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Klassenfeinde

30. Mai 2022 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

Zwischen dem 21. Mai und 18. Juli 1951 wurden aus Budapest 5.182 Familien, insgesamt 13.670 Menschen, vom Säugling bis zum Greis, zwangsausgesiedelt. Die Behörden gaben ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit, um das Nötigste zu packen, ihr bisheriges Leben aufzulösen, sich von ihren Freunden zu verabschieden und gegen den Ausweisungsbeschluss Widerspruch einzulegen. Letzteres war eine ausgemachte Sache, da sie die Ablehnung bereits am vorgesehenen Ort der Zwangsaussiedlung entgegennehmen konnten. Der Befehl erreichte sie in der Morgendämmerung und am nächsten Morgen kam der Lastwagen, auf den sie die ihnen zugestandene Menge an Habseligkeiten aufladen konnten. Die Polizisten erlaubten in vielen Fällen nicht einmal die genehmigte Menge mitzunehmen. Dann mussten sie bis zum Abend auf dem Güterbahnhof in den Waggons auf die Abfahrt warten. Man munkelte, dass sie nicht lange in Ungarn bleiben würden, dass man sie nach Sibirien, in den Gulag bringen würde. 

Einige von ihnen waren bereits in sowjetischen Arbeitslagern gewesen, als Kriegsgefangene oder als Zivilisten, die „für ein bisschen Arbeit“ („malenkij robot“) von den sowjetischen Soldaten für Jahre  verschleppt wurden. Sie hatten Erfahrungen, aber sie konnten sich nicht vorstellen, was sie jetzt erwartete.

Sie wurden Klassenfeinde in ihrem eigenen Heimatland. Sie wurden Feinde, Feinde des arbeitenden ungarischen Volkes. Sie konnten nicht verstehen, warum sie als solche gebrandmarkt wurden, da sie ständig ihrem Land gedient hatten. Als Offiziere, Beamte oder sogar als Abgeordnete noch im Mehrparteienparlament.

Unter ihnen waren ehemalige Minister, Staatssekretäre, Richter und Staatsanwälte, Beamte, ehemalige Grundbesitzer und Nachkommen großer historischer Familien. Bethlen, Csáky, Esterházy, Széchenyi, Zichy: Menschen, deren Vorfahren oder auch sie selbst so viel für Ungarn geleistet hatten.

Dem Abschlussbericht zufolge arbeitete der Umsiedlungsapparat gründlich und mit Begeisterung und erledigte seine Aufgabe, wie im sozialistischen Arbeitswettbewerb üblich, in zwei, statt vier Monaten. Die Partei belohnte die geleistete Arbeit mit Lob und Geldpreisen und drückte ein Auge zu, wenn in den versiegelten Wohnungen Gegenstände fehlten. Die Genossen behielten die großbürgerlichen Wohnungen für sich. Inoffiziell, versteht sich, denn nach den offiziellen Vorschriften sollten die beschlagnahmten Güter an die Werktätigen verteilt werden. Die Vertriebenen sahen ihre Häuser, Besitztümer und Wertgegenstände, die sie zurücklassen mussten, nie wieder.

Das paranoide Regime sah in jedem und überall Feinde und wollte die ungarische Volksdemokratie von ihnen befreien. Jeder, der nicht auf ihrer Seite war, der anders über die Welt dachte oder die Politik der Regierung nicht unterstützte, galt als Feind. 

Jeder, der gebildet, wohlhabend und erfolgreich war, galt als Feind. Diese wurden zunächst deklassiert, d.h. ihres Reichtums, dann aller historischen Titel, Ränge und Ämter beraubt. Diejenigen, welche Widerstand leisteten, wurden inhaftiert, gefoltert und interniert.

Das System hat seine Feinde stets gelistet. Es gab die B-Listen, aufgrund derer Personen, die als politisch unzuverlässig galten, aus dem öffentlichen Sektor entfernt wurden. 93.000 Beamte wurden auf die B-Liste, also auf die Straße gesetzt. Diejenigen mit juristischen und wirtschaftlichen Kenntnissen wurden durch unqualifiziertes Personal ersetzt. Ihre „Qualifikation“ war die Loyalität gegenüber der Partei, gegenüber der Volksdemokratie. Die diplomierten Fachleute konnten sich glücklich schätzen, wenn sie als Hilfsarbeiter, Lageristen oder Wäscherinnen angestellt wurden. Der Staat der Werktätigen nahm den Älteren ihre Renten weg, auch sie mussten arbeiten. Die Verfassung der Ungarischen Volksrepublik von 1949 (auf die sich viele noch heute beziehen wollen), die das Prinzip des Sozialismus umsetzen wollte, schätzte jeden nach seinen Fähigkeiten und seiner Arbeit ein.

Es gab Kulakenlisten. „Jedes Kind mit einer kommunistischen Bildung weiß, dass der Kulak eine politische Kategorie ist“, schrieb Genosse Rákosi, die stalinistische Ikone des damaligen Ungarns. Auf der Liste der Kulaken standen die „Ausbeuter“ der Dörfer, d. h. die wohlhabenderen – oder besser gesagt die fleißigeren – Bauern.

Etwa 100.000 Bauernhöfe wurden auf die Kulakenliste gesetzt. Ihr Land wurde ihnen weggenommen, ihre Kredite gestrichen, sie wurden aus den Organen der traditionellen landwirtschaftlichen Genossenschaften entfernt und mit Kulakensteuern und der Verpflichtung zur übermäßigen Abgabe belegt.

Es begann die Zeit der Liquidierung der Kulaken, die im Volksmund als „Dachbodenfegen“ bezeichnet wird. (Sogar ihre Dachböden wurden aufgrund der Zwangsabgabe leergefegt.) Viele gaben auf, viele Kulakenfamilien wurden vertrieben. Auch das flache Land musste in Angst gehalten werden.

Die unzuverlässigen Elemente, die als gefährlich für das Regime galten, wurden schließlich deportiert. Eigentum wurde beschlagnahmt, Menschen wurden ihrer Rechte beraubt, eingeschüchtert und ohne Gerichtsurteil mit Gewalt deportiert. Die Polizisten und ÁVH-(Geheimpolizei-)Beamten, die an den Deportationen beteiligt waren, unterschieden sich nicht wesentlich von den Pfeilkreuzlern.

Das Ziel war die langsame Ausrottung und physische Vernichtung einer sozialen Schicht, die als faschistisch, Horthy-hörig, ausbeuterisch und herrschend gebrandmarkt wurde.

Ich habe Memoiren von ehemaligen Deportierten gelesen. Ich sehe das dreijährige Mädchen vor mir, das um zwei Uhr nachts nicht versteht, was dort vor sich geht, das seine Puppe umklammert und schluchzt, dass es nirgendwo hingehen will. Ein grober Mann stößt es so hart zu Boden, dass sie kaum atmen kann. Ich sehe das kleine Mädchen von acht Jahren, das täglich zwanzig Kilometer weinend vom Bauernhof zur Dorfschule läuft, bei Schnee und Schlamm, in der Dunkelheit und mit Angst im Herzen. Sie hat niemanden, der sie begleitet, denn ihre Eltern dürfen den Hof nicht verlassen und müssen für den kärglichen Lebensunterhalt malochen. Ich sehe das kleine pubertierende Mädchen vor mir, wie er sein Lieblingsbuch „Die Sterne von Eger“ bis zum Zerfallen der Blätter immer wieder liest, denn das war das einzige Buch, das sie mitnehmen durfte. Jugendliche, die harte körperliche Arbeit leisten und die, so sehr sie es auch wollten,

ihr Studium nicht fortsetzen konnten, weil sie ein X neben ihrem Namen hatten. Ich frage mich, was für psychologische Narben das alles bei ihnen hinterlassen haben muss? Wie konnte ein kleines Kind, das mit seinen Eltern vertrieben wurde, ein Klassenfeind sein?

Wie überlebte Graf Margit Bethlen, die Ehefrau des in die Sowjetunion deportierten ehemaligen Ministerpräsidenten István Bethlen, die Deportation, als ihr im Alter von neunundsechzig Jahren die zehn Quadratmeter große Lehmbodenkammer eines Kulaken als Zwangswohnung zugewiesen wurde? Warum wurde sie als gefährlich angesehen, als Feind des Volkes?

Wie muss es für die Internierten gewesen sein, in den Barackenlagern in Hortobágy mit ihren Familien in Wohnungen, die aus Schweine- und Schafställen umgebaut wurden, hinter Stacheldraht zu leben? Sie arbeiteten von morgens bis abends für einen Hungerlohn, weil es keine andere Einkommensquelle gab, und die Vertriebenen erhielten noch weniger Lohn für die gleiche Arbeit als die Arbeiter. Wie konnten sie die tägliche Demütigung, den psychischen und physischen Terror ertragen? Wie war es, sich hilflos und ohnmächtig zu fühlen? Was muss den Geist dieser Menschen am Leben erhalten haben? Vielleicht war es ihr Gefühl der Unschuld, ihr starker Glaube an Gott, ihre verbliebene Würde und das Wissen darum, dass man ihnen ihr Wissen nicht nehmen kann.

Und was haben diejenigen gefühlt, die auf Befehl, auf Anweisung der Partei diese Gesetzlosigkeit unterstützt und ausgeführt haben? Was haben sie damals gefühlt und wie haben sie es später erklärt? Wie konnten sie das alles mit ihrem Gewissen vereinbaren?

Erleichterung und Befreiung brachte das Amnestiedekret 1953 nach Stalins Tod. Es bedeutete nicht, dass die Deportierten in ihre Wohnungen hätten zurückkehren können. Ansprüche auf Rückgabe und Entschädigung wurden im Sinne des Dekrets ausgeschlossen. Sie durften weder in Budapest noch in den größeren Städten oder im Grenzgebiet Fuß fassen. Sie hatten keine eigene Wohnung, ihr materieller Besitz wurde ihnen weggenommen und sie konnten sich nur für körperliche Arbeit bewerben. Das X stand noch immer neben dem Namen ihrer Kinder, und nur die Hartnäckigsten durften Abendkurse besuchen, um einen Schulabschluss oder ein Diplom zu erwerben. Zum Elend der Vertreibung gesellten sich die vielen Ablehnungen.

Zum Zeitpunkt des Amnestieerlasses hat die Partei die Klassenfeinde erneut gelistet. 1953 gab es 94.827 von ihnen. Die beim Geheimdienst haben noch viel mehr Feinde registriert, etwa zwei Millionen Menschen. Auf sie wurden vierzigtausend Agenten losgelassen. Diese Liste der Regimegegner wurde von den Geheimdiensten bis zum Regimewechsel in 1989 (!) verwendet.

Heutzutage wird wenig über diese Zeiten gesprochen, in den Köpfen der Menschen herrscht darüber ein beträchtliches Chaos. Der Versuch, die Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild umzugestalten, d.h. die kommunistische Ideologie in die Praxis umzusetzen, war zwar in einer Sackgasse gelandet, aber die ideologische Gehirnwäsche war erfolgreich. Es würde sich lohnen, eine Generationenumfrage darüber zu machen, was die Menschen über diese Welt wissen, als die Arbeiterklasse zusammen mit der verbündeten Bauernschaft, zumindest auf dem Papier, den Sozialismus aufzubauen gezwungen war.

Was wissen sie darüber, wie die von Moskau geleitete ungarische Parteielite das ungebildete, einfache Volk für den Aufbau ihrer Diktatur benutzt hat?Was wissen sie darüber, wie die Partei im Interesse ihrer Macht jeden aus dem Weg räumte, den sie als Feind des zu verwirklichenden kommunistischen Systems betrachtete?

Die ehemals Vertriebenen wurden zum Schweigen verpflichtet. Wer dagegen verstieß, sich verplapperte, verletzte damit Staatsgeheimnisse und wurde hart bestraft. Die Betroffenen sprachen also nicht, und nach vierzig Jahren gab es nur noch wenige, die darüber noch sprechen konnten. Die Dokumente sind seit 1995 für Forscher offen, aber die wirklich belastenden Dokumente sind aus den Archiven verschwunden. Die Mehrheit der Gesellschaft erinnert sich nicht an die Grausamkeiten und Verfolgungen der 1950er Jahre oder sie will sich nicht erinnern.

Die Nachkommen der verantwortlichen kommunistischen Parteielite leben ebenso sorglos unter uns wie die Nachkommen derer, die diesem korrupten, gesetzlosen System bis zum geht nicht mehr gedient haben.

Denen, die ohne Schuld durch die Höllenschlünde gegangen sind, fehlt es an Rachegedanken. In gewisser Weise sind alle mit ihrem Schicksal versöhnt. Sie mussten leben, arbeiten und lernen, um zu zeigen, dass sie auch unter solchen Umständen die Kraft dazu haben.  Sie sind versöhnt, aber sie haben nicht vergeben. Denn das, was ihnen angetan wurde, kann man nicht vergeben.

Dank gebührt Kinga Széchenyi, die in ihrem Buch Klassenfeinde. Die Geschichte der Deportationen in Ungarn während der kommunistischen Schreckensherrschaft, Seubert Verlag, 2022 die Tragödie der Vertreibung aufgearbeitet hat.

Autor, Dr. phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin

MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20220530-a-nep-ellensegei

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