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Zwangsarbeitslager in Badacsonytomaj – zum Gedenktag für die Opfer des Kommunismus

25. Februar 2023 von IRÉN RAB

Anhand von Schätzungen und Archivforschungen lässt sich die Zahl der weltweiten Opfer des Kommunismus auf etwa 100 Millionen festlegen. In Ostmitteleuropa erreicht die Zahl der in Hungersnöten, Zwangsarbeitslagern oder durch Hinrichtungen Verstorbenen die Million, doch Opfer des Systems waren auch diejenigen, die inhaftiert, verhört, gefoltert oder gebrandmarkt wurden, die wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt wurden – kurz gesagt alle, die ihres Rechts auf freies Handeln und freie Entscheidung beraubt wurden, die körperlich und seelisch zugrunde gerichtet wurden.

In einer sternlosen Augustnacht im Jahr 1951 floh Gy. S. aus dem Zwangsarbeitslager in Badacsonytomaj am Plattensee. Es war Nachtschicht, die Häftlinge arbeiteten am erzwungenen Aufbau des Sozialismus in der Basaltmine, aber Gy. S. umging die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen des Wachpersonals und verschwand mit vorsätzlicher Absicht im Gebüsch. Er wollte in den Westen, in die Welt, die er für frei hielt.

Gy. S. war ein politischer Gefangener, der 1949 wegen der Verteilung antisowjetischer und antikommunistischer Flugblätter zu sieben Jahren Haft und der vollständigen Beschlagnahme seines Eigentums verurteilt wurde. Der Volksgerichtshof stellte sich nicht die Frage, wie die Familie, die ihres Vermögens und  Ernährers beraubt wurde, die junge Mutter mit drei kleinen Kindern, überleben sollte.

Gy. S. hat sich vor dem Krieg nicht näher mit Politik befasst, nur so weit, wie es Männer im Allgemeinen tun, einer Partei gehörte er nicht an. Er wurde 1942 zur Armee eingezogen, kämpfte im Krieg und wurde später von den Amerikanern gefangen genommen. Gy. S. war weder Dummkopf noch Feigling, er nahm als Funktelegrafist an fünfzig Einsätzen des Angriffs gegen die Sowjetunion teil und wurde dreimal mit der Tapferkeitsmedaille dekoriert, Bronze und Silber für seine Tapferkeit.

All dies wurde später als belastendes Beweismaterial gegen ihn verwendet, weil er gegen die Sowjetunion kämpfte, anstatt sich zu weigern, und weil er Auszeichnungen von den Faschisten annahm.

Auch seine Kriegsgefangenschaft bei den Amerikanern machte ihn zum Verdächtigen. Obwohl er 1945 so schnell wie möglich aus dem Gefangenschaft nach Hause eilte und heilfroh war, dass die Hölle vorbeiging, dass er mit seiner Familie ein neues Leben beginnen konnte, dass er wieder arbeiten durfte. Zum Zeitpunkt der „Befreiung“ (also Besatzung Ungarns durch die russischen Truppen) war er erst 25 Jahre alt, seine Frau sogar noch jünger, aber sein Glaube an die Zukunft und sein Instinkt für das Leben führten zur Geburt von drei Kindern, eines nach dem anderen.  

Im Jahr 1947 spürte er, dass die Dinge ausgesprochen falsch liefen und dass er etwas tun musste. So trat er in die Ungarische Unabhängigkeitspartei ein, die seine kommunistischen Gegner, die Genossen, einfach nur „die Pfeiffer-Partei“ nannten, da das Wort „Unabhängigkeit“ in einer Volksdemokratie sowjetischer Prägung nichts im Parteinamen zu suchen hatte! Viele fehlgeleitete Arbeiter erkannten dies nicht, und so kam es, dass die erst im Hochsommer 1947 gegründete Unabhängigkeitspartei bei den Ende August abgehaltenen Wahlen, trotz aller inzwischen nachgewiesenen Wahlbetrügereien, das Vertrauen von fast 14% der Wählerschaft gewann.

Die Kommunisten brandmarkten sie sofort als Faschisten, da ihre Mitglieder „regelmäßig und organisiert Terrorgerüchte, Kriegspropaganda und Gerüchte, die die demokratische Ordnung des Landes verunglimpfen, verbreiten“.

Der Gründer der Partei, Zoltán Pfeiffer, wurde zum Verräter erklärt und diese „konspirative“ Partei im Namen der Demokratie verboten. Das ist das Wesen einer Diktatur.

Nach der Auflösung der Partei setzte Gy. S. seine „antidemokratischen Aktivitäten“ zusammen mit vielen seiner Kameraden illegal fort, wurde jedoch gefasst, verurteilt und verbüßte zwei Jahre im Zwangsarbeitslager in Badacsonytomaj.

Das von Stacheldraht umgebene Arbeitslager wurde im Frühjahr 1949 nach sowjetischem Vorbild errichtet. Hier wurden die Feinde des kommunistischen Regimes, die politischen Gefangenen und später die sog. Kulaken, die Söhne der klassenfeindlichen Bauernfamilien, zur Zwangsarbeit interniert.

Mehr ist nicht bekannt, denn nach der Auflösung der Lager in den Jahren 1953-54 vernichtete die Staatsicherheitsbehörde die belastenden Beweise sorgfältig. Während der Blütezeit der Proletardiktatur gab es im Land zahlreiche solche Zwangsarbeitslager.

In der Basaltmine in Tomaj wurden Basaltblöcke von den Häftlingen gesprengt, um die Arbeit effizienter zu gestalten. Wenn der Docht zu kurz war, hatte der Gefangene keine Überlebenschance, d.h. er konnte nicht rechtzeitig aus der Tiefe an die Oberfläche gelangen. Aber das Panorama war wunderschön, vom Rand des „Häftlingsquartiers“, das am Fuße der riesigen, steilen Steinmauer errichtet worden war, konnte man das Wasser des Plattensees sehen, der mit tausend Lichtern sowohl für die Genossen als auch für die Klassenfeinde gleichermaßen glänzte. 

Nach der Flucht verkleidete sich Gy. S. als Urlauber und versuchte, sich so weit wie möglich aus dem Gebiet von Badacsony in Richtung Grenze zu entfernen. Er verbrachte die Nächte auf Heuböden, in Scheunen oder in einem verlassenen Presshaus, aber später brauchte er sich nicht mehr zu verstecken. Als er die Hilfsbereitschaft der Menschen sah, verschwand sein Misstrauen. Er sagte offen, er sei politischer Gefangener, der aus dem Bergwerk geflohen ist. Er erzählte auch von seiner Flucht und seinen Plänen, das Land zu verlassen.

Überall wurde er mit Sympathie aufgenommen, man half ihm, sich zu verstecken, gab ihm Kleidung, Essen und Unterkunft. Einige gaben ihm sogar die eigenen Dokumente,

damit er sich bei Bedarf ausweisen konnte. Ein Beamter der Stadtverwaltung stellte ihm falsche Papiere mit Stempel aus. Es war 1951, die kommunistischen Krallen der Staatssicherheit streckten sich in alle Richtungen aus, aber die Menschen hatten immer noch den ererbten Sinn für Gemeinschaft und Solidarität, das Gebot des Glaubens, dem Bedürftigen zu helfen. Niemand ist zur Polizei gelaufen, niemand hat einen Brief geschrieben, in dem er ihn angezeigt hätte.

Die nationale Einheit war noch nicht ausgerottet. Das weite Land war in Schweigen und Abwarten gehüllt. Da die Zwangsabgabe ihnen alles genommen hatte, haben sie von ihrem Nichts gespendet, sie haben den Kulaken-Stempel für ihre paar Hektar Land hingenommen und sie sind trotz der örtlichen Autorität in die Kirche gegangen, anstatt zu Parteiversammlungen.

Gy. S´s Versuch, die Grenze zu überqueren, scheiterte, er versteckte sich bei Freunden in Budapest, versuchte, sich unauffällig zu verhalten und auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. In Budapest hatte er nicht so viel Glück, und wurde innerhalb von zwei Wochen von einem Spitzel denunziert, der einst vom Hausmeisterzimmer aus neidisch auf Gy. S.’s kleinen Lebensmittelladen geblickt hatte. Obwohl seine Freunde und Bekannten ihm auch hier beim Verstecken halfen, wobei sie sehr wohl wussten, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie erwischt würden. Trotz des Schreckens des schwarzen Autos und der Angst vor dem nächtlichen Klingeln war es auch in der Stadt noch nicht gelungen, die Moral und die echte Solidarität in der Bevölkerung zu brechen.

Die Vernehmungsphase dauerte zwei Monate. Der Vernehmungspolizist der Staatssicherheit (ÁVH, Stasi in Ungarn) hat gründliche Arbeit geleistet und schwitzte sogar während der Zeugenaussagen.  Manchmal schrieb er die Abschriften eigenhändig und zog es vor, sie nach dem Prinzip der Aussprache, in seiner Lautschrift niederzuschreiben. Daher kann man sein Bildungsniveau, und das daraus resultierende Gefühl der Unterlegenheit und seine kompensierende Herrschsucht ableiten. Er musste mit allen Mitteln ein Exempel statuieren, um zu zeigen, dass es unmöglich ist, aus einem Gefängnis zu fliehen, dass die Unterstützung eines geflohenen Häftlings oder eines Klassenfeindes Beihilfe zum Verbrechen darstellt und dass dies mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis bedroht wird. Und der Genosse Oberfähnrich wollte sich gegenüber seinen vorgesetzten Genossen stark beweisen.

Das schwarze Auto der Staatssicherheit, erreichte mit guter Logistik die Häuser aller Verdächtigen gleichzeitig im Morgengrauen. Allen wurde vorgeworfen, „einen Mann, der die Volksdemokratie stürzen wollte, zu beherbergen, zu ernähren, zu verstecken und ihm zur Flucht zu verhelfen“.

Die Verdächtigen auf dem Lande waren entweder Kulaken oder hatten einen Kulaken in der Familie oder im Bekanntenkreis, und solche Leute sind politisch ohnehin unzuverlässig. Außerdem standen sie in Kontakt mit Anhängern des alten Regimes, mit ihresgleichen, sie gingen sogar in die Kirche. All dies sind belastende Beweise.

Die Verdächtigen in der Stadt – Ladenbesitzer, Angestellte, Friseure, Steinmetze, Arbeiter und Inspektoren, laut den Berichten der ÁVH allesamt einfache Bürger, stammend aus der Arbeiterklasse – führten ein vorbildliches, arbeitsreiches Leben, gingen nirgendwo hin, hatten keine Freunde und engagierten sich nicht politisch. Dies wurde früher als passiver Widerstand bezeichnet. Das größte Problem, das die Staatssicherheit mit ihnen hatte, war, dass sie sich nichts zuschulden kommen ließen, sie hatten nichts, womit sie hätten erpresst werden können.

Gy. S. wurde schließlich wegen Flucht und versuchten illegalen Grenzübertritts zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er legte vergeblich Berufung ein und wurde erst im August 1956 auf Bewährung entlassen. Für den Rest seines Schicksals braucht man nicht viel Phantasie. Als Junge aus Budapest und erfahrener Soldat hat er wahrscheinlich an der Revolution im Oktober 1956 teilgenommen. Er ist danach nicht nach Westen emigriert, sondern zu Hause geblieben. Seine Kinder sahen ihn nicht lange, weil ihm eine weitere Haftstrafe drohte, aber das ist ein anderer Fall, ein anderer Satz von Akten. Alles, was wir über Gy. S. wissen, ist, dass er 1962 starb. 

Er lebte kaum zu ertragende 42 Jahre, in diesem beschämenden, grausamen 20. Jahrhundert.

Autorin, Dr- phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin

MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20211206-diktatura

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