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Wahre Stadionatmosphäre

11. Juni 2021 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

„Die Austragung einer Fußball-Europameisterschaft ist keine Sache des Staates, sie ist eine nationale Angelegenheit. Hauptakteure sind die Fußballverbände, die lokalen Behörden und eine breite Palette von Sportliebhabern, der Staat spielt nur eine unterstützende und ergänzende Partnerrolle“, sagte der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány 2005. In seiner gewohnt heuchlerischen Art versprach er alles, was ihm gerade in den Sinn kam. Eine Schnellstraße, welche die ungarischen und kroatischen Austragungsorte der Europameisterschaft verbinden werde, Stadien mit Autobahnanschluss, Hochgeschwindigkeitszüge mit 160 km/h und einen Flughafen in jeder Gastgeberstadt. Der Dachboden des Parlaments wurde mit Versprechungen vollgestopft.

Laut Umfragen unterstützten neunundachtzig Prozent der Bevölkerung die Idee, die EM auszurichten, auch die Oppositionspartei Fidesz, obwohl sie die Äußerungen der Sozialisten zur Sportpolitik als reines Kampagnengetöse bezeichnete und für wenig glaubhaft hielt. Denn

die Sozialisten haben in ihrem vierten Regierungsjahr die Sportförderung um einen Drittel gekürzt, das Stadionrekonstruktionsprogramm gestoppt, die Förderung des Studentensports gestrichen und die versprochenen Zuschüsse an die Sportvereine nicht überwiesen.

Mit anderen Worten, sie taten genau das Gegenteil von dem, wovon sie gefällig faselten.

Die Bewerbung für die Fußball-Europameisterschaft 2012 musste im Jahr 2005 eingereicht werden. Die gemeinsame ungarisch-kroatischen Bewerbung umfasste geschlagene tausend Seiten und verschlang fast eine halbe Milliarde Forint, wobei die ungarische Bürgschaft vom sozialistischen Regierungschef höchstpersönlich übernommen und von seiner Innenministerin, einer gewissen Mónika Lamperth, an allen notwendigen Stellen gegengezeichnet wurde. Glücklicherweise mussten aufgrund der gemeinsamen Organisation nur vier Stadien präsentiert werden, von denen aber kein einziges fertig war.

Als das UEFA-Komitee die Baustelle besuchte, wurde ihm mit Modellen und Ansichtsplänen gezeigt, wie alles werden wird, dazu wurde alles Mögliche erklärt.

Das Geld für die Sportförderung war seit dem Regierungswechsel 2002 zwar zusammengeschrumpft, aber sie wurde durch den legendären europäischen Zusammenhalt und Willen ersetzt, welche bekanntlich mehr wert sind als Geld. Zsolt Török, der sozialistische Beauftragte für Sport, sah den größten Wert und zugleich Wettbewerbsvorteil der Kandidatur darin, dass Ungarn damals bereits Mitglied der EU war und Kroatien erst eines werden sollte. Die ungarischen Abgeordneten im Europäischen Parlament sollten und könnten durch Lobbyarbeit in ihren Fraktionen und Ausschüssen viel zum Erfolg Ungarns beitragen. Damals schätzten einige die Kosten auf einhundertfünfzig bis zweihundert Milliarden Forint, andere auf fünfhundert Milliarden, aber die zuständige Regierung kam – sorgfältig mit Papier und Bleistift auf Kante gerechnet – nur auf einundsechzig Milliarden.

Der Ministerpräsident der leeren Versprechungen, Ferenc Gyurcsány reiste im Frühjahr 2007 persönlich nach Cardiff, um mit seiner Anwesenheit Druck auf die Entscheidungsträger der UEFA auszuüben. Er nahm unser aller Jolly Joker, den Vorsitzenden des Organisationskomitees, Tamás Gyárfás, mit, und die ungarische Fußballtradition wurde durch den „Blonden Fels“, also Kálmán Mészöly, den ehemaligen legendären Mittelverteidiger vertreten. Sie vertrauten auf die ehemalige Autorität des ungarischen Fußballs und die des ungarischen Ministerpräsidenten. „Le Roi“ Platini zog den Siegerumschlag heraus, in dem sich das polnisch-ukrainische Versöhnungsangebot befand. Bei uns zählten die gemeinsame Geschichte, die achthundert Jahre alte Personalunion und die späte Versöhnung nicht, und die ungarisch-kroatische Bewerbung, die zunächst als die Wahrscheinlichste gegolten hatte, erhielt keine einzige Stimme. „Wenn das Angebot und die Präsentation entschieden haben, liegt die Verantwortung bei mir“, sagte Gyárfás, um die Schuld auf sich zu ziehen, „wenn andere politische oder geschäftliche Erwägungen entscheidend waren, ist die Verantwortung geteilt.“ Dann weinte er vor den Kameras, weil er das ungarische Volk enttäuscht hatte.

Die Kroaten verkrafteten die Niederlage nur schwer. „Wir haben keine Mafia-Verbindungen, wenn Europa uns nicht wählt, soll das Europas eigenes Problem sein“, erklärten sie kühn. Der ungarische Ministerpräsident griff zu seinem theatralischen Handwerkszeug und zog die gelassene Kraft-Karte: „Es ist natürlich eine Enttäuschung, aber die Niederlage muss mit Würde getragen werden. Wir haben unser Bestes gegeben, wir kennen die Hintergründe der Entscheidung nicht.“ Die damalige ungarische Opposition, der Fidesz, sah dagegen gerade in Ferenc Gyurcsány den Hauptgrund für das Scheitern.

Der heiße Herbst 2006 in Budapest hatte zu einem Vertrauensverlust in Europa geführt, und Gyurcsánys Glaubwürdigkeit und Garantien waren eher Hindernis als Vorteil für Ungarn.

Außerdem konnten die europäischen Sportorganisationen bei der Schwimm-Europameisterschaft – als die versprochene Schwimmhalle nicht so, nicht dort und nicht wie versprochen gebaut wurde – erfahren, wie viel Gyurcsánys Garantie in der Wirklichkeit bedeutet.

Die Bewerbung um die Europameisterschaft 2012 war der dritte ungarische Versuch in Folge – und das dritte Fiasko zugleich. Es klappte nicht allein, es klappte nicht mit Österreich und es klappte nicht mit Kroatien. Für 2020 gelang es schlussendlich, sich einen Bruchteil an den Gastgeberrechten zu sichern, aber die Nationalmannschaft musste trotzdem um das Teilnahmerecht kämpfen, es gab keine automatische Gastgeberquote. Auch die Pandemie spielte eine Rolle, das Ganze wurde um ein Jahr nach hinten verschoben. Diesmal sollte es eine echte Europameisterschaft, ein Turnier auf dem ganzen Kontinent in elf Städten in elf Ländern werden. Von den ursprünglich dreizehn Austragungsorten hat die UEFA Brüssel von der Liste gestrichen, weil der Stadionbau dort nicht im erforderlichen Tempo vorangeschritten war. (Brüssel scheint auf allen Ebenen und bei allen Themen zu langsam zu sein.)

Seien wir ehrlich, diese kontinentweite Inszenierung ist keine besonders gute Idee, und das nicht nur wegen der zwischenzeitlich ausgebrochenen Coronavirus-Epidemie. Teams, Pressemitarbeiter und nachgewiesenermaßen virenfreie Fans werden im europäischen Luftraum von London bis Baku kreuz und quer herumgeflogen.

Das Umweltbewusstsein wird durch die Vorherrschaft der supranationalen Idee des obersten europäischen Wertes kurzerhand außer Kraft gesetzt. Ich sehe schon eine zukünftige Olympiabewerbung: Mindestens drei Kontinente bewerben sich um die gemeinsame Ausrichtung der Olympischen Spiele!

Die Grünen werden genug zum Protestieren haben, sie können den Pro-Kopf-Kohlendioxid-Ausstoß der Fußball-Europameisterschaft berechnen, wie sehr sie die ohnehin kurzlebige Zukunft der Erde dadurch noch weiter reduziert wird.

Die epidemiologische Lage wird den Umweltschützern ein bisschen zu Hilfe kommen, es wird insgesamt weniger Reisen geben, weil drei der Austragungsorte sich geweigert haben, vor Zuschauern spielen zu lassen, und die anderen nur Karten für einen Viertel bis einen Drittel der Stadionplätze verkaufen.

Soweit ich es übersehen kann, wird das Puskás-Stadion in Budapest das einzige sein, bei dem in der Fernsehübertragung keine virtuellen Stadiongeräusche dazu gemischt werden müssen, wo echte Stadionatmosphäre herrschen wird und deshalb wahrscheinlich die besten Spiele stattfinden können.

Die in zwei Jahren fertiggestellte Puskás-Arena wurde von ungarischen Ingenieuren entworfen und von ungarischen Unternehmen zu Nettokosten von 142 Milliarden Forint (ca. 405 Millionen Euro) gebaut. Wenn das K-Monitor, die wadenbeißerische Korruptionsjäger-Webseite sagt, dann muss es ja stimmen, sie wissen bekanntlich alles, auch das, dass die beiden Hauptauftragnehmer angeblich mit der wichtigsten Zielscheibe der Opposition, Lőrinc Mészáros verbunden sein sollen.

Ich liebe die ungarische Sprache, mit einer einfachen kleinen Wortmodifizierung kann man sofort einen Schatten des Verdachts auf jemanden werfen, ohne dass es in den Augen des Gesetzes als Verleumdung gilt.

Aber es ist eine Verleumdung. Außerdem hätte man mit dem Stahlbeton, der für das Puskás-Stadion verwendet wurde, fünfundsiebzig Mehrfamilienhäuser bauen und somit das Geld der Steuerzahler für bedürftige Familien ausgeben können, stattdessen wurde ein Stadion gebaut! Ein zukunftsweisender Prachtbau des traditionsreichen ungarischen Sports, das so nebenbei im vergangenen Jahr den Sonderpreis für die schönste Sportanlage der Welt gewonnen hat und auch Kandidat für den Preis der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur ist.

Im Puskás-Stadion, „Mitteleuropas hochmoderner Mehrzweck-Erlebnisarena mit der größten Kapazität“, werden Dank der erfolgreichen Pandemiebekämpfung, nach Durchimpfung der Mehrheit der Bevölkerung und mit dem viel kritisierten Immunitätszertifikat der Regierung vier ausverkaufte Spiele ausgetragen. Das bedeutet viermal achtundsechzig-tausend verkaufte Karten. Ich würde mich freuen, wenn Sportökonomen ausrechnen könnten, wie viel Ungarn von dieser zersplitterten Europameisterschaft doch profitiert, damit die Blinden mit den Scheuklappen auch sehen können,

warum es sich lohnt, Stadien zu bauen und in den Sport zu investieren.

Ein Sportereignis ist eine nationale Sache, es erfordert gesellschaftliche Zusammenarbeit, sagte Gyurcsány noch 2005. Aber jetzt, weil nicht er und seine Freunde im Sattel sitzen, ist die nationale Sache auf einmal keine nationale Sache mehr, sogar auch nicht mehr „national“. Wir brauchen gar keine Stadien mehr, wir brauchen keine Europa- oder Weltmeisterschaft, wir brauchen keine Olympischen Spiele und wir könnten noch viel mehr aufzählen, was wir alles nicht brauchen. Eigentlich brauchen wir gar nichts, was konstruktiv wäre, was den Zusammenhalt der Gemeinschaft, die Teilhabe am Erfolg der anderen sicherte oder den Nationalstolz stärkte. Wir brauchen keinen Sport, der die geistige und körperliche Gesundheit fördert, wir brauchen auch keine Vorbilder.

Wer jedoch den Sport liebt, wer weiß, wie viel harte Arbeit, Demut und Aufopferung hinter einem guten Ergebnis stehen, der respektiert und beneidet nicht die Leistungen und Erfolge anderer.

Autorin Dr. phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin

Originaltext auf Ungarisch: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20210611-igazi-meccshangulat

Bildquelle: rangado.24.hu

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