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Roma in Ungarn

Faktenwissen Ungarn von Martin Josef Böhm

Geschichtlicher Überblick

Einwanderung Nachweislich wanderten die ersten Roma bereits im 15. Jahrhundert in das Gebiet des heutigen Ungarns ein, wo Sie in erster Linie vom Wandergewerbe lebten und als Handwerker, Schmiede und Musiker durch das Land zogen. Im 18. Jahrhundert erließen die Habsburger wiederum Dekrete, welche die Assimilation der Roma zum Ziel hatten: Um diese sesshaft zu machen, wurden den Roma Siedlungen am Rande der Dörfer zugewiesen – was die Dorfstruktur vielerorts bis zum heutigen Tage prägt. Mit dem Aufkommen der industriellen Massenproduktion wurden viele Roma arbeitslos, da sich die traditionellen Berufe, wie etwa das Kupferhandwerk, größtenteils erübrigten. Die im 19. Jahrhunderte zunehmende Einwanderung von Roma aus Rumänien führte zusätzlich zu einer Verhärtung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Immer mehr zeichnete sich ab, dass die Roma mit dem rasanten wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandel nicht mithalten konnten.

Zweiter Weltkrieg und Sozialismus

1944, just vor der deutschen Besatzung Ungarns, lebten schätzungsweise 200.000 Roma in Ungarn.

Tiefpunkt der Geschichte der ungarischen Roma waren die während der deutschen Besatzung Ungarns (1944) verübten Deportationen in Arbeits- und Vernichtungslager.

Aufgrund der ungenauen Quellenlage kann man die Opferzahl jedoch nicht genau beziffern, Schätzungen gehen von etwa 5.000 ermordeten Roma aus. Während die Roma von der Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg kaum profitierten, änderten sich die Erwerbsmöglichkeiten infolge der sozialistischen Industrialisierungspolitik erheblich, wodurch viele vor allem gering qualifizierte Roma in die Zentren der Schwerindustrie zogen. Überdies forcierte man die Integration der Roma durch die Erhöhung der Einschulungsquote: Vor dem Zweiten Weltkrieg besuchte noch mehr als die Hälfte der Roma-Kinder keine Schule, bis 1957 verringerte sich diese Zahl auf lediglich 10 %.

Ende der 1960er Jahre begann man schließlich mit der Auflösung der Romasiedlungen. Parallel dazu gewährte man den Roma Vorzugsdarlehen für den Erwerb von Wohnungen, darüber hinaus ließ man diese oftmals in verlassene Häuser einziehen. Nicht selten führte dies jedoch zur Abwanderung der ungarischen Einwohner aus dem jeweiligen Viertel oder Dorf.

1971 lebten noch 2/3 der Roma in Hütten mit Erd- oder Lehmwänden, fast die Hälfte ohne Zugang zu Elektrizität. Die Analphabetenrate lag bei knapp 40 %,

obwohl der Industrialisierung zum Dank im Jahre 1971 bereits 85 % der erwachsenen Roma-Männer, bzw. 30 % der Roma-Frauen einer Arbeit nachgingen. Mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Roma waren als Hilfsarbeiter angestellt. Im Allgemeinen verbesserten sich die Lebensumstände der Roma bis zum Ende der 80er Jahre, unterdessen nahm auch die Assimilierung an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft zu.

Entwicklungen nach 1990

Ein rasches Ende der fortschreitenden Integration der Roma in den Arbeitsmarkt kam mit den Umbrüchen infolge der Revolution 1989. Aufgrund des weitaus geringeren Bildungs- und Qualifikationsstandes traf die wirtschaftliche Neujustierung und Privatisierung nach 1990 die Roma am härtesten: 1993 gingen nur noch knapp 29 % der männlichen Roma bzw. 15 % der Frauen einer Arbeit nach, während in der Gesamtbevölkerung 66 % der Frauen bzw. 64 % der Männer erwerbstätig waren. Viele Roma waren in der Folge nicht mehr in der Lage ihre Mieten oder Wohnungskredite zu bezahlen und zogen daher in ärmlichere Gegenden des Landes.

 Neuorganisierung der Roma

Indes eröffneten sich nach der Wende neue Möglichkeiten der politischen Organisation und Selbstverwaltung der Roma.

Ein Meilenstein war das 1993 verabschiedete 77. Gesetz über die nationalen und ethnischen Minderheiten, in dem die Roma als ethnische Minderheit anerkannt wurden.

Weil die Roma als einzige der 13 anerkannten Minderheiten Ungarns kein Mutterland haben, wurden sie zunächst nicht als nationale Minderheit, sondern als ethnische Minderheit definiert. Später, mit dem 179. Gesetz des Jahres 2011, wurde die Trennung zwischen nationaler und ethnischer Minderheit (nemzeti/etnikai kisebbség) aufgehoben und durch Nationalität (nemzetiség) ersetzt.

Durch das Nationalitätengesetz des Jahres 1993 wurde zudem der Weg für kollektive Selbstverwaltung geebnet. Im Laufe der 90-er Jahre erhöhte sich kontinuierlich die Zahl der Roma-Selbstverwaltungen, 1994 waren es 477, 2006 bereits 1118 lokale Einheiten, dazu kamen die regionalen Büros sowie die nationale Selbstverwaltung.

Die lokalen Selbstverwaltungen sind gewählte Gremien und haben u.a. das Recht, Entscheidungen in den Bereichen lokale Bildung, Sprachgebrauch in öffentlichen Einrichtungen, Medien und Kultur zu treffen.

Zudem können lokale Vertreter der Selbstverwaltungen in sämtlichen Belangen der öffentlichen Ordnung Zugang zu den Sitzungen der Gemeinderatsausschüsse bekommen. Als problematisch erwies sich jedoch stets die Finanzierung der Selbstverwaltungen, da diese im Minderheitengesetz nicht geregelt war. Zudem hing die Vergabe von staatlichen Mitteln oftmals von der Loyalität der jeweiligen Selbstverwaltung ab. Dazu kommt, dass die Selbstverwaltungen auch 30 Jahre nach der Wende in der Roma-Bürgergesellschaft noch nicht besonders verankert sind. Grund dafür ist unter anderem, dass die traditionelle Großfamilie nach wie vor die wichtigste Form der Organisation und des Zusammenhaltes darstellt. Ferner sind die Roma keinerlei als homogene Gruppe zu sehen: Kulturell, sprachlich und geschichtlich sind sie verschiedenen Gruppen zuzuordnen.

Die drei größten sind

  • die alteingesessenen „Romungrók“, auch genannt die „ungarischen Zigeuner“,
  • die „Oláh“, welche erst im 19. Jahrhundert aus Rumänien einwanderten,
  • sowie die „Beás“-Roma, die sich mehrheitlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Siebenbürgen kommend in westlicheren Landesteilen Ungarns niederließen. Die Muttersprache der Beás-Roma ist heute noch oftmals ein archaischer Dialekt des Rumänischen.

In den Selbstverwaltungen müssen die Vertreter der verschiedenen Gruppen zusammenwirken, wodurch sich die gemeinsame Interessensvertretung oftmals erschwert.

Bei alldem wandelte sich die schlechte soziale Situation der Roma nicht grundsätzlich, wenngleich mehrere Initiativen bestrebt waren, dies zu ändern. So wurde 1996 die „Stiftung für die Zigeuner Ungarns“ (Magyarországi Cigányokért Közalapítvány) ins Leben gerufen, die durch die Vergabe von Fördermitteln vor allem für landwirtschaftliche Projekte für viele Roma die Existenzgrundlagen aufbesserte. Auch das – das erste seiner Art – 1994 in Pécs in Betrieb genommene und überwiegend von Roma besuchte Gandhi-Gymnasium gab Hoffnung, dass mit der Zeit eine Art gebildete Roma-Elite heranwachsen könnte.

Im Zuge der ersten freien Wahlen zum ungarischen Parlament nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden auch drei ihre Roma-Identität stolz betonende Abgeordnete Teil der Nationalversammlung. Sogar bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2002 zogen zwei Vertreter der Roma-Minderheit in Ungarn, Viktória Mohácsi (SZDSZ) und Lívia Járóka (Fidesz), ein. Járóka war vom 15. November 2017 bis zum 18. Januar 2022 Vizepräsidentin des Europaparlaments. Die ungarischen Roma werden indes hierzulande von einer Reihe politischer Parteien vertreten, von denen es jedoch noch kein Vertreter in das ungarische Parlament schaffte. Mehrere Roma-Politiker sind daher in den Farben der größeren Parteien in die Nationalversammlung eingezogen. So etwa Flórián Farkas (FIDESZ), der seit 2002 Parlamentsabgeordneter und zugleich Vorsitzender von Lungo Drom, einer der größten zivilen Vereinigungen der Minderheit in Ungarn, ist.

Für die anstehenden Wahlen am 3. April 2022 konnte sich die Generalversammlung der Landesselbstverwaltung der Roma bis zur Frist (31. Januar 2022) nicht auf die Kandidaten einigen, sodass diesmal keine nationale Roma-Liste aufgestellt werden konnte. Auch wird die Roma-Minderheit so für die nächsten vier Jahre keinen Fürsprecher mehr im Parlament haben, obwohl sich Anfang Februar bereits mehr als 30.000 Roma auf der Nationalitätenliste registrierten. Hätte die Selbstverwaltung Kandidaten aufgestellt, wäre es nicht unwahrscheinlich gewesen, dass im Zuge der Wahlen die Roma einen Abgeordneten mit vollem Stimmrecht ins Parlament hätten entsenden können.

Antiziganismus

Eine weniger erfreuliche Entwicklung der Jahrzehnte nach der Wende, die insbesondere in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ihren bisherigen Höhepunkt fand, war die Zunahme von rassistisch motivierten Verbrechen gegen Angehörige der Roma. Schlimmstes Beispiel hierfür war eine Mordserie in den Jahren 2008 und 2009, der sechs Roma, darunter auch ein Kleinkind, zum Opfer fielen. Der Antiziganismus fand zudem mit der 2003 gegründeten rechtsradikalen Jobbik-Partei einen Hort der politischen Repräsentanz. Seine militante Form fand dieser mit dem paramilitärischen Arm der Partei,

der Ungarischen Garde (Magyar Gárda), die im Zeitraum zwischen 2007 bis zu ihrem Verbot im Jahre 2009 zahlreiche antisemitische und Roma-feindliche Märsche in Budapest, aber auch in Gemeinden mit hohem Roma-Anteil, organisierte.

Mit dieser Feindbildkonstruktion wurde die Vokabel „Zigeunerkriminalität“ zum Schlagwort, wonach die Roma per se krimineller seien als NichtRoma – auch heute noch eine verbreitete Ansicht unter vielen Ungarn. Insbesondere die rechtsextremistische Abspaltung der Jobbik, die „Mi Hazánk“-Bewegung (Unsere Heimat), vertritt gegenwärtig einen rassistischen, antisemitischen sowie offen antiziganistischen Kurs. Die Bewegung veranstaltete nach Gewaltverbrechen, die mutmaßlich von Roma begangen wurden, bereits mehrfach Protestmärsche, bei denen gegen die „Zigeunerkriminalität“ demonstriert wurde.

Ungarische Politik und Roma seit 2010

Infolge der Wahlen zur ungarischen Nationalversammlung des Jahres 2010 zogen vier Abgeordnete (3 Fidesz, 1 LMP) mit Roma-Abstammung in das Parlament ein.

Während seiner EU-Ratspräsidentschaft im April 2011 hat Ungarn die sogenannte EU-Rahmenstrategie zur Verbesserung der Lage der Roma in Europa auf den Weg gebracht, die von den EUMitgliedsstaaten in sogenannte nationale Strategien umgesetzt werden soll.

In Ungarn wiederum wurde 2011 die Nationale Inklusionsstrategie (Nemzeti Társadalmi Felzárkozási Stratégia) ins Leben gerufen, welche ein umfassendes Programm zur Armutsbekämpfung initiierte, Roma wurden ausdrücklich als besondere Zielgruppe definiert. Um der Schulabbrecherquote entgegenzuwirken, hat die Regierung mit dem 124. Gesetz des Jahres 2011 die Vorschulpflicht eingeführt, wodurch die Rate jener Roma-Kindern, die einen Kindergarten besuchen, bis 2017 auf 79 % gestiegen ist. Durch einen Vertrag mit der Landesselbstverwaltung sollten bis 2015 100.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, was auch dank des staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramms erzielt werden konnte. Weiterhin wurde angekündigt, den Unterricht über die Geschichte und Kultur der Roma Teil des nationalen Lehrplans zu machen.

Soziale Situation heutzutage

Nach wie vor gibt es markante Unterschiede zwischen Roma und Ungarn hinsichtlich der sozialen Situation. Mehr als die Hälfte der Roma lebt vom Rest der Bevölkerung relativ segregiert in eigenen Vierteln, in denen die Infrastruktur, Wasser- und Energieversorgung nicht selten schwach ausgebaut ist. Etwa ein Drittel der Roma antwortete in einer Umfrage aus dem Jahre 2011 zudem, in Elendsvierteln oder Wohnwagen zu hausen. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Roma liegt im Schnitt 10 Jahre unter jener der restlichen Bevölkerung.

Bildungssituation

Auch was den Bildungsstand anbelangt ist dieser unter Roma deutlich niedriger als im Rest der Bevölkerung. Nur knapp über 5 % der Roma verfügt über ein Abitur (beim Rest der Bevölkerung mehr als ein Drittel), über einen universitären Abschluss etwa 1 % (Rest: mehr als 21 %). Zudem ist mit 15,5 %, im Vergleich zu knapp 1 % bei den Nicht-Roma, der Anteil derer, die die Schule ohne Abschluss verlassen, besonders hoch. Fast zwei Drittel der Roma verfügt höchstens über einen Grundschulabschluss (der grundsätzlich 8 Jahre in Anspruch nimmt). In Ungarn galt bis 2012 die Schulpflicht bis zum Alter von 18 Jahren, seit 2012 liegt die Grenze bei 16 Jahren – dadurch hat sich die Zahl der Roma-Jugendlichen mit einem geringen Schulabschluss obendrein erhöht.

Charakteristisch für das Bildungswesen ist auch eine örtliche Segregation.

Es gibt in Ungarn, Stand 2018, 369 Schulen, die als sogenannte „Ghettoschulen“ gelistet sind, in denen Roma die Mehrheit der Schüler ausmachen.

Im Komitat Borsod-Abauj-Zemplén stellen Roma-Kinder bereits die Mehrheit in den ländlichen Schulen. Eltern von Nicht-Roma nehmen ihre Kinder oftmals von diesen Schulen raus, da sie dort geringere Bildungserfolge des Nachwuchses befürchten. Trotz des gesetzlichen Verbots im Jahre 2003 ist die schulische Segregation von Kindern der Roma-Minderheit noch verbreitet. Es gibt Beispiele für sogenannte, schon in Zeiten des Sozialismus übliche, „Zigeuner-Klassen“ mit Curriculum, auch kommt es zu Einschulungen von Roma-Kindern in Klassen für Lernbehinderte ohne ausreichende Indikation.

Besonders bekannt geworden ist der Fall der Schule in Gyöngyöspata, einem Ort mit etwa 3.000 Einwohnern, von denen sich etwa 400 zur Roma-Minderheit zählen. In der Schule waren 2020 fast 90 % der Schüler Roma, weil Eltern von Nicht-Roma ihre Kinder zum Großteil in Schulen anderer Orte anmeldeten. Zwischen 2011 und 2014 regierte ein Bürgermeister der Jobbik die Stadt – in der Zeit war der Ort nicht nur Schauplatz mehrerer rechtsextremer Aufmärsche, auch gelangten Informationen an die breite Öffentlichkeit, dass Roma-Kinder gezielt in gesonderten Klassen zusammengefasst und vom Rest der Schüler räumlich getrennt unterrichtet wurden. Des Weiteren wurden die Mahlzeiten getrennt eingenommen, die Waschräume separiert benutzt, zudem schloss man Roma-Kinder vom Schwimmunterricht wie auch vom Benutzen der Computerräume aus.

Nach mehreren Verhandlungen verschiedener Gerichte urteilte das ungarische Verfassungsgericht im Jahre 2020 letztinstanzlich, dass diese Segregation illegal war und Kompensationen in Höhe von 300.000 Euro, zum Gutteil von der Gemeinde, an die Betroffenen gezahlt werden müssen.

Die Entscheidung wurde – vor allem wegen der hohen Kompensationssumme – unter anderem von der ungarischen Regierung kritisiert.

Arbeitsmarktsituation

Einer Erhebung des Jahres 2017 zufolge waren 55 % der männlichen Roma, bzw. 36 % der weiblichen Roma im Alter von 15-64 in einem Beschäftigungsverhältnis (im Vergleich dazu 76 % bzw. 62 % beim Rest der Bevölkerung). Davon waren mehr als ein Drittel im Rahmen des staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramms (közmunka) angestellt, welches grundsätzlich für Sozialhilfeempfänger ins Leben gerufen wurde. Gezahlt wird ein Gehalt unterhalb des Mindestlohns. Dem, in der Regel Arbeitslosen, der ein Angebot des Arbeitsbeschaffungsprogrammes ausschlägt, kann der Anspruch auf Sozialgeld entzogen werden. Menschen, die in diesem Rahmen arbeiten, werden zudem nicht als Arbeitslose gezählt – so hat sich die Arbeitslosenquote unter den Roma zwischen 2014 und 2017 von 30 % auf 19 % gesenkt. Zusätzlich zu der hohen Zahl an Niedriglohnverdienern arbeitete 2017 fast jeder Zweite auf Grundlage eines befristeten Arbeitsvertrages. Auch geht mehr als die Hälfte der Roma einer Arbeit nach, die keiner tieferen fachlichen Ausbildung bedarf, während in der Gesamtbevölkerung dieser Wert nur 10 % beträgt. Ferner verrichten weniger als 5 % eine Arbeit, die vorrangig geistiger Natur ist, während dies in der Gesamtbevölkerung knapp 43 % tun. In einigen abgelegenen Dörfern liegt die Arbeitslosenrate sogar bei annähernd 100 %.

Einer Studie aus dem Jahre 2014 folgend leben 40-50 % der Roma in extremer Armut, die dann besteht, so die Forscher, wenn pro Kopf im Monat weniger als 170 € zur Verfügung stehen.

Demographie

Die Roma sind die zahlenmäßig größte Minderheit in Ungarn. Im Zuge der Volkszählung von 2001 gaben rund 190.000 ihre Zugehörigkeit zur Minderheit der Roma an, 2011 waren es bereits mehr als 315.000. Bei der Zählung im Jahre 2011 antworteten jedoch knapp 1,4 Millionen nicht auf die Frage nach der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit – darunter wahrscheinlich mehrere Hunderttausend Roma.

Neuere soziologischen Studien gehen von etwa 900.000 in Ungarn lebenden Roma aus. In den letzten 40 Jahren hat sich die Roma-Bevölkerung in Ungarn schätzungsweise verdoppelt, was vor allem in der hohen Geburtenrate der Roma begründet liegt

– die Geburtenrate in der Gesamtbevölkerung liegt heute bei etwa 1,5, im Falle der Roma bei 2,3. Auch das Durchschnittsalter der Roma liegt mit 26,3 Jahren weit unter dem Landesdurchschnitt von 41,5, ergaben die Daten von der Volkszählung des Jahres 2011.

Die Roma-Bevölkerung konzentriert sich in erster Linie im ländlichen und im Vergleich zum Rest Ungarns ärmlichen Nordosten. Dabei gibt es mehrere Dörfer, in denen Roma die absolute Mehrheit stellen; die meisten davon findet man ebenfalls in Nordostungarn, wie z.B. Csenyéte oder Rakaca. Der letzten umfassenderen Erhebung der Muttersprache der Roma aus dem Jahre 2003 sprachen etwa 87 % der Roma Ungarisch als Muttersprache, 7,7 % Romanes und 4,6 % Beás-Rumänisch. 1974 noch war Romanes von 21 %, Beás-Rumänisch von 8 % der ungarischen Roma die Muttersprache.

Vorurteile und Stigmatisierung

Anders als in Deutschland ist die Bezeichnung „Zigeuner“ in Ungarn noch geläufig und wird auch von den Roma mehrheitlich als Selbstbezeichnung genutzt. „Roma“ gilt zwar als politisch korrekter, wird aber eher in akademischen Kreisen gebraucht.

Trotz der zum Teil fortgeschrittenen Assimilation und Integration der ungarischen Roma unterscheidet sich die Lebensrealität und -weise zum Teil deutlich von den Lebensumständen der Mehrheitsgesellschaft. Die darauf aufbauenden Stigmata generalisieren die Roma als niedrig gebildet, kriminell, arbeitsunwillig und unhygienisch. Eine repräsentative Umfrage der Budapester ELTE-Universität aus dem Jahre 2019 ergab, dass etwa 40 % der ungarischen Bevölkerung sich von den Roma „bedroht“ fühlen und 80 % kein Mitgefühl mit der Situation dieser Minderheit haben. Das Special Eurobarometer 263 über Diskriminierung in der Europäischen Union aus dem Jahre 2011 legte überdies offen, dass 82 % der Ungarn der Meinung sind, dass sich die Probleme der Roma lösen würden, wenn diese „endlich anfingen zu arbeiten“. 60 % meinten, die Neigung zu Straftaten hätten „die Roma im Blut“. Dem Barometer nach waren zu dem Zeitpunkt Wähler der Jobbik überproportional, Fidesz-Wähler durchschnittlich und Sympathisanten der grünliberalen LMP unterdurchschnittlich antiziganistisch. 2009 wiederum fühlten sich 62 % der Roma innerhalb eines Jahres persönlich als Opfer von Diskriminierung – nach Tschechien (64 %) war das damals der höchste Wert. Trotz dieser Zahlen, die auf eine starke gesellschaftliche Spaltung hinweisen, gibt es vonseiten der Roma kaum Demonstrationen.

 Dr. Kállai Ernő, zwischen 2007 und 2011 Parlamentarischer Beauftragter für die Rechte nationaler und ethnischer Minderheiten und selbst Roma, sagte hierzu: „Obwohl die Roma oft als schwierig im Umgang dargestellt werden, ertragen sie extreme Armut und Ausgrenzung ohne großen Widerstand. Es gibt keine Hungerrevolten oder andere Unruhen, und solange es etwas zu essen gibt, scheint es, wird es auch keine geben.

Autor, Martin Joseph Böhm ist Projektassistent für Forschung im Deutsch-ungarischen Institut für europäische Zusammenarbeit, im Mathias Corvinus Collegium

Originaltext: https://magyarnemetintezet.hu/de/forschung/faktenwissen-ungarn-roma-in-ungarn

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