstützungen gerade junger Familien der Mittelklasse stößt dabei auf großen Zuspruch.
Ungarn gibt eine Rekordsumme von ca. 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Familien aus.
Im Mittelpunkt dieser Maßnahmen stehen Eigenheimförderung, ein Babykredit, welcher mit der Niederkunft eines Kindes gestundet, und bei der Geburt weiterer Kinder ganz oder zum Teil erlassen wird, sowie großzügige Steuernachlässe. Gerade junge berufstätige Mütter profitieren hiervon erheblich. Beispielsweise ist deren Elterngeld in den ersten sechs Monaten nach Geburt höher als das zuvor bezogene Gehalt der Mutter. Die ersten Erfolge sind kaum abzustreiten. Ungarn konnte in den vergangenen Jahren im europäischen Vergleich die Geburtenraten im stärksten Maße erhöhen, von etwa 1,2 auf 1,6, die Zahl der Eheschließungen erreicht ungeahnte Höhen und die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist so niedrig wie noch nie (etwa 22.000, knapp 23 Prozent der Zahl der Lebendgeburten).
Viele Beobachter sehen einen direkten Kausalzusammenhang zwischen dieser niedrigen Zahl der Schwangerschaftsabbrüche und dem politisch-gesellschaftlichen Umfeld, das auf den vielen familienpolitischen Maßnahmen, den guten wirtschaftlichen Bedingungen, dem günstigen Klima für Familiengründungen und nicht zuletzt dem allgemeinen Image als kinderfreundliches Land basiert. Bis vor kurzem standen der Familiengründung Karriere- oder finanzielle Erwägungen im Wege, doch in den letzten Jahren ist es nicht nur angesagt, Kinder zu bekommen, sondern stellt auch kein unkalkulierbares Risiko mehr dar.
Nach dem Motto der ungarischen Familienpolitik soll keine Frau schlechter gestellt werden, wenn sie ein Kind bekommt und junge Mütter müssen praktisch in der Vereinbarkeit von Kind und Beruf gefördert werden, wie durch erhöhtes Elterngeld oder dem Erlass der Arbeitgeberbeiträge bei Wiederbeschäftigung. So gesehen trägt diese Politik Früchte, da Abtreibungen immer seltener, Geburten immer häufiger werden.
Zur Philosophie der Ungarn gehört aber auch, den Frauen die Entscheidung zu überlassen, ob und wann sie Kinder kriegen wollen.
Die politische Führung des Landes bekannte immer freimütig, dass eine erfolgreiche Familienpolitik nur in einem Bündnis mit den ungarischen Frauen gelingen könne.
Aus diesem Grunde wurde das auch im internationalen Vergleich recht liberal geltende Recht auf Schwangerschaftsabbrüche unangetastet gelassen. In Ungarn galt in der kommunistischen Zeit ein sehr liberales Abtreibungsrecht, das später zwar etwas eingeschränkt, aber im Grunde nach wie vor gilt. Eingeschränkt wird das Recht auf Abtreibung durch eine Indikationenlösung, nach der Schwangerschaftsabbrüche nur dann zulässig sind, wenn entweder gesundheitliche Gründe dafürsprechen, also das Leben der Frau in Gefahr ist, oder aber genetische Unregelmäßigkeiten beim Ungeborenen nachgewiesen werden können, die Schwangerschaft aufgrund einer Straftat zustande kam, wie etwa Inzest oder Vergewaltigung oder aber die Frau sich in einer schwerwiegenden Konfliktlage befindet. Ähnlich wie in Deutschland ist für den letzteren Fall eine Schwangerschaftskonfliktberatung vorgesehen, die zweimal aufgesucht werden muss.
Der Schwangerschaftsabbruch ist im Regelfall nur bis zur 12. Schwangerschaftswoche möglich (bei unter 18-Jährigen bis zur 18. Woche), nur bei besonderen medizinischen Gründen bis zur 18. Woche.
Unabhängig davon, wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten ist, kann ein Schwangerschaftsabbruch jederzeit vorgenommen werden, wenn er notwendig ist, um das Leben der Mutter zu retten.
Ab dem 15. September 2022 gilt nun die Neuregelung, nach der diese Verfahrensweisen mit einer weiteren Voraussetzung kombiniert werden müssen.
Die Schwangere muss für die Genehmigung des Schwangerschaftsabbruchs eine schriftliche Bestätigung eines Frauenarztes vorlegen, nach der sie den Herzschlag des Nasziturus angehört hat.
Die Novelle findet sich in einem Ministerialerlass des Innenministers. Gegenstand der Kritik seitens einzelner Oppositionsparteien war, dass diese relevante Neuregelung gesetzlich und nur nach langer und ausführlicher Beratung hätte verabschiedet werden dürfen. Einzelne gesellschaftliche Gruppierungen befürchten bei dieser Änderung, dass viele Frauen den Schwangerschaftsabbruch illegal vornehmen werden.
Jedoch gibt es auch Stimmen, die diese Entscheidung begrüßen. Auch die Opposition ist uneins. Zweifellos erfüllt sich ein alter Wunsch vieler Abtreibungsgegner, denn das Herzklopfen eines Ungeborenen kann niemanden kaltlassen. Die Neuregelung ist ein Appell an jede Schwangere, die sich mit dem Gedanken eines Schwangerschaftsabbruchs trägt, es sich vielleicht doch noch anders zu überlegen.
Der Herzschlag des Ungeborenen ist zugleich dessen einziges kommunikatives Mittel, sich an seine Mutter zu wenden. Ihm dieses Recht zu verwehren, wäre nach den Befürworten der Neuregelung inhuman, denn auch das werdende Leben hat nach dem ungarischen Grundgesetz ein Lebensrecht.
Freilich ist auch der ungarischen Politik bewusst, dass sie kaum mehr tun kann, als die Frauen in dieser Form anzusprechen und ihnen in ihrer Entscheidung beizustehen – vielleicht gar mit dem Herzschlag ihres eigenen Kindes.
Autor, Dr. Bence Bauer ist der Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium
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