12. Januar 2022 Gastbeitrag von JÁNOS PUSZTAY
Es gibt vielleicht keinen anderen Ort auf der Welt, wo Sprachverwandtschaft ein so emotionales Thema ist und wo die Frage nach dem Ursprung der Muttersprache so hohe Wellen schlägt wie in Ungarn. In Ungarn wird Sprachverwandtschaft mit ethnischer Verwandtschaft gleichgesetzt, es werden Sprachen und Völker in Klassen geteilt, bestimmte Sprachen und Völker werden über andere gestellt, und
ganz an der Spitze steht natürlich das ungarische Volk und die ungarische Sprache.
Nach dieser Mentalität werden Völker, die finnougrische Sprachen sprechen, geringschätzig behandelt. Diese Einstellung ist einerseits zu verurteilen, andererseits muss man sich aber auch bewusst machen, dass auch die Esten und Finnen Sprachverwandte der Ungarn sind. Diese Völker sind den Ungarn in vielerlei Hinsicht voraus, dennoch lehnen sie die finnougrische Sprachverwandtschaft nicht ab, sondern liefern den in Russland lebenden Völkern mit finnougrischen Sprachen sogar Unterstützung.
Ich möchte klarstellen, dass es
beim Thema der Sprachverwandtschaft nicht um Wunschdenken geht, sondern um wissenschaftliche Tatsachen. Es gibt finnougrische Sprachen, aber keine finnougrischen Völker, sondern Völker, die finnougrische Sprachen sprechen.
Es kommt vor, dass die Sprachen einer Sprachfamilie von Völkern mit unterschiedlicher Genetik und Anthropologie gesprochen werden – so werden zum Beispiel indoeuropäische Sprachen von Indien bis zu den britischen Inseln gesprochen. Genauso verhält es sich auch mit den Völkern, die finnougrische (uralische) Sprachen sprechen. Sogar eine einzige Sprache kann die Muttersprache von Menschen unterschiedlicher Ethnien sein, so wie etwa das Englische in den USA heute die Muttersprache von Menschen unterschiedlichster Hautfarben ist.
Ungarn ist das Land der zehntausend Fußballexperten, Erziehungsexperten und, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, Covid-Experten. Hier kennen sich alle mit allem aus – abgesehen von denjenigen, die im jeweiligen Fachbereich beschäftigt sind -,
also sind wir natürlich auch das Land der zehn- oder zumindest mehreren millionen Sprach- bzw. Sprachverwandtschaftsexperten.
Nur, weil jemand eine Sprache spricht, und sei es auch seine Muttersprache, wird aus ihm ohne die richtige Ausbildung nicht gleich ein Linguist – wie auch ein Vogel nicht gleich ein Ornithologe ist. Wer einen Körper besitzt und eine Krankheit überstanden hat, ist noch kein Arzt, wer über eine Brücke geht, ist kein Bauingenieur, wer Auto fahren kann, ist kein Maschinenbauer, und es ließen sich noch endlos viele Beispiele finden. Man muss begreifen und einsehen, dass Sprachwissenschaft genau so eine Wissenschaft ist wie Medizin, Physik oder jedwede technische Wissenschaft.
Es gibt allerdings dennoch zwei bedeutende Unterschiede: Sprache hängt mit Identität zusammen (für viele Völker ist sie der Hauptträger der Identität), und Identität hängt mit dem Nationalgefühl zusammen und kann sich somit sogar auf die Politik auswirken. Die Politik ist in Fragen der Sprache und ihrer Herkunft jedoch nicht kompetent. Im Gegensatz zu Irrtümern im Bereich der Medizin oder Architektur, passieren aber im Falle von sprachwissenschaftlichen Irrtümern keine Katastrophen.
Jede Wissenschaft hat eine eigene Methodik, nach der sie vorgeht, eigene Rohstoffe, mit denen sie arbeitet. Ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen gelten nicht zwingend für alle Ewigkeit, sondern können sich mit der Zeit ändern, durch das Auftreten oder die Erarbeitung neuer Faktoren, neuer Tatsachen oder neuer Methoden.
Laien der Sprachwissenschaft konzentrieren sich bar jeder wissenschaftlichen Methodik meist auf die Gleichheit von Wörtern, um Sprachverwandtschaft nachzuweisen, während sie die Ähnlichkeit grammatischer Elemente vollkommen außer Acht lassen.
Die ungarische Sprache weist Ähnlichkeiten zu vielen anderen Sprachen auf, doch einzelne Überschneidungen in der Grammatik oder Übereinstimmungen im Wortschatz sind noch kein Beleg für eine Sprachverwandtschaft. Das ist keine Besonderheit der ungarischen Sprache. Egal, welche zwei Sprachen wir betrachten – dass sich nach keiner allzu langen Suche reichlich ähnlich klingende Wörter finden lassen, ist gewiss. Derartige phonetische Übereinstimmungen sind von sprachverwandtschaftlichen Beziehungen unabhängig. Bei kurzen Wörtern ist die Wahrscheinlichkeit, Ähnlichkeiten zu finden, besonders hoch. Je länger ein Wort ist, desto schwerer finden sich ähnlich lautende Wörter in anderen Sprachen. Ganz anders ist die Lage, wenn es sich um Lehnwörter bzw. Kulturwörter handelt. Der Ursprung dieser Wörter, die Quelle der Entlehnung, ist meistens bekannt und auch Weg und Richtung der Entlehnung lassen sich nachvollziehen. Dennoch hat es Möchtegern-Linguisten gegeben, die auch solche Wörter als Beleg für eine Sprachverwandtschaft auffassten.
Für die Entstehung derartiger unwissenschaftlicher Argumentationen gab und gibt es sowohl psychologische als auch politische Gründe. Ein immer wiederkehrendes Element von ihnen ist
der Glaube, dass man das Rückgrat des stolzen ungarischen Volkes zu brechen versuche, und zwar auch mithilfe einer falschen (finnougrischen) Sprachverwandtschaft.
Um die verschiedenen Ansichten nur grob zu erwähnen:
- die Annahme, die Deutschen und vor allem die Habsburger wollten das ungarische Volk demütigen (Göttingen war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein bedeutender Standort für die Erforschung der finnougrischen Sprachen und Völker; János Sajnovics, der 1770 in Wien ein Buch über die ungarisch-lappische Sprachverwandtschaft veröffentlichte),
- die antisemitische Facette: der erste Lehrstuhl für Finnougristik in Ungarn wurde 1872 gegründet, sein Leiter war der aus Göttingen nach Ungarn berufene Deutsche Josef Budenz, und unter der ersten Studentengeneration waren viele Juden,
- und schließlich der Aspekt der kommunistischen Diktatur, die Institutionen förderte, die sich mit finnougrischer Forschung beschäftigten (Universitätslehrstühle, das sprachwissenschaftliche Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, zu dem auch eine Abteilung für Finnougristik gehörte). Da das Kádár-System erwiesenermaßen schlecht war, musste alles, was von ihm unterstützt wurde, ebenfalls schlecht sein. Der Trugschluss hinter dieser Annahme ist nicht schwer zu erkennen, denn schließlich bringen auch schlechte Systeme bedeutende wissenschaftliche und kulturelle Erzeugnisse hervor. Doch in der Tagespresse der Wendezeit erschienen Artikel, die forderten, dass nun endlich auch für alternative “Theorien” der Sprachverwandtschaft Raum geschaffen werden solle
Derlei (unwissenschaftliche) Versuche des Sprachvergleichs und der Belegung von Sprachverwandtschaft durchlaufen wechselnde und sich manchmal wiederholende “Trends”. Allein in den vergangenen 150 Jahren lassen sich vier Wellen erkennen.
- Der sog. “ugrisch-türkische Krieg” im letzten Drittel des 19. Jahrhundert spielte sich zwar unter Wissenschaftlern ab, zwischen den Anhängern der ungarisch-türkischen und der finnougrischen Sprachverwandtschaftstheorie, wurde aber von der Gesellschaft mit großem Interesse verfolgt. Dieser Streit, der sich in Form von Artikeln in wissenschaftlichen Publikation und der Tagespresse über Jahre hinzog, wurde schließlich von den Anhängern der finnougrischen Sprachverwandtschaft gewonnen. Bis heute lässt sich die Zugehörigkeit der ungarischen Sprache zur finnougrischen Sprachfamilie mit wissenschaftlichen Methoden nicht widerlegen. Die Gegner der finnougrischen Sprachverwandtschaft hatten diese Theorie unter anderem deshalb angegriffen, weil die Leitfigur der wissenschaftlichen Debatte Josef Budenz gewesen war, den der deutschstämmige Ungar Pál Hunsdorfer (Hunfalvy) aus Göttingen nach Ungarn berufen hatte. Göttingen war bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein international bedeutsames Zentrum der Forschung über finnougrische Völker und Sprachen geworden; hier wurde auch Sámuel Gyarmathis Buch Affinitas lingvae hvngaricae cvm lingvis fennicae originis grammatice demonstrata 1799 herausgegeben, das in der Geschichte der vergleichenden Sprachwissenschaft eine Pionierrolle erfüllte.
- In laienhaften Sprachvergleichsversuchen taucht hin und wieder die “Theorie” einer ungarisch-sumerischen Sprachverwandtschaft auf. Die sumerische Sprache und Kultur sind überaus genau bekannt. Die Sprache ist schon nahezu allen Sprachen und Sprachfamilien der Welt gegenübergestellt worden. Die Annahme einer ungarisch-sumerischen Sprachverwandtschaft geht auf das 19. Jahrhundert zurück, doch besonders beliebt war sie in den 1960er/70er Jahren, und zwar nicht nur im heutigen Ungarn, sondern zum Beispiel auch in Siebenbürgen und in der ungarischen Diaspora in Amerika. Es ist interessant zu beobachten, dass diese Theorie sowohl in Ungarn als auch in Siebenbürgen gerade während der kommunistischen Diktatur (in Ungarn nach 1956, in Siebenbürgen unter der Ceaușescu-Diktatur) zu einer vorherrschenden Annahme bezüglich der Sprachverwandtschaft wurde. Ein Grund hierfür kann sein, dass die Vorstellung eine seelische Stütze bot: Wenn die Gegenwart tragisch ist, flüchtet man sich in die glänzende Vergangenheit, wofür die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Sumerer einen fruchtbaren Boden darstellten. Meiner Meinung müssen die Beweggründe der in Diaspora lebenden Ungarn in Amerika ähnlich gewesen sein, die über die vermeintliche ungarisch-sumerische Sprachverwandtschaft unter all den anderen Völkern im Schmelztiegel hervorzustechen versuchten.
- Die ungarisch-türkische Verwandtschaft. Ein ideologischer Vorgänger der erneuten Orientierung nach Osten war die Bewegung des Turanismus (eine pseudohistorische Ideologie, die einen gemeinsamen Ursprung der Turkvölker, Finno-Ugrier, Mongolen und mandschu-tungusischen Völker annimmt.) Heute wird dieser Trend allerdings durch die Politik der Öffnung nach Osten verstärkt. Auf gesellschaftlicher Ebene ist ein Vordringen der Kurultáj-Bewegung (bezeichnet ein Zusammentreffen der Stämme, wie es in den nomadischen Völkern der Steppe Brauch war) und von Hypothesen über die Herkunft und Sprache der Magyaren, bzw. der herrschenden Schicht, der Landnahmezeit zu beobachten. Dies geht mit Feindlichkeit gegenüber der finnougrischen Theorie einher, die sich auch in der Politik einiger Parteien zeigt. Würde man sich jedoch nüchtern mit der Frage unserer Herkunft beschäftigen und Verwandtschaft von Sprachen und Völkern getrennt betrachten, wie es die Wissenschaft tut, würde man feststellen, dass die Theorien von Kurultáj und von finnougrischer Sprachverwandtschaft auch zugleich bestehen können.
- Ungarisch-hunnische Sprachverwandtschaft. Mit dieser vermuteten Sprachverwandtschaft lässt sich aus linguistischer Sicht sehr leicht abschließen, da kein hunnisches Sprachmaterial zur Verfügung steht. Es ist nicht bekannt, was für eine Sprache die Hunnen (die europäischen Hunnen) gesprochen haben, und es existieren keinerlei Quellen, anhand derer ein eindeutiger Schluss über eine ungarisch-hunnische Sprachverwandtschaft gezogen werden könnte. Es ist leicht zu verstehen, dass ein Diskurs über Sprachverwandtschaft ohne Sprachdaten nicht möglich ist.
Ohne einen möglichen geistigen oder genetischen Ursprung unseres Volkes im Osten in Zweifel ziehen oder verwerfen zu wollen, oder aber eine emotional bedingte Anhänglichkeit an diese Vorstellung kritisieren zu wollen, muss festgestellt werden, dass die Turksprachen keine Verwandtschaft mit dem Ungarischen aufweisen. Dies ist ein weiteres Argument für den Standpunkt, dass
eine Verwandtschaft auf seelischer, geistiger oder ethnischer Ebene, oder die Sehnsucht danach, von der Sprachverwandtschaft als wissenschaftliche Gewissheit getrennt werden muss.
Autor, Prof. Dr. Dr. h.c. János Pusztay ist Sprachwissenschaftler
Deutsche Übersetzung: Sophie Matteikat
Ein Kommentar
Sehr geehrte Damen und Herren,
da bin ich nicht so kompliziert, weil ich Ähnlichkeiten sehe zwischen Türken, Finnen, Ungarn, Tataren (= Bulgaren), Bulgaren in der sozialen Interaktion.
Bei ‚ÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜÜ‘ denken wo viele an den Film ‚Wasabi‘, aber für mich ist das Sprachgefühl eines Nichtverstehenden (nicht gendermäßig gemeint) so.
Tango in Finnland und Ungarn. Gulaschkommunismus in Ungarn, Raki-Islam in der Türkei, der Zusammenschluss von Tartaren und Slaven zu Bulgaren gegen Ostrom, das Arrangement in Tatarstan, wo es kein Tschetschenien gibt … und zum Beispiel auch die Annahme des Islam … und später der Westorientierung in der Türkei mit Laizismus, Westorientierung und Industriestruktur (Fiat Doblò, Fiat Tipo, Fiat ‚Unter-Doblo‘ werden in der Türkei produziert. Es ist wie mit Kamaz in Tatarstan.)
Ungarn denken praktisch, wenn sie nicht gerade in einem Netflix-Serial über Freud … oder Max Liebermann … präsentiert werden. Die Finnlandisierung ist wie die Atatürkisierung.
In Bezug auf die deutsche und von Deutschland bestimmte Politik in der EU kalkulieren die Ungarn, ob sie dem Vorbild folgen sollen und sich nach dem Kopfschuss auch noch ins Knie schiessen sollten … und wollen lieber Energie, Familie … haben, um das Land stark zu machen.
Das Gegenteil kenne ich wohl seit über 30 Jahren aus Deutschland.
Mit freundlichen Grüßen
Gerd F. Berges