Suche

Wir glauben daran, dass unsere Heimat zu großen Dingen berufen ist

16. März 2023 Mandiner von BALÁZS ORBÁN

Ministerpräsident Viktor Orbán hat am Jahresende die Herausforderungen, wie auch die Chancen und Möglichkeiten des bevorstehenden Jahrzehnts in einem umfassenden Vortrag erläutert. Die wichtigsten Aussagen der im engen Kreis gehaltenen Rede hat der politische Direktor des Ministerpräsidenten, Balázs Orbán schriftlich festgehalten.

Inzwischen wurde eindeutig erkennbar, dass die größte strategische Herausforderung des kommenden Jahrzehnts für Ungarn darin besteht, aus dem Mittelfeld und zu den hoch entwickelten Ländern aufzusteigen und innerhalb Zentraleuropas den Status einer regionalen Mittelmacht zu erreichen. Diese Aufgabe ist eine enorme Herausforderung an sich und den Aufholprozess haben auch nicht alle Länder bewältigen können. Aus der Fachliteratur sind zahlreiche positive Beispiele bekannt, andererseits gibt es auch eine nicht minder geringere Anzahl von Ländern, die an diesen Anstrengungen gescheitert sind. Noch dazu gibt es kein Vorbild dafür, dass ein Land den Aufstieg nach einer Stagnation oder einer stockenden Entwicklungsphase erst nach mehreren Anläufen geschafft hätte.

Damit muss Ungarn diese Aufgabe im Durchmarsch bewältigen, weil sich ansonsten die Voraussetzungen für den Aufstieg in Luft auflösen und das Zeitfenster schließt. Zusätzliche Schwierigkeiten – oder gar Chancen – bestehen darin, dass das Land diesen Entwicklungspfad inmitten einer aus den Fugen geratenden Weltordnung zu bewältigen hat. Die Umrisse einer neuen Ordnung zeichnen sich erst ab, eines steht allerdings fest: sollte wieder ein internationales System der verschiedenen Blöcke wie in den Zeiten des Kalten Krieges entstehen, droht ein Rückgang bei der Intensivierung internationaler Beziehungen und des Welthandels, in Folge dessen droht wiederum ein Bedeutungsverlust für Ungarn.

Diese Entwicklung stellt Ungarn, das inmitten des intensiven Aufholprozesses steht, vor grundlegende Herausforderungen.

Eine Antwort auf diese zweifach gelagerte Problematik kann das Netzwerkmodell sein und Ungarn sieht darin auch die Strategie für den Aufstiegsprozess. Und was heißt das im Detail?

Beim neoliberalen Modell der Globalisierung ist die Luft raus

Das Globalisierungsmodell von heute wurde nach dem Fall der Sowjetunion etabliert. Ihre Grundlage war eine sich nach neoliberalen Grundsätzen selbst organisierende unipolare Weltordnung, angeführt von den Vereinigten Staaten. Der Kernpunkt dieses Modells bestand darin, dass die Marktteilnehmer spontan, nach eigenem Ermessen und frei von staatlicher Kontrolle weltweit ihre Geschäftsbeziehungen aufbauen konnten. Ein tieferes Verständnis dieses Modells bietet die Netzwerktheorie: aus dieser Perspektive bietet sich das Bild eines dezentralisierten, von Hierarchien freien Modells der Globalisierung. Aber selbst das hatte seine Nachteile.

Die fehlende Regulierung, die fehlende staatliche Kontrolle hat Sicherheitsmechanismen außer Kraft gesetzt, die eventuelle Nachteile mindern können. Daraus wird auch die Bedeutung der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 erkennbar: die rasante und drastische Ausbreitung dieser Krise war just eine Folge dessen, dass es in Ermangelung eines starken Staates keinen Akteur gegeben hat, der in der Lage gewesen wäre, die Symptome zu lindern oder gegebenenfalls auch die Ursachen zu beseitigen. Darüber hinaus lag der Schwerpunkt der Wirtschaft gemäß der neoliberalen Doktrin nicht auf die Industrieproduktion, sondern auf den Dienstleistungsbereich, beziehungsweise auf die Profitabilität gelegt. Damit wurden in wenigen Jahrzehnten die traditionell hoch entwickelten Industriekapazitäten zahlreicher westlicher Länder abgebaut. Das wurde 2008 zum Nachteil: die von der Industrie entblößten Westmächte bekamen – vor Allem in Europa – die Krise stärker zu spüren, während asiatische Länder, allem voran China gestärkt hervorgingen.

Trotzdem haben damals, im Jahre 2008 erst wenige erkannt, dass die Krise der neoliberalen Wirtschafts- und Politikordnung angebrochen ist, während viele meinten, es handele sich lediglich um eines der wiederkehrenden wirtschaftlichen Rückschläge der westlichen Welt. Die politische Rechte in Ungarn hat allerdings zum damaligen Zeitpunkt bereits erkannt, dass es sich um mehr handelt, nämlich um die Umwandlung der gesamten Weltordnung. Die Ereignisse der 2010-er Jahre, die Migration, der Brexit, beziehungsweise der Wahlsieg von Donald Trump haben aufgezeigt, dass die neoliberale Weltordnung nicht mehr so gut funktioniert, wie zuvor und sie hat deshalb auch teilweise an Legitimation eingebüßt. Die 2020 blitzartig einschlagende Pandemie hat erneut die Vulnerabilität der neoliberalen Weltordnung aufgezeigt. Das Tüpfelchen auf dem i war der Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der Ukraine 2022: dadurch wurde deutlich, dass die aktuelle ausschließliche Ausrichtung auf den Westen nicht nachhaltig ist, weil die Herausforderer des Westens zu einem nicht allzu geringen Teil gerade durch den liberalisierten Handel und die liberalisierte Wirtschaft an Stärke zugelegt haben.

Die Antwort des Westens: Blockbildung

Als Antwort auf die Krise der Weltordnung – und um die eigene Dominanz zumindest teilweise zu bewahren – ist der nach wie vor von den USA angeführte Westen dabei, seine Beziehungen so schnell es geht zu lösen, zu schwächen oder unter Kontrolle zu bringen. In der westlichen Terminologie wird das als decoupling, als Trennung voneinander bezeichnet. Anscheinend kehren dabei die aus dem Kalten Krieg bekannten internationalen Machtblöcke wieder. In der Netzwerktheorie lässt sich die dadurch entstehende Weltordnung als System parallel existierender, hierarchischer Netzwerke beschreiben.

In einer derartigen Konstellation findet jeglicher wirtschaftlicher, politischer und kultureller Austausch über die jeweils führenden Staaten der einzelnen Blöcke statt. Diese Staaten bilden das Zentrum der einzelnen Blöcke, während den diesen Zentren untergeordneten Ländern, die als Knotenpunkte betrachtet werden können, haben lediglich eine periphere Stellung.

Das ist eine ausgesprochen schlechte Nachricht für die gesamte Europäische Union, insbesondere jedoch für die Staaten an ihrem Rand, weil das Machtzentrum in einem derartigen System nicht nur die Beziehungen zwischen den einzelnen Blöcken kontrollieren kann, sondern auch die Aufgabe der Ressourcenverteilung an sich zieht. Zusätzlich werden jegliche Störungen der Lieferkette der Wirtschaftsgüter zu allererst und am ärgsten in den Ländern der Peripherie spürbar – während genau diese Länder keine Mittel in der Hand haben, irgend etwas an ihrer Situation zu ändern.

Ungarn darf sich nicht an der Blockbildung beteiligen

Mit der Blockbildung hat Ungarn ausgesprochen negative Erfahrungen gemacht, weil ein solcher Zustand stets mit der Bedeutungslosigkeit des Landes verbunden war. So war es unter der osmanischen Unterwerfung, als das Land die Pufferzone zwischen der christlichen und der islamischen Welt bildete, wie später auch in der Habsburger k.-u.-k.-Monarchie, als Ungarn den industrialisierten Regionen unterworfen war und in dem von der Sowjetunion beherrschten Ostblock stand Ungarn eher am Spielfeldrand.

Eine Blockbildung liegt nicht im Interesse Ungarns und das belegt nicht nur eine Vielzahl historischer Beispiele. Ein besseres Verständnis der Problematik bietet wiederum die Betrachtung mit Hilfe der Netzwerktheorie. In dieser Konstellation wird ein Land bestenfalls eines der Zentren wählen müssen, das jedoch eine exklusive Anbindung fordert. Das heißt wiederum, dass Ungarn eine untergeordnete Rolle bekäme, was wiederum genau das Bestreben verhindern würde, aus der Reihe der weder zu wenig, noch allzu hoch entwickelter Länder aufzusteigen.

„Teilaufgabe null“ der Ausarbeitungungarischen Strategie für den Aufstiegsprozess: es gilt, eine länderspezifische Globalisierungslogik aufzusetzen, welche die negativen Auswirkungen übersteuert. Eine Lösung für diese Problematik bietet das Modell der Verbundwirtschaft.

Es ist kein decoupling, sondern connectivity, nicht die Abtrennung, sondern die Verbindung geboten. Statt der Trennung der Verbindungen liegt die Stärkung der Beziehungen in unserem Interesse, weil das die logische Konsequenz aus der Historie, der geographischen Lage und den kulturellen Gegebenheiten Ungarns folgt. Es ist kein Zufall, dass Denker wie István Széchenyi und Pál Teleki den Schlüssel für den Aufstieg Ungarns in der Vermittlung zwischen West und Ost gesehen haben. Alles, was dem zuwiderläuft, bereitet dem Land ernsthafte Probleme. Dazu zählen auch der Krieg und die Wirtschaftssanktionen, weil dadurch die Handelswege zwischen Ost und West unwegsam werden. Daraus folgt auch, dass die Bedeutung der für uns südlichen und wirklich einzig verbliebenen Ost-West-Route über den Balkan und der an dieser Route liegenden Länder von Ungarn über die Türkei bis nach Usbekistan zugenommen hat.

Die Verbundwirtschaft als Aufholstrategie

Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, welche Problemfelder eine ungarische Strategie zu bewältigen hat: es gilt zu vermeiden, dass das Land an die Peripherie eines großen internationalen Blocks wird, andererseits muss verhindert werden, dass die Anomalien des früheren, auf spontanen Marktprozessen beruhenden Freihandelsmodells wiederaufkeimen. Außerdem muss die Vulnerabilität der Lieferketten reduziert und gleichzeitig erreicht werden, dass Ungarn den Anschluss an die wirtschaftlich hoch entwickelten Länder findet.

Der Vorteil des Modells der Verbundwirtschaft liegt darin, die hier beschriebenen Probleme gleichzeitig anzugehen. Darüber hinaus hat es den Charme, Hand in Hand mit den Interessen und den geopolitischen Zielen Ungarns zu gehen. Gleichzeitig bietet dieses Modell eine Alternative sowohl für das neoliberale, als auch das auf internationalen Blöcken beruhenden Globalisierungsmodell. Das Wesentliche dieses Modells, das auf einer Vielfalt von Verbindungen beruht, besteht darin, dass die Länder in einem als Netzwerk verstandenen internationalen System bestrebt sein müssen, möglichst vielfältige Beziehungen und anderen Ländern und Marktteilnehmern zu pflegen. Die Art und Weise dieser Beziehungen geht über rein wirtschaftliche Gesichtspunkte hinaus, weil unter anderem auch Handelsbeziehungen, Infrastrukturverbindungen, Investitionen und Wissenstransfer und natürlich auch öffentliche diplomatische Beziehungen berücksichtigt werden.

Bei einem derartigen Modell ist die Gefahr einer Marginalisierung nicht zu befürchten, weil ein Staat eigenständig Beziehungen zu anderen Wirtschaftsteilnehmern etablieren kann und Initiativen nicht nur von den an der Spitze der Hierarchie stehenden Blockleitländern ausgehen können. Gleichzeitig übt der Staat auch eine Kontrolle über die Beziehungen aus. Dadurch trägt ein Modell des Wirtschaftsverbundes zur Widerstandsfähigkeit bei, erhöht Investitionsrenditen und die Produktivität der Wirtschaft generell, fördert die Clusterbildung und ist explizit auch als Aufstiegsstrategie geeignet, weil die zunehmende Zahl der Beziehungen zur Aufwertung der wirtschaftlichen Rolle des jeweiligen Landes führt.

Ungarn auf dem Weg zur Verbundwirtschaft

In der einschlägigen Fachliteratur sind Südkorea, Finnland und Irland die drei bekanntesten Beispiele für einen erfolgreichen Aufholprozess. Das Beispiel dieser Länder zeigt nicht nur, dass es sehr wohl möglich ist, zu den hoch entwickelten Ländern aufzuschließen, sondern auch, dass es dafür keinen alleinigen Königsweg gibt. In Südkorea war der Schwerpunkt die Industrialisierung, in Finnland der wirtschaftliche Strukturwandel und in Irland der Kapitalzufluss. Diese Beispiele wiederum taugen bestenfalls als Inspiration und die vergangenen dreißig Jahre lassen uns erkennen, dass sich Lösungen anderer Länder nicht in identischer Form übernehmen lassen.

Beim Blick auf die existierenden Merkmale der Wirtschaftsstruktur Ungarns wird erkennbar, dass das Land in der Lage ist, die Vorteile und erfolgreiche Komponenten der genannten Modelle zu kombinieren. Dazu gehört beispielsweise das verstärkte staatliche Engagement bei den Entwicklungsmaßnahmen, in der Etablierung eines Steuersystems mit Anreizen für Investitionen und gewerbliche Tätigkeiten, aber auch der erhebliche Anstieg der Reallöhne im vergangenen Jahrzehnt oder die prägende Rolle von Branchen mit hoher Wertschöpfung. Der Problematik der Konjunktursensitivität kann man bei den Kapitalzuflüssen durch Umkehrung der Logik entgegenwirken:

statt Anreizen für die Ansiedlung von Standorten ausländischer Unternehmen wird die Stärkung heimsicher Unternehmen wie im Falle Ungarns der MOL, der OTP-Bank oder der 4iG gestützt, die auf regionaler Ebene zu maßgeblichen Akteuren werden.

Entwicklungsstand der EU-Mitgliedsstaaten

Auf dieser Basis gelang es zu Beginn der 2020-er Jahre, eine reelle Chance für Ungarn zu entwickeln, aus der Falle der Länder mit mittelmäßiger Entwicklung zu entkommen. Belegt wird diese Tatsache dadurch, dass auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bezogen Ungarn heute näher am Durchschnitt der Europäischen Union liegt, als in den zwölf Jahren zuvor. 2010 lag dieser Wert für Ungarn bei 66 Prozent des EU-Durchschnitts, 2021 wiederum wurden 76 Prozent des durchschnittlichen Entwicklungsstandes erreicht. Heute ist der historische Augenblick gekommen, mit Hilfe der Verbundstrukturen die ungarische Wirtschaft auf einen neuen Wachstumspfad zu bringen.

Durch den Aufholprozess ist ein Elan entstanden, das Ungarn in Verbindung mit dem zugrunde liegenden Wirtschaftsmodell in die Lage versetzt, mit Hilfe dieser Verbundstrukturen die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen.

Ungarn verfügt über gute Voraussetzungen zur Etablierung des neuen Modells der Wirtschaftsstrategie.

Welche Bereiche können in dieser Strategie eine Schlüsselrolle spielen? Beispielsweise horizontalen Sektoren, die die gesamte Wirtschaft durchdringen, aber auch strategische Industriezweige, die als Ansätze für den Aufbruch in die höhere Entwicklungsstufe gelten.

Im Bereich der horizontalen Sektoren muss der heutige historische Höchststand an ausländischen Kapitalinvestitionen noch weiter aufgestockt werden. Außerdem sind bei der Energie möglichst viele Verbindungen zu den großen globalen und regionalen Verteilerzentren aufzubauen. Regionale Kooperationen sollen weiter verstärkt werden, weil

im Verbundmodell die regionalen Beziehungen die wichtigste Rolle spielen und dafür ist die wirtschaftlich-geografische Einheit des Karpatenbeckens ausgesprochen gut geeignet. Darüber hinaus soll der ungarischen Finanzwirtschaft als Katalysator sämtlicher Wirtschaftszweige zu einer regionalen und globalen Rolle verholfen werden.

Dafür ist der bereits eingeleitete Umbau des Hochschulwesens heranzuziehen, um den Wissenstransfer zwischen industriellen Akteuren und weit entfernten Forschungszentren zu fördern. Schlussendlich soll Ungarn in erster Linie mit dem Instrumentarium der öffentlichen Diplomatie mit noch mehr Gewicht auf der internationalen Bühne vertreten sein. Branchenbezogen sollten neben der für einen Aufbau von Clustern besonderes geeigneten wehrtechnischen Industrie und der in den vergangenen Jahrzehnten aufgewerteten Informations- und Kommunikationstechnik die für eine Verbundstruktur besonderes geeignete Lebensmittel-, Pharma- und Fahrzeugindustrie gestärkt werden.

Das ist also die Strategie Ungarns, um zu den Gewinnern dieses Jahrzehnts zu zählen. Die Strategie liegt vor, die wohlüberlegte und methodische Umsetzung ist im Gange. Alles ist vorhanden, um die Möglichkeiten dieser S trategie voll zu entfalten. Man darf diese Aufgabe nicht unterschätzen und das Spielfeld mag sogar holpriger sein, als bisher gewohnt.

Wir alle glauben aber daran, dass unsere Heimat zu großen Dingen berufen ist und dass wir am Tor einer historisch einmaligen Gelegenheit stehen. Und der Erfolg steht oder fällt allein mit uns. Auf zur Arbeit!

Der Autor, Balázs Orbán ist der politische Direktor des ungarischen Ministerpräsidenten

MAGYARUL: https://mandiner.hu/cikk/nyomtatas/20230104_nem_a_szetbontasra_igen_az_osszekapcsolasra_a_magyar_strategia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert