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Freiheit, wie sie es meinen

14. April 2021 Magyar Hírlap von IRÉN RAB

Eines frühen Spätwintermorgens ging der Dichter zur Arbeit. Er hüllte sich bibbernd in seinen Mantel ein und an der Bushaltestelle blies ihm der eisige Wind ins Gesicht. Der Bus war voll, die Passagiere starrten sich mit grauen, müden Gesichtern an. Dieser weitere Tag eines monotonen Lebens barg überhaupt keine neue Chance in sich, er war bloss die Fortsetzung der Hoffnungslosigkeit. Die vorbeiziehenden schäbigen Wände der Häuser waren mit Plakaten übersät und ihre Botschaft brannte in des Dichters Bewusstsein. Die Stadt war von Lügen und Hetze bedeckt, die ihn an die furchtbarsten Perioden des 20. Jahrhunderts erinnerten. Wenn Sie hier aufgewachsen sind, haben Sie keine Wahl, denn das ist Teil des Stadtbildes, das ist Budapest. Der Dichter selbst konnte nicht viel von den schrecklichen Zeiten des 20. Jahrhunderts erlebt haben. Er wurde 1969 geboren, sein Lebensweg war bis jetzt aalglatt, nicht mit unebenen Steinen gepflastert.

Nach seinem Abitur ging er an die Universität, er konnte studieren, was er wollte, dann kamen viele Stipendien, von Soros bis zum Bolyai, PhD und Habilitation, und dann die Professur. Er eilt jetzt dorthin, zur Universität, durch diese schrecklich unterdrückte Stadt, die unter der Orban-Diktatur ächtzt. Irgendwie muss man ja überleben, bis all dies verschwindet, bis die neue Freiheit, die man sich vorstellt, endlich ankommt und natürlich muss man auch die resignierte, ihrer Hoffnung beraubte Menge vertreten, auch ihretwegen kann man sich dieser Welt nicht unterwerfen.

Als Lehrer vertritt der Dichter auch seine Studierenden, vertraut ihnen, offenbart seine Zweifel, Gedanken und Erfahrungen im Unterricht. Allerdings ist seine Sicherheit an der Universität Budapest bedroht, da er nicht wissen kann, ob ein Informant unter den Studenten sei, wie viele Menschen der von den Dienern der Diktatur angekündigten #MeToo Kampagne auf den Leim gegangen sind.

Es geht dabei nicht um sexuelle Belästigung, sondern um universitäres Mobbing, wenn „dein Professor mit seinen politischen Ansichten Gewalt über dich ausübt“. (Als ich auf der Uni war, noch im verdammten Sozialismus, gab es kein #MeToo, die meisten von uns waren froh, dass wir überhaupt hinkamen und lernen durften! Aber ich erinnere mich, dass es damals sehr wohl geheime Petzer gab und

der Professor sofort zum Untersuchungsausschuss der Parteigenossen gezerrt wurde, wenn er nicht der Linie der Partei gefolgt ist oder es gewagt hätte, das System zu kritisieren.

Die Folgen für ihn hingen davon ab, ob er in der Lage war, ausreichende Selbstkritik zu üben.)

Unser Dichter-Professor schrieb einen Meinungsartikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Im literaturähnlichen Stil artikulierte er zunächst wirkungsvoll seine eigenen Ängste, dann wechselte er dazu über, wie diese zisellierte Angst in Ungarn in die Welt von Bildung, Wissenschaft und Kultur hineinsickert. Die herrschende Macht behandle diese Werksttätte – der Geist – als das letzte Schlupfloch der politisch schwach gewordenen Linken ohne moralische Glaubwürdigkeit. Nach ihrer Auffassung würden in den Sälen nicht Universitätsprofessoren, sondern linke Provokateure, Agitatoren, Aktivisten wirken, die sich überhaupt nicht um die wissenschaftliche Wahrheit kümmern.

All diese Erfahrungen müssen natürlich mit deutschen Lesern unbedingt geteilt werden, auch sie müssen ja wissen, was in Ungarn geschieht, sie müssen die Natur von Viktor Orbáns Machtausübung kennen, wie er als Cipolla in Thomas Manns Novelle die existierende Realität verändere!

In Ungarn habe sich die Interpretation von Freiheit und Souveränität geändert, ersetzt durch freien Raub und Populismus. Diejenigen, die hier ihre Stimme gegen das System erheben, können damit rechnen, dass ihre Existenz in dieser Welt eliminiert werde und sie selbst verrotten würden. Unser Dichter ist auch beleidigt darüber, dass Orbán sogar die vielfältige ungarische Sprache gestohlen und entleert und die Begriffe durch zynische, eindimensionale Idiome ersetzt habe. Die Orbán-Sprache sei ohne Humor und voller Gegensätze.

In diesem Meinungsartikel der F.A.Z. vor zwei Jahren zog der Dichter-Autor einen riesengroßen Bogen vom Einzigartigen zum Allgemeinen, von Budapest nach Brüssel. „Als die Statuten der Gemeinschaft einmal aufgestellt wurden, glaubte niemand, dass eines Tages ein totalitäres Regime in Europa erscheinen würde.“

Unser Dichter hat die Pflicht, die Führer der Europäischen Union aufzuklären, sie aufzufordern, den ungarischen Ministerpräsidenten in demokratischen Grundwerten aufzuklären und diese auch „ohne Pardon“ durchzusetzen.

Das Geld der westeuropäischen Steuerzahler muss ja wirksam davor geschützt werden, von der für Osteuropa so sehr typischen Korruption absorbiert zu werden!

Am Ende des Artikels finden wir uns im Vorlesungssaal wieder, der lang gereiste Gedanke ist gereift, unser Dichter weiß bereits, was zu tun ist. „Wir sind hier, stehen voreinander, das ist unsere Geschichte, und wir müssen uns die Sprache zurückholen, um erzählen zu können, was um uns vor sich geht.“

Ich habe dieses clever-bösartige Stück vor genau zwei Jahren, im März 2019, gelesen, und ich schiebe es seitdem vor mir hin, weil ich darauf reagieren muss. Zu Hause gab es keine Resonanz, bei den deutschen Lesern auch nicht viel.

„Freiheit, wie wir sie meinen“, war der Titel des Werkes, und ich speicherte es in meinem Ordner namens „Verräter“ ab. Masochistisch, wie ich bin, sind hier die in der deutschen Presse veröffentlichten Schriften, in denen meine Landsleute uns diskreditieren, unser gemeinsames Land verraten, aufgehoben. Verraten aus falsch interpretierter Oppositionshaltung, persönlichem Beleidigtsein, hasserfüllter Erregung.

Mit einem konservativen Ansatz ist es äusserst schwierig, in die westlichen Medien zu gelangen, aber sie empfangen die sogenannten Progressiven, welche die ungarische Regierung, die nationale Politik kritisieren mit offenen Armen. Diejenigen, die jederzeit bereit sind, mit falsch interpretierter Oppositionshaltung ein bisschen zu denunzieren, sei es über die Reformen des Bildungswesens, der Hochschulbildung, des Theaters oder des Gesundheitswesens (das sind übrigens alles innere Angelegenheiten eines Staates), wichtig ist dabei, mit jedem Umweg einmal zum Rechtsstaatlichkeitsmantra zu gelangen.

Auf dieses heiße Eisen wird so lange eingeprügelt, als Ungarn eine nationalkonservative Regierung hat.

(Ich erinnere mich noch gut an die acht Jahre linker Regierungen in Ungarn: Damals gab es keine Probleme in der Westpresse, weil sie die liberalen europäischen Taschen mit dem ausverkauften nationalen Vermögen vollgestopft hatten.

Ich weiß nicht, wie sich Gábor Schein gefühlt hat – denn er ist der Autor des hier beschriebenen Artikels –, als er seine Kunden mit dem für ihn charakteristischen hohen Standard bediente? Hatte er das Gefühl, dass dies eigentlich eine moralisch vertretbare Tat gewesen sein soll? Schließlich tat er nichts anderes, als das, worüber er geschieben hat, wohl von der anderen Seite: Er lieferte den Verrat auf Bestellung, über die Grenze. Das ist das politische  #MeToo. Belohnt wurde er mit seinem Roman, der 2019 auf der Frankfurter Buchmesse auf Deutsch erschienen ist. Ein weiteres Buch von im ist vor kurzem hier in Ungarn erschienen und seine Gedichte werden in Budapest und Berlin von den antifaschistischen Demokraten zitiert.

Während der Orban-Diktatur veröffentlichte er fünf Prosa- und zwei Gedichtsbände, die mit verschiedenen Autorenpreisen ausgezeichnet wurden. Er unterrichtet immer noch in Vollzeit moderne ungarische Literatur an der Eötvös Lorand Universität. Er kann weiterhin seine unmaskierten Gedanken und Zweifel mit den Studenten teilen, und niemand wird ihn dafür jemals belangen.  Es gab in Ungarn auch keine Retorsionen für seinen den ungarischen Ministerpräsidenten und die ungarische Politik verunglimpfenden und Ungarn diskreditierenden Artikel.

Warum auch? In Ungarn steht es jedem frei, seine Meinung zu äußern, die Regierung oder die Opposition zu diffamieren, und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind durch kein Gesetz geschützt. Aufgrund seiner politischen und privaten Meinung wird niemand entlassen. Es gibt keinen Diversity-Codex, der vorschreibt, wie wir unsere Meinung äußern dürfen. Es gibt nur einen ungeschriebenen Ehrenkodex, und jeder interpretiert ihn auf seine Weise. Er hatte das Recht dazu, aber man sollte wissen, dass jeder mit seiner Meinung vor allem sich selbst charakterisiert.

Autorin, Dr. phil Irén Rab ist Kulturhistorikerin

Übersetzung von Dr. med. dent. Andrea Martin

2 Kommentare

  1. Ja, es gibt Verräter – in Ungarn wie in Deutschland, und sie sind eines Geistes, insofern sie mit Hingabe daran arbeiten, unsere gemeinsames europäische Kulturerbe zu zerstören, zu „dekonstruieren“, wie sie das gern unter Berufung auf Derrida und Foucault etwas vornehmer umschreiben.

    Der wesentliche Unterschied ist der, daß diese Verräter in Ungarn in der Opposition sind, während sie bei uns die Diskurshohheit in Kultur, Medien und zunehmend auch in den Wissenschaften besitzen und die Schalthebel der politischen Macht in ihren Händen haben.

    Sind sie einmal dort angelangt, ist es aus mit der von ihnen hochgepriesenen Vielfalt und Toleranz. Auch das unterscheidet die Verhältnisse in Ungarn und in Deutschland. Die „illiberale Demokratie“ Orbáns zöge ich als freiheitsliebender Mensch unserem Scheinliberalismus sofort vor, wenn ich die Wahl hätte. Doch die besteht in Deutschland schon längere Zeit nicht mehr.

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