27. Februar 2021, von ANDREA MARTIN
Im nicht-regierungsfreundlichen Teil der ungarischen Presse – ja, den gibt es genügend – taucht öfters die Ansicht auf, dass die derzeitige ungarische Außenpolitik zu konfrontativ sei und Ungarn mit der EU und praktisch mit jedem demokratischen Staat auf dieser Erde in Konflikt bringe. Abgesehen davon, dass dies ohnehin nicht der Wahrheit entspricht, finden vor allem die Presse- und Nachrichtenagenturen des ehemaligen und auch jetzigen Verbündeten, also Deutschlands, besonders unfreundliche und leider auch unwahre Worte, wenn es um Ungarn geht.
Es lohnt sich, einen Moment inne zu halten und auf die Zeit zurückzublicken, als Ungarn noch kein EU-Mitglied war, nicht Viktor Orbán, sondern der aus heutiger Sicht wesentlich milder wirkende József Antall Ministerpräsident war, und die Deutschen sich noch häufiger daran erinnerten, wo die Mauer erstmal durchbrochen wurde und wo die DDR-Bürger durch den Eisernen Vorhang in Massen aus ihrem Gefängnis ausbrechen und in den Westen flüchten konnten.
1992 war die mitte-rechts Regierung von József Antall erst seit zwei Jahren an der Macht, und die letzten russischen Truppen hatten Ungarn gerade verlassen. Zum 50. Jahrestag der Don-Katastrophe (Stalingrad) hielt der Premierminister im Militärhistorischen Museum in Budapest, vor allem vor solchen Veteranen, die noch am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten. In Bezug auf den Falklandkrieg erklärte er:
„Wenn nötig, muss man für das Land sterben.
Das sagten die Söhne der ältesten und größten Demokratie Europas, die Briten, welche des Militarismus niemals bezichtigt werden können. Keiner zweifelt daran, dass Grossbritannien ein liberales Land ist, man zweifelt nicht daran, dass es dort Rechtsstaatlichkeit gibt…“
Moment mal. Mussten wir uns bereits damals verteidigen? Jawohl.
Auf diese Rede am 11. Januar 1992 kam nämlich, wie gerufen, in der Ausgabe vom 22. Februar 1992 der linksliberalen Wirtschaftszeitschrift HVG ein Meinungsartikel von Gernot Erler, einem damals recht unbedeutenden deutschen Sozialdemokraten, der dem ungarischen Ministerpräsidenten gelinde gesagt offen drohte: „Der geistige Ausgangspunkt für seine Rede im Museum ist modernitätsfremd, die intellektuellen und geistigen Ressourcen werden aus durchsichtigen politischen Motiven in eine unfruchtbare Richtung gelenkt.
All dies könnte Ungarn, das vor allem in Deutschland so viele Freunde hat, schaden.“
Wenn man solche Freunde hat, braucht man keinen Feind, sagt darauf der normale Deutsche. Gernot Erler wurde später von 2005 bis 2009 Staatsminister im Auswärtigen Amt in Merkels erster Regierung und war aufgrund seiner slawischen Studien auch für die Beziehungen zu Osteuropa zuständig. Während dieser Zeit hatte er keine Probleme mit der damaligen postkommunistischen ungarischen Regierung, welche 2006 die Polizei auf friedlich Demonstrierende in Budapest losgelassen hatte. 2011 meldete er sich jedoch umgehend zu Wort und forderte Maßnahmen gegen die mit Zweidrittelmehrheit legitimierte mitte-rechts Regierung.
Bereits 1992 war sich Jozsef Antall der massenhaften internationalen linksliberalen Anschuldigungen vollkommen bewusst, in seiner Rede ging er auf sie ein, und kam damit der deutschen sozialdemokratischen Meinung, die allerdings erst einen Monat später erscheinen wird, zuvor: „… eins ist sicher, niemand kann auf ein solches Rezept hinweisen, das historisch auf Tatsachen beruhen würde, dass es 1944 eine Lösung gegeben hätte, bei der Ungarn in der gegebenen geopolitischen Situation der deutschen Besatzung und dem Krieg entkommen und als integrale Fortsetzung davon die sowjetische Invasion hätte vermieden werden können.“
Mein Vater, ein Polyhistor, war bei dieser Rede anwesend. Als ich ihm den unverschämten Artikel des deutschen Abgeordneten zeigte, wusste ich, dass ich ein großes Risiko einging, weil er entweder einen Herzinfarkt bekommen oder anfangen würde zu schreiben. Glücklicherweise war sein Herz damals noch robust, und sein vierunddreißigseitiger Brief, der die ungarische Geschichte in ausgezeichnetem Deutsch skizzierte, wurde dem Abgeordneten in Bonn zugesandt. Es gab nie eine Antwort. Aber die Erkenntnisse und Fragen meines Vaters hätten auch heute geschrieben werden können. Mit dem Unterschied, dass sie damals nur für einen sozialdemokratischen Politiker gedacht waren, jedoch heute für die gesamte deutsche Politik gelten. Aber die Deutschen interessiert bis heute nicht, was mein Vater damals niedergeschrieben hat:
„Egal, an welches Nachbarland wir denken, haben die dort lebenden Ungarn keine Hoffnung auf eine Autonomie, wie sie Südtirol genießt.“
„Hätte es nach dem Fall des Kommunismus in Ungarn eine blutige Abrechnung gegeben, hätte das vielleicht auf eine Art Minderwertigkeitsgefühl der Ungarn hindeuten können, aber es gab keine blutige Abrechnung!“
„Heute hat irgendwelche kriegerische Veränderung der ungarischen Grenzen überhaupt keine Realität. Die Lösung besteht darin, dass sich die Grenzen innerhalb der EG [damals gab es noch keine EU] in Luft auflösen, aber ohne diejenigen außerhalb der EU-Grenzen aus der Dritten Welt oder aus den Nachfolgestaaten der zerfallenden Sowjetunion nach Europa zu locken.“
Diese Zeilen wurden von meinem Vater im Frühjahr 1992 geschrieben! Also war der große Aufbruch in der dritten Welt Richtung Europa bereits damals zu erkennen. Jedenfalls für einen, der in der Lage war zu sehen und auch sehen wollte. Die Deutschen wollten es übrigens nicht, weil sie noch sehr lange nach dem politischen Prinzip lebten:
„Wir sind kein Einwanderungsland“.
Viel besser wäre es gewesen, wenn Deutschland ein bekennendes Einwanderungsland gewesen wäre, denn dann hätte es strenge Regeln, angemessene Einwanderungsgesetze, klare Kriterien, – wer kommen kann oder wer nicht, – eine brauchbare Auswahlmethode und ähnliches gebraucht und geschaffen.
Stattdessen haben sie sich schön warm mit dem Dubliner Abkommen zugedeckt, damit haben sie sich bis 2015 aus der Affäre gezogen, da aufgrund dieses Abkommens Flüchtlinge in dem Land zu registrieren sind, in dem sie zuerst in die EU einreisen, was auf der Landkarte deutlich macht, dass Deutschland nur aus der Luft hätte erreicht werden können, aber das wurde effektiv von den – den Fluggesellschaften erteilten – Anordnungen erfolgreich blockiert. Mit anderen Worten: Seit 20 Jahren beobachteten die Deutschen von der bequemen Couch aus, dass die EU-Grenzstaaten und von ihnen auch nur wenige durch die bereits damals bestehende Migration über Gebühr belastet werden. Nach dem Beitritt der neuen EU-Mitgliedstaaten wurde im Gegensatz zu England von den Deutschen ein siebenjähriges Moratorium verhängt, um auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU vorübergehend zu verhindern.
Es ist traurig festzustellen, dass die deutschen politischen Angriffe gegen Ungarn, genauer gesagt gegen die ungarischen mitte-rechts Regierungen seit 1990 fortlaufend andauern.
Der Anfang der ersten Koalitionsregierung der Fidesz fällt zwar mit dem Sturz von Helmut Kohl zusammen, aber wie das beschriebene Beispiel von Antall zeigt, hat das Sticheln und Piesacken durch sozialdemokratische Politiker bereits 1990 auf Hochtouren begonnen. Erlers Nachfolger heute, Michael Roth, scheint die perfekte Kopie des ersten zu sein. Dies deutet darauf hin, dass die Beamten im deutschen Außenministerium seit 1990 eine zementierte Meinung über die nicht linksliberalen Regierungen Ungarns zu haben pflegen.
Meine Vermutung ist, dass die ungarische Regierung, ausgehend von den sehr guten Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland, versäumt hat, die deutsche Öffentlichkeit über die ungarischen politischen und gesellschaftlichen Positionen in den letzten zehn Jahren ausreichend zu informieren. Die Übersetzungen von Zeitungsartikeln und Internetseiten sind bis heute mehrheitlich englisch. Dadurch können die Bürger Deutschlands nur durch ihre eigenen jornalistischen Filter über die Zustände in Ungarn informiert werden, was natürlich herzlich wenig ist. Die allgemeine Medienmeinung, also die veröffentlichte Meinung in Deutschland, basiert weitgehend auf der Position der ungarischen Opposition und nicht auf dem vom Wählerwille gestützten Regierungsbündnis. „Das Bild hängt schief” – würde Loriot sagen.
„Nichts überstürzen“ sagte Orbán, als die Mitgliedschaft der Fidesz in der Europäischen Volkspartei zum ersten Mal in Frage gestellt wurde. Das ist klug, aber es gibt Grenzen. Wenn die ungarische Regierungspartei Mitglied der Europäischen Volkspartei bleibt und den Wetterhahn Weber unterstützt, dann ist es unmöglich zu wissen, wohin die ehemals eher rechte Volkspartei torkeln wird, – vermutlich in eine linksgrüne Richtung – so dass diese Stimmen den Karren Europas auch in falsche Richtung lenken könnten. Und wenn ein Land, in dem die Haltung gegenüber der EU sowohl auf der Ebene der Bevölkerung als auch der der Regierung unvergleichlich positiv ist, dem allerdings die entscheidenden Akteure in Europa ständig vorwerfen, die Union zerschlagen zu wollen, dann lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob die ungarische Regierungspartei in einer solchen sich hin und her drehenden Geschwätzversammlung wie die Europäische Volkspartei geworden ist, wirklich ihren Platz weiter suchen und finden sollte.
Erschien: am 12. April 2019 in Zeitschrift DEMOKRATA, Aktualisiert am 21. Februar 2021
Autorin Dr.med.dent. Andrea Martin
3 Kommentare
Ein ausgezeichneter Beitrag. Ich wünsche mir, dass er von Journalisten, die sich unabhängig und wohlinformiert vorkommen und die öffentliche Meinung in Deutschland beeinflussen, gründlich gelesen wird. Vielleicht entkeimt dann bei ihnen das Gefühl, dass sie ihrem Beruf weniger wert sind als sie es glauben.
Völlig korrektes Bild über Ungarn von
früher. Ich bin nach Ungarn gefahren um zu wählen als Fidesz das Zweiten mal gewählt worden ist. Heute habe ich
meine Probleme in einigen Punkten der ungarischen Politik. Leider ist eine
Sache das absolut unakzeptabel ist:
Die zunehmende Korruption überall.
Im Westen könnte man mehr von Ungarn verstehen wenn man die
Geschichtliche Entwicklung des Landes
kannte! DDR. ähnliche Zustände die
bis heute das Land wirtschaftlich und politisch prägen. Ungarn hat nicht wie
Ostdeutschland riesige Geldmengen
und politische Unterstützung bekommen für die Erneuerung! Wenn
man z. B. den Umgang der Opposition
betrachtet, in Deutschland wäre nie
vorgekommen dass die innere Opposi
tion im Ausland das eigene Land be-
schmutzt so wie die. ung. Opposition
es im EU- Parlament macht. Sehr viel
Kenntnis des Landes wäre nötig um
mehr zu verstehen.