6. Juni 2022 Die Weltwoche von BORIS KÁLNOKY
Seit Jahrhunderten behaupten sich die Ungarn in der Nachbarschaft von Grossmächten. Sie haben dabei eines gelernt: Es kann immer plötzlich etwas Furchtbares geschehen. Für die eigene Sache ständig kämpfen, zuweilen anderen helfen und sich mitunter von anderen helfen lassen: Das sind die Lehren, die die Ungarn aus ihrer Geschichte ziehen. Es ist eine klassische europäische Identität.
Die Magyaren sind das einzige Steppenvolk, das in Europa einen Staat errichten und behaupten konnte. Dazu gehörte Glück, Augenmass und Umsicht. Sie mussten ihren Staat immer wieder verteidigen, gegen Mongolen, Osmanen, Österreicher und Russen. Oft verloren sie, doch immer blieben sie zäh, rebellisch und überdauerten am Ende. Bei so viel Überlebenskampf blieb selten Raum für gutes Regieren. Eine Regierung, die für Stabilität, Sicherheit, relativen Wohlstand, Fortschritt und eine kluge Zukunftsstrategie steht, hatten die Ungarn zuletzt vor 500 Jahren.
Das war unter König Matthias I. (1458–1490). In Ungarn wird er «der Gerechte» genannt. Er war Populist in dem Sinne, dass er sich gern verkleidet unters Volk mischte, um zu sehen, wie die einfachen Menschen denken. Zumindest lautet so die Legende. Matthias setzte auf Meritokratie statt Aristokratie. Er beförderte nicht nach Rang, sondern nach Können und Loyalität. Er musste viele Kriege führen, tat das aber kunstvoll. Er verteidigte Ungarn so ziemlich gegen alle seine Nachbarn und musste auch Aufstände niederringen. Er reformierte den Staat, schuf eine der ersten permanenten Armeen in Europa, förderte die Kultur und führte die Renaissance in Ostmitteleuropa ein. In Ungarn nennt man seine Regierungszeit «das Goldene Zeitalter».
Hinwendung zum Christentum
Das war für lange Zeit Ungarns letzte effiziente, zukunftsorientierte Regierung. Danach kamen die Türken (die Ungarn 1526 bei Mohács vernichtend schlugen), dann die Österreicher (nachdem die Osmanen 1686 geschlagen worden waren), die Nazis, die Sowjets. 1919 bis 1944 gab es ein unabhängiges Ungarn, aber es war keine glückliche Zeit. Ungarn war im Ersten Weltkrieg auf der falschen Seite der Geschichte gewesen und hatte zwei Drittel seines Staatsgebietes verloren. Der Wirtschaft ging es schlecht, die Gesellschaft war traumatisiert, die Aussenpolitik ein Minenfeld. Es gab wenig Spielraum, um gut zu regieren.
Auch die Zeit nach der Wende 1990 empfanden viele Ungarn als chaotisch. Sie gipfelte darin, dass Ungarn 2008 das erste EU-Land wurde, das ein Rettungspaket vom Weltwährungsfonds brauchte.
Stabiles Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, steigende Löhne – das sind Kennzeichen der Regierungszeit von Viktor Orbán. Für viele Ungarn hat diese darum schon jetzt historischen Stellenwert.
Seine Kritiker im Westen sehen in Orbán hingegen eine hoffentlich vorübergehende Figur. Er verkörpert für sie die schlimmste Regierung Ungarns seit Hunnenkönig Attila (obwohl der kein Ungar war).
Orbán selbst spricht gerne in historischen Vergleichen – aber nicht rückwärtsgewandt. Das Trauma des Vertrags von Trianon (1920), der Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zerstückelte, haben die Magyaren unter Orbán hinter sich gelassen.
Statt über die Lage der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern zu klagen, versucht Orbán gemeinsam mit diesen Ländern ein modernes, kooperatives Mitteleuropa aufzubauen als neuen Wachstumsmotor der EU.
Ein historisches Leitmotiv hat er beibehalten: das Narrativ der rebellischen Ungarn und ihrer Freiheitskriege gegen aggressive Hegemonialmächte. Das nützt ihm, wenn es darum geht, sich gegen Druck aus Brüssel zu behaupten. Aber zur Wahrheit gehört auch: Ungarn konnte sich letztlich nur dank anderen behaupten.
Stephan I. (975–1038) ging ein Bündnis mit den Deutschen ein, heiratete Gisela von Bayern. Deutsche Ritter halfen ihm, einen radikalen Identitätswechsel durchzusetzen, um sein Volk in Europa zu verankern, einen Wechsel vom Schamanismus zum Christentum. Der Mann, der als Stephan der Heilige in die Geschichte einging, hatte nach seiner Geburt noch den türkischen Namen Vajk getragen.
Die Hinwendung zu den Deutschen und zum Christentum war der Grundstein, auf dem der ungarische Staat errichtet wurde.
Mit Stephans Krönung im Jahr 1000 wurde Ungarn von Papst Silvester II. zum einzigen «apostolischen Königreich» erhoben. Auch das war Hilfe von aussen und gab dem Land eine Sonderstellung, die bis heute Identität stiftet.
Die Einsicht, dass Fremde mitunter Stärkung bedeuten, gab Stephan an seine Nachfolger weiter. Deutsche, Juden, Slawen, gar Muslime konnten bei den Magyaren etwas werden. Ihr Erbe prägt das Land bis heute. Freilich weckten sie auch Neid, der zu antisemitischen und auch antideutschen Ressentiments führte.
Der Stern der Ungarn strahlte immer dann am hellsten, wenn sie – statt sich untereinander zu streiten – anderen halfen. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs ist ein Beispiel, die selbstlose Hilfsbereitschaft vieler Bürger gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine ein anderes.
Retter des Hauses Habsburg
Es waren die Ungarn, die im österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) Maria Theresias Thron retteten. Preussen, Bayern, Frankreich und Sachsen griffen sie an, weil sie eine Frau war. Schon stand der Gegner vor Wien, schon schien alles verloren. Da appellierte sie 1741 an die Ritterlichkeit der Ungarn. Das löste eine Begeisterungswelle aus, und 60 000 Magyaren zogen ins Feld, jagten die Bayern zurück bis nach München und bewahrten letztlich das Haus Habsburg vor dem Untergang.
Die dankbare Herrscherin öffnete Ungarns Aristokraten die Pforten (zumindest den Katholiken unter ihnen), und fortan kletterten Esterházys, Festetics, Széchenyis und andere Wiener die Karriereleiter hoch. Manche ihrer Nachfahren scheinen heute zu denken, dass diese Familien ihren Aufstieg habsburgischer Gnade verdanken. In Wahrheit verdankten sie ihn den militärischen Leistungen ihrer Vorfahren im Erbfolgekrieg.
Die Husarenstreiche der Ungarn in diesem und auch im nächsten, im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) schufen das bis heute bestehende Gefühl einer besonderen Zusammengehörigkeit beider Länder. Es wurde zur Grundlage für das, was ab 1867 formell Österreich-Ungarn genannt wurde.
Österreicher und Ungarn verstanden, dass sie nur gemeinsam Gewicht hatten im Konzert der Grossmächte. Das Problem war, dass die Österreicher sich zum Befehlen und Zivilisieren berufen fühlten und die Ungarn davon genervt waren.
In einem gewissen Sinn nimmt heute die EU die Rolle der Habsburger ein. Ungarn weiss, dass es nur in diesem Staatenverbund gedeihen kann. In Brüssel denkt man, dass die Ungarn noch viel lernen müssen. Diese reagieren wie einst bei den Österreichern allergisch darauf.
Für die eigene Sache ständig kämpfen, zuweilen anderen helfen und sich mitunter von anderen helfen lassen: Das sind die Lehren, die die Ungarn aus ihrer Geschichte ziehen.
Es ist eine klassische europäische Identität.
Der Artikel erschien am 30. März 2022 in Der Weltwoche https://weltwoche.ch/story/meilensteine-der-ungarischen-geschichte/
Autor, Boris Kálnoky ist Journalist, Leiter der Medienschule des MCCs
Bildquelle: „Vitam et sanguinem“ Die ungarischen Orden setzen sich für Maria Theresia ein (1741)