28. März 2021 von IRÉN RAB
Seit Wochen denke ich an den ungarischen Schriftsteller István Örkény, genauer gesagt an eine seiner Minutennovellen. „Lasst uns vertrauensvoll in die Zukunft sehen”– schrieb er irgendwann in den ’60er Jahren, als die Arbeiterklasse und die LPG Bewegung ihren politischen Sieg verkündet und das Fundament des Sozialismus gelegt hatten. Das Ziel, die höchste Form des Sozialismus, also den Kommunismus zu erreichen, würde innerhalb von 1-2 Generationen zustande kommen, meinten die Parteiideologen.
Das Zukunftbild der Novelle wurde nicht von der Ideologie, sondern vom Sarkasmus des Schriftstellers gestaltet.
Was für eine Zukunft steht einem Volk offen, welches seine Vergangenheit und sein Prestige seit langem verloren hat und völlig hoffnungslos in irrealen Träumen lebt?
„Wir müssen noch 110-115 Jahre abwarten” – schrieb Örkény – „und dann, an einem schönen Sommertag werden alle Glocken des Landes läuten.” Sein Schild in allen Breiten strahle wie zu alten Zeiten! Genau wie eine Paraphrase des Zukunftsbildes von ungarischen Nationalliedern, ein Örkény-Absurd.
Mit dieser Novelle habe ich alle meine Sprachkurse begonnen, damit die deutschen Studenten einmal sehen, warum es sich eigentlich lohnt, die ungarische Kultur und Mentalität kennenzulernen! Der Humor von Örkény gefiel den Studenten gut, – er war ein Ansporn sofort Ungarisch zu lernen! Ich bildete ein Verb aus dem Wort „magyar” und brachte ihnen sofort die Konjugation bei. So sind die Ungarn, dachten die Studenten, humorvoll, voller Selbstironie, die Bedingung des Überdauerns.
Heute finde ich die Novelle gar nicht grotesk, ich halte sie für eine wahr werdende Realität.
Von den versprochenen 110 Jahren ist erst die Hälfte vergangen und von der surrealistischen Utopie bewegen wir uns in Richtung der Verwirklichung. Jede Zeile der Novelle hat Aktualität. Als ob die heutige ungarische Regierungspolitik anhand von Örkénys absurdem Zukunftsbild arbeiten würde!
Das Glockenläuten „wird die Minute, die große und seit langem aktuelle Minute, als die tausendjährige Pechsträhne Ungarns endet.” Anders, mit den Worten des Ministerpräsidenten ausgedrückt: die Hundert Jahre ungarische Einsamkeit nehmen ein Ende. „Der königliche Palast in Visegrád wird mit riesigen Räumen, Hängegärten, mit Pracht, Prunk, Protz neu gebaut.”
Dem Nationalen Hauszmann-Projekt nach wird die Budaer Burg neu errichtet, das Nationale Burgprogramm rekonstruiert 19 Burgen im Land für touristische und kulturelle Zwecke.
Das Entwicklungsprogramm beinhaltet auch die Visegráder Burg, ihre Hochburg, Unterburg und den Salamon-Turm bzw. die Rekonstruktion des von Örkény versprochenen königlichen Palasts.
Visegrád wird dereinst nicht die Hauptstadt dieses kleinen Landes, sondern die Hauptstadt der Ungarischen Donaurepublik werden, 4-5 Meere werden ihre Ufer waschen. Das ist wohl eine Übertreibung, eine ungarische Sehnsucht, doch erst die Hälfte der Zeit ist vorbei.
Die Weltpolitik kennt und erkennt heute im mitteleuropäischen Raum die Visegrad Gruppe, und deren Mitglieder halten politisch und wirtschaftlich zusammen. Sie haben gemeinsame kulturelle und geistige Werte, gemeinsame religiöse Traditionen, welche sie bewahren und weiter verstärken wollen.
Die Zusammenarbeit der Visegrád Staaten initiierte – wie einstmals im Jahr 1334 der damalige ungarische König, Károly Róbert – wieder Ungarn, und die heutige gemeinsame Politik scheint der ungarischen Leitlinie zu folgen.
Visegrád ist der symbolische Sitz dieser interregionalen Zusammenarbeit. Es gibt in der Region momentan nur ein Meer – wenn wir den Plattensee nicht mitzählen -, aber diese Zahl kann mit Kroatien und Slowenien, die den V4 schöne Augen machen, weiter erhöht werden. Wir haben wohl noch 50 Jahre. Die Hundert Jahre Einsamkeit von Trianon scheinen – dank der Visegrád-Koalition – vorbei zu sein.
Die hundert Jahre, als Ungarn – immer abhängig von den Machtinteressen und von politischen Spielen – mal isoliert, mal weiteramputiert, mal der Existenzgrundlage beraubt, oder mit den anderen zusammen auf dem Altar des Kalten Krieges geopfert wurde.
Die Visegrád-Staaten spinnen den Faden, gründen überregionale kulturelle und wirtschaftliche Projekte, es werden endlich die infrastrukturellen Netze ausgebaut, sie schützen gemeinsam die EU-Grenzen und engagieren sich für einander in der europäischen Politik. Auf dem V4-Gipfel im Februar 2019 habe ich die Frau Kanzlerin gesehen, als sie zwischen den vier Ministerpräsidenten herumstand, ihren konservativen Handkuss duldete, nickte und alles bejahte. Es ist immer gut, uns auf die erfolgreiche Seite zu stellen, Deutschland gehört geographisch letzendlich zu Mitteleuropa. Die Herren waren sehr höflich ihr gegenüber, aber möchten ihre erreichten Positionen und die zusammenhaltende männliche Freundschaft wohl behalten. Obwohl Deutschland mit zwei weiteren Meeren zu Örkénys Traum beitragen könnte!
Nach Örkénys absurder Version würde es in Europa eine Niederrheinische Ungarische Republik geben, „deren Bewohner keine Ungarn sind, sondern schäbig gekleidete, armselige Niederrheinländer.” Örkény hat nicht geschrieben, ob diese Niederrheinländer Deutsche seien. Er hätte dies auch nicht schreiben können, weil das Wort „Wirtschaftsmigrant” in den 60er Jahren, als das Fundament des Sozialismus gerade gelegt wurde, noch nicht bekannt war. Die vor den Retorsionen von 1956 geflüchteten Ungarn nannte man Dissidenten. In diesen Zeiten sickerten die türkischen Gastarbeiter nach Deutschland ein, und wie die Benennung zeigt, kamen sie zu Gast, also kurzzeitig. Heute haben 25 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund und gemäß des UNO-Berichts ist Deutschland das am drittmeisten von Migranten bewohnte Land der Welt. Noch dazu hat es auch die zweitälteste Gesellschaft der Welt, das deutsche Durchschnittsalter liegt bei 44 Jahren. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wenn ich an die wirtschaftlichen Daten denke. Die deutschen Wirtschaftsexperten haben schon die Frage gestellt: Wird unser Land der kranke Mann Europas?
Nach Örkény werden die schäbigen Niederrheinländer ihr Land Niederrheinische Ungarische Republik nennen. Aus Aberglauben, denn
„es lässt sich nicht beschreiben, wie schön es sein wird, Ungar zu sein! Vielleicht genügt es zu sagen, dass sich der Name ’magyar’ in diesen 115 Jahren zum Verb verwandelt. Dieses Verb wird in allen lebendigen Sprachen existieren, und es wird in jeder Sprache eine positive Bedeutung haben.”
Sei es so! Schade, dass ich diese Zukunft nicht mehr erleben kann.
Autorin, Dr. phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin
Bildquelle: facebook.com/orbanviktor
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