Innerhalb weniger Jahre nach dem Ersten Weltkrieg kamen mehr als 400.000 ungarische Flüchtlinge aus den Nachbarländern nach Ungarn
3. Juni 2023 Ungarn Heute von Ferenc Rieger
Das rumänische Außenministerium (MAE) wirbt mit einer Ausstellung zeitgenössischer Archivfotos und Dokumente für den 4. Juni als „Tag des Trianon-Vertrags“ und bezieht sich dabei auf das vom rumänischen Parlament im Jahr 2020 verabschiedete Gesetz zu diesem historischen Ereignis.
In seinen sozialen Netzwerken erklärte das rumänische Außenministerium, es werde sich stets mit Dankbarkeit an die außenpolitischen Bemühungen der Vorgänger erinnern, die nationale Zielsetzungen verwirklicht haben. Dazu gehöre auch die internationale Anerkennung der „Großen Vereinigung“ (die einseitige Erklärung der Vereinigung Siebenbürgens mit dem Königreich Rumänien durch die rumänische Nationalversammlung in Karlsburg/Gyulafehérvár/Alba Iulia am 1. Dezember 1918).
„Vor dem Hintergrund des Zerfalls der großen multinationalen Imperien verhandelten die teilnehmenden Staaten (auf der Pariser Friedenskonferenz) über den Frieden in Europa auf der Grundlage der von US-Präsident Woodrow Wilson 1918 verkündeten Prinzipien, darunter das Prinzip der Selbstbestimmung. Zum ersten Mal wurden die wissenschaftlichen Ansichten von Experten aus Bereichen wie Völkerrecht, Geschichte, Statistik, Kartographie, Linguistik und Ethnographie herangezogen“, so das rumänische Außenministerium in der Broschüre zur Veranstaltung; es fügt hinzu, dass die Ausstellung den Beitrag der rumänischen Diplomatie zur Vorbereitung und Durchführung der Pariser Friedenskonferenz darstellt.
Im Jahr 2020 erklärte das Bukarester Parlament auf Initiative des ehemaligen Außenministers Titus Corlățean den 4. Juni zum „Tag des Vertrags von Trianon“ in Rumänien.
„Der Vertrag von Trianon hat nicht nur die Rückgabe Siebenbürgens an das rumänische Mutterland rechtlich abgesegnet, sondern auch die politischen und bürgerlichen Rechte der rumänischen Mehrheitsbevölkerung der Region anerkannt“, schrieb der sozialdemokratische Senator in der Begründung des Gesetzentwurfs. Dem Politiker zufolge ist dieses Dokument die Grundlage der bilateralen rumänisch-ungarischen Beziehungen, und er ist der Ansicht, dass jeder Versuch, „die Geschichte umzuschreiben und revisionistische Positionen zu vertreten“, in der heutigen Europäischen Union inakzeptabel sei.
Dem Gesetz zufolge werden am „Tag des Vertrags von Trianon“ Veranstaltungen zur Förderung der Bedeutung des historischen Ereignisses stattfinden, für die staatliche und lokale Behörden logistische oder budgetäre Unterstützung bereitstellen können. Dem Gesetz zufolge müssen die Bukarester Regierung und die lokalen Behörden dafür sorgen, dass die rumänische Nationalflagge am 4. Juni an öffentlichen Plätzen gehisst wird.
Am 4. Juni 1920 verlor Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebiets und jeder dritte Ungar fand sich außerhalb der im Friedensvertrag von Trianon festgelegten Staatsgrenzen. Die Vielvölkerregion Siebenbürgen, die entgegen dem Narrativ von der „Rückgabe an das rumänische Mutterland“ nie Teil des erst 1859 gegründeten rumänischen Staates war, hätte alle Voraussetzungen für ein eigenständiges Staatswesen gehabt,
möglicherweise nach Schweizer Vorbild, wie Stephan Ludwig Roth vorschwebte, besser aber auf der Grundlage der eigenen Tradition als unabhängiges Fürstentum. Doch kam es nicht dazu: Die Entente zerschlug das als „Völkergefängnis“ apostrophierte Österreich-Ungarn und schuf kleinere Verwahranstalten für eine Vielzahl von Volksgruppen an seiner Stelle.
Dass der rumänische Staat ausgerechnet diesen Tag offiziell begeht, kann bestenfalls als Provokation, schlimmstenfalls als Verhöhnung der nationalen Tragödie eines Nachbarlandes verstanden werden.
Nach der Wende warnten gemäßigte Stimmen vor einem Ausschluss jener sechs Prozent der Bevölkerung, die ungarischer Muttersprache sind, durch die Wahl des 1. Dezember als Nationalfeiertag in Rumänien. Am 1. Dezember 1918 erklärte eine vom französischen General Henri Berthelot zugelassene rumänische Nationalversammlung einseitig den Anschluss der auch von Rumänen bewohnten Gebiete Ungarns an das Königreich Rumänien. Berthelot, der offiziell die (kaum vorhandenen) ungarischen Kommunisten in Siebenbürgen bekämpfen sollte, verhinderte damit ein Referendum im Sinne der Wilsonschen Selbstbestimmung.
Innerhalb weniger Jahre nach dem Ersten Weltkrieg kamen mehr als 400.000 ungarische Flüchtlinge aus den Nachbarländern nach Ungarn, weil sie unter der Fremdherrschaft keine sichere Zukunft sahen.
Einige dieser Flüchtlinge wurden erfolgreich integriert. Andere hingegen lebten jahrelang in Massenquartieren oder Notsiedlungen. Am schlimmsten erging es Tausenden von Familien, die in Viehwaggons lebten, die an den großen Eisenbahnknotenpunkten – in Budapest vor dem Westbahnhof, in Kaposvár, Szolnok usw. – auf die Abstellgleise geschoben wurden und oft jahrelang darauf warteten, dass sich ihr Schicksal zum Guten wendet.
An dieser Stelle schlagen wir unseren Lesern ein rein hypothetisches Gedankenexperiment vor: Ungarn will den 2. November zum nationalen „Tag des Ersten Wiener Schiedsspruchs“ (Die Tschechoslowakei muss 1938 die annektierten ungarischen Gebiete zurückgeben) oder den 30. August zum nationalen „Tag des Zweiten Wiener Schiedsspruchs“ (Rumänien muss 1940 auf Nordsiebenbürgen zugunsten Ungarns verzichten) erklären. Nicht auszudenken, welche internationale Empörung ein solcher Schritt auslösen würde.
Die konkrete Entscheidung des rumänischen Staates blieb hingegen unkommentiert, wurde als eine interne Angelegenheit wahrgenommen.
Am 4. Juni werden übrigens Gemeindeverwaltungen in den mehrheitlich von ethnischen Ungarn bewohnten Gebieten Rumäniens mit Argusaugen beobachtet, ob die Anzahl der gehissten rumänischen Nationalflaggen der von Amts wegen verordneten festlichen Stimmung entspricht.
https://ungarnheute.hu/news/trianon-des-einen-glueck-des-anderen-leid-29464/
Bildquelle: Foto: Trianon 100 MTA-Lendület Kutatócsoport Facebook