Search

Schlange am Busen genährt

Ferenc Gyurcsány und Péter Medgyessy, 2003,  (szabadeuropa.shp.hu)

29. September 2021 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

Heute ist ein denkwürdiger Tag: Heute vor siebzehn Jahren wählte die damalige Mehrheit der sozial-liberalen Regierungsparteien im Parlament Ferenc Gyurcsány zum Ministerpräsidenten Ungarns.

Die Fidesz hat sich nicht an der Abstimmung beteiligt, die MDF (wer erinnert sich noch an sie?) hat zusammen mit den Unabhängigen mit nein gestimmt oder einfach nicht auf den Knopf gedrückt. Die Opposition weigerte sich, an diesem putschistischen Possenspiel mitzuwirken. Die Stange wackelte, mit nur vier Stimmen Mehrheit wurde die „Republikanische Regierung“, wie Gyurcsány sein Kabinett nannte, gewählt.

Der Abstimmung ging eine zehnstündige Debatte voraus, da zunächst das Regierungsprogramm angenommen werden musste. „Land in Schwung“, hieß das Programm, obwohl der Schwung von Anfang an nachließ, denn „wir haben zu viel ausgegeben und alle wollen (wie schwach…) noch mehr“, so der Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Fidesz konnte damals nicht für die überzogenen Ausgaben, die Korruption und den Diebstahl verantwortlich gemacht werden, da das Land bereits seit zwei und halben Jahren eine sozialistisch-liberale Regierung hatte. Die Balken des Parlamentskuppels stürzten nicht ein, als Gyurcsány mittelte, dass es noch nie so viel Einkommen in die Brieftaschen der ungarischen Bevölkerung geflossen sei, die Renten noch nie so stark gestiegen seien und noch nie hätten wir so gut gelebt.

Gyurcsánys Fähigkeit, Lügengeschichten zu erzählen – man könnte auch sagen: notorisch zu lügen – war schon immer wirksam bei bestimmten Teilen der Gesellschaft, die ihn bis heute mit offenen Mündern anstarren und an seinen Zaubertricks vorbehaltlos glauben.

János Áder, der heutige Staatspräsident war 2004 der Fraktionsvorsitzende von Fidesz. Er bezeichnete den „Schwung“ als das schwächste Regierungsprogramm aller Zeiten, denn

dieser Schwung bedeute Preiserhöhungen, Steuererhöhungen, Arbeitslosigkeit und den Ausverkauf des Landes.

Das Regierungsprogramm umfasste Pläne zur Privatisierung des Gesundheitswesens, des Bildungswesens, sogar der öffentlichen Verwaltung sowie zur Übertragung des nach dem Zusammenbruch des Kommunismus verbliebenen nationalen Vermögens ans ausländische Kapital, das dann seine Dankbarkeit in die Taschen der Ausverkäufer zurückfließen lassen würde. Wohin sind die 450 Milliarden Privatisierungserlöse geflossen? Was ist aus dem versprochenen Mietwohnungsbauprogramm geworden? Kann man einem Fuchs überhaupt beibringen, ein Huhn nicht zu stehlen? Seit István Fekete weiß jedes Schulkind, dass die Antwort auf die Frage nein lautet, denn das liegt ihm im Blut.

Damals war der Stil der Parlamentsdebatte verhältnismäßig zivilisiert, ohne Performance-Kunst, ohne Kartoffel-werfen und ohne Obszönitäten. Schließlich wurde das Programm angenommen, die historischen Fahnen wurden gehisst und Ferenc Gyurcsány leistete den Amtseid. Er selbst verriet zwei Jahre später in seiner berüchtigt gewordenen Lügenrede, warum das Land doch nicht in Schwung gekommen war:

Ich bin fast gestorben, als ich so tun musste, als hätten wir anderthalb Jahre lang regiert. Stattdessen haben wir morgens, nachts und abends gelogen“.

Ein Politiker kann die Macht ergreifen, wenn er talentiert und geschickt ist, sagte Gyurcsány in seinem Exposé von 2004. Er war geschickt genug. Denn diese Tat vom 29. September 2004 war sicherlich auf sein „Können“ zurückzuführen. Die Chance, weiter zu regieren, hat er nicht für die sozialistische Partei gewonnen, sondern für sich selbst.

Ich möchte bei der Aufdeckung der Fakten nicht zu weit zurückgreifen, nur bis zu den Wahlen 2002. Dank der Gaunereien und der politischen Vernetzung dieses Selfmademans stand er, der ehemalige kommunistische Jugendorganisationsführer als Millionär bereits auf Platz 50 der Liste der 100 reichsten Ungarn, während sein angegebenes Immobilienvermögen aus einer Plattenbauwohnung in Pápa mit nur 50 Quadratmetern bestand.

Interessanterweise hat das damals niemanden gestört. Wie glücklich war Gyurcsánys Volk, als er nach seiner Wahl auf seine Ministerpräsidentenbezüge, auf jährlich achtzehn Millionen Forint verzichtete! Ja, sie haben zufrieden mit den Fingern geschnappt, so sieht ein echter Politiker aus! Aha. Ein populistischer Politiker. Er weiß, wie man Menschen für sich gewinnt.

In jenem Wahljahr 2002 gab Ferenc Gyurcsány die Anlageberatung auf und widmete sich der Politikberatung. Während des Wahlkampfs war Gyurcsánys Frau Klára Dobrev die Wahlkampfleiterin des Sozialisten-Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Ihre erfolgreiche Arbeit wurde von der Partei mit dem Posten der Vizepräsidentin des Nationalen Entwicklungsplans und des Amtes für die Kontrolle der EU-Zuschüsse belohnt. Ihr Mann blieb als Aufseher an der Seite von dem Ministerpräsidenten Medgyessy, und er gab ihm auch Ratschläge. Ein Jahr später war der Berater bereits Mitglied des Kabinetts als Sportminister, nachdem er seinen Vorgänger, György Jánosi, aus dem Ministerium verdrängt hatte.

Wusste Ministerpräsident Medgyessy, dass er eine Schlange am Busen wärmte?

Ferenc Gyurcsány hat zugegebenermaßen keine Ahnung vom Sport gehabt und richtete ungeheure Schäden an. Bereits damals mangelte es ihm nicht an Versprechungen, auch wenn wir damals noch nicht daran gewöhnt waren, dass immer das Gegenteil von dem passiert, was er verspricht. Die Gyurcsánys haben die Zahl der Sportstunden in den Schulen auf zwei pro Woche reduziert, und die Sportvereine waren gezwungen, ihre Mitgliedsbeiträge zu verdoppeln, weil ihnen die Mittel fehlten, so dass es für Kinder fast unmöglich geworden ist, Sport zu treiben.

Das  sog. „Bozsik-Programm“ wurde abgeschafft, die Unterstützung für das nationale Leichtathletikprogramm auf ein Minimum reduziert, die Sportförderung des Nachwuchs auf  Marktbasis gestellt (!) und die Kosten für das Programm zur Entwicklung von Einrichtungen (z. B. Stadien, Sporthallen)  auf die bereits verschuldeten Gemeinden abgewälzt. Auch das Sportgesetz trug die Spuren dieses Amoklaufs und strotzte von Widersprüchen. Wie groß der Schaden war, zeigten die Ergebnisse der folgenden Jahre.

Der Rücktritt von Gyurcsány als Sportminister, zwei Wochen vor den Olympischen Spielen, zeigte sein moralisches Gespür und sein Engagement für seinen Beruf.

Wir sollten nicht eine Sekunde glauben, dass er mit seiner eigenen Dilettantismus konfrontiert gewesen wäre,

er wollte einfach der geplanten Regierungsumbildung, welche die Aufdeckung seiner Inkompetenz und seine Ablösung bedeutet hätte, zuvorkommen. Er konnte nicht darauf warten, dass seine Person eine Regierungskrise auslöst, und so tat er es rücksichtslos, aber vielleicht vor dem Hintergrund von verdeckten Vereinbarungen selbst.

Der Versuch Medgyessys, die Regierung umzubilden, scheiterte. Er erklärte, die Korruptionslawine bei den Freien Demokraten sei inakzeptabel und wollte ihren Wirtschaftsminister István Csillag entlassen, der viele Geheimnisse kannte. Das war zu viel für die Freien Demokraten (SZDSZ), und sie putschten den Ministerpräsidenten. Medgyessy trat zurück und seine Partei nominierte Péter Kiss als seinen Nachfolger.

Am nächsten Tag beschloss Gyurcsány, für das Amt des Ministerpräsidenten zu kandidieren.

Hat eine Nacht ausgereicht, um eine Entscheidung zu treffen? Oder war es eine bereits länger beschlossene Sache?

Wer erinnert sich an diese Ereignisse im Detail? Ich selbst bin beim Aufräumen zufällig auf einen Stapel Zeitungen aus dem Jahr 2004 gestoßen. Damals dominierte noch die gedruckte Presse, es gab kein soziales Netzwerk für die schnelle Verbreitung und Manipulation von Nachrichten. Wir verfolgten die nicht nachvollziehbaren Ereignisse im Fernsehen.

Heute denke ich, dass die Partei bei der Nominierung von Medgyessy bereits wusste, dass er nur eine vorgeschobene Handpuppe auf der Liste war.

Weil er wie ein Gentleman aussah, hatte er einen unaufdringlichen Stil, einen guten Schneider und schöne Krawatten. Kurzum, er machte einen guten Eindruck. Die Genossen müssen auch gewusst haben, dass Péter Medgyessy im Geheimen ein Offizier des kommunistischen Geheimdienstes war, er war Agent D-209 in der III/II Division. Er gehörte nicht zu den mit Erpressung angeworbenen III/III Spitzeln, sondern er war hauptamtlicher Geheimagent des kommunistischen Regimes. Die Genossen wussten, dass man ihn damit in Schach halten und erpressen kann und et tat das, was von ihm erwartet wurde. Einmal hat er das nicht getan, und das kostete ihn sofort seinen Posten.

Von seinem auserwählten Nachfolger Ferenc Gyurcsány prallte und prallt auch heute alles ab.

Die Kenntnis des Staatsstreichs von 2004 ist wichtig für die Wahlen im nächsten Jahr. Weiß denn  Gergely Karácsony, dass er nur der Vorposten ist, der erprobte, wählbare, große, dünne Politiker, dessen Schwächen und Erpressungspunkte seinen Genossen wohl bekannt sind?

Und er ist derjenige, den das Gyurcsány-Netzwerk für Klára Dobrev, die Enkeltochter von Antal Apró, dem führenden stalinistischen Kommunisten locker aus dem Weg räumen wird, wie es sich gehört.

Autor, Dr. phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin

Magyarul: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20210929-kigyot-melengetni

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert