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Die Ungarn fühlen sich am freiesten in Europa

11. September 2021 Mandiner von MÁTYÁS KOHÁN

Das European Council on Foreign Relations veröffentlichte vor Kurzem eine faszinierende internationale Studie und fand riesige Unterschiede unter den europäischen Nationen in ihrer Beurteilung der Covid-Maßnahmen.

Die Ungarn sind recht zufrieden und fühlen sich frei, unter den Deutschen herrscht Unzufriedenheit,

und quer durch Europa sind die Jugendlichen mit ihren politischen Amtträgern in gefährlichem Ausmaß unzufrieden.

Das ECFR befragte Leute in zwölf EU-Mitgliedstaaten dazu, wie die Covid-Pandemie ihr Leben beeinträchtigt hatte. Es gab keine Tabus, die Leute durften einfach frei über Covid und der Corona-bezogenen Leistung ihrer Regierungen sprechen. Es wurden in Mai und Juni mehr als 16 000 Menschen befragt.

„Die gelebte Erfahrung der Covid-19-Pandemie hat Europa genauso gespalten wie die Eurokrise und der Migrationswelle: der Süden und der Osten fühlt sich wesentlich mehr betroffen als der Norden und der Westen” – so die Organisatoren der Studie, Ivan Krastev und Mark Leonard. „Die meisten Menschen im nördlichen und westlichen Teil Europas sind von Covid-19 nicht betroffen, es war für sie eher ein gruseliges Publikumssport als eine erschütternde Erfahrung. In Ost- und Südeuropa hingegen sagen die meisten, dass sie auch direkt von Trauer, schwerer Krankheit oder finanziellen Schwierigkeiten betroffen wurden.”

Krastev und Leonard forschten anhand von zwei Dreiecksmodellen.

  • Sie fragten sie einerseits nach ihrer Betroffenheit und stellten fest, dass auf gesamteuropäischer Ebene 54% der Leute gar nicht vom Virus betroffen sind, 30% erlebten es in der Form von Krankheit, Trauer und finanziellen Schwierigkeiten, während 16% nur einen finanziellen Schaden erlitten. Dieser Aspekt ließ sie auf eine eindeutige nordwestlich-südöstliche Spaltung des Kontinents schließen:

je südlicher und östlicher ein Land ist, desto betroffener fühlte sein Volk sich von der Krise.

Die gleiche Achse ist der Schauplatz einer weiteren Dualität: im Norden und Westen machten die Leute eher andere Individuen für die Pandemie verantwortlich, im Süden und Osten bürdeten sie es Regierungen und Institutionen auf.

  • Das andere Dreiecksmodell betraf die Einschätzungen zu Regierungsmaßnahmen. Die Forscher fanden zu 64% Zutrauliche, die den Maßnahmen der Regierungen vertrauten; zu 19% Misstrauische, die glauben, dass die Amtsträger mit ihren Maßnahmen nur ihre eigenen Fehler verschleiern wollten; und zu 17% Ankläger, die der Überzeugung sind, dass die Regierungen mit den Covid-Maßnahmen nur ihre Macht über die Staatsbürger ausbreiten wollten.

Aus diesem Aspekt betrachtet spaltete sich Europa nicht geographisch, sondern alterlich:

die Jugendlichen vertrauen ihren Regierungen in ganz Europa viel weniger als die Älteren.

Außerdem sind „finanziell Betroffene eher geneigt als die Anderen zu sagen, dass die Maßnahmen zu streng waren, und sind auch in Hinblick auf die Motive der Regierungen hinter den Lockdowns skeptischer”.

Diese Spaltung tritt erst jetzt in den Vordergrund, und bald wird es anfangen, die Attitüden vieler Staatsbürger zu Politik, zur Rolle des Staates, zur Gedanke der Freiheit und zu den größeren Umrissen der europäischen Politik zu beeinflussen” – warnen die Autoren.

In Polen, Portugal und Spanien fühlen sich etwa halb so viele von der Pandemie gänzlich unbetroffen als in Dänemark (jeweils 39%, 36%, 36% und 72%). „Dies kann einen wesentlichen Einfluss auf die größten Projekte Europas ausüben: auf den Gedanken der freien Bewegung, auf die Zukunft des Recovery Fund, und auf die Beziehung Europas zur Rest der Welt, sei es durch Impfstoffdiplomatie, Entwicklungshilfen oder sonst etwas” – analysieren die Verfasser.

Die Altersspaltung ist auch bei der Frage der Betroffenheit beeindruckend: während nur 30% der Jugendlichen unter 30 Jahren glauben, vom Virus gänzlich unbetroffen zu sein (und 20% von ihnen finanziell, 37% auch ansonsten betroffen waren), empfinden Leute über 60 Jahren schon zu 65% keine Betroffenheit, einen finanziellen Schaden haben 9% erlitten, 26% war auch anders betroffen. „Die erste Sache, das wir beim Ausbruch der Covid-19-Pandemie erfahren hatten, war, dass sie die Ältesten in unserer Gesellschaft gefährdet. Die Antworten in der ECFR-Studie stellen jedoch klar, dass junge Leute nun fühlen, dass sie die größten Opfer der Pandemie sind” – so die Autoren.

Die Pandemie stellt im Fall der Jugendlichen eine Gefahr für ihre Lebensweise dar. Es ist ein weit verbreiteter Ansicht, dass die Zukunft der Jugendlichen für ihre Eltern und Großeltern geopfert wurde”

Ähnlich betrifft die Altersspaltung das Vertrauen gegenüber die Regierungen: während 71% der Befragten über 60 Vertrauen in den Maßnahmen der Regierungen haben, machen 14% von ihnen Vorwürfe und genauso viele sind misstrauisch. Unter 30 vertrauen den Regierungen nur 57%, 20% werfen ihnen Machtübergriffe vor, 23% sind misstrauisch.

Die heutige Jugend war schon vor der Krise die Generation, die am wenigsten mit der Leistung der demokratischen Regierungen zufrieden war. Die Mitglieder dieser Generation sind gegenüber den Vorteilen der Demokratie nicht nur skeptischer als die ältere Generationen, sondern auch skeptischer als Jugendliche, die in früheren Zeiten befragt wurden” – schreiben die Forscher. Diese Tatsache klingt im Kontext der kapitalismuskritischen, linksextremen und neomarxistischen Ideologien, die ebenfalls unter den Jugendlichen am meisten verbreitet sind, ganz interessant.

  • Geographisch betrachtet zeichnet sich in der Verteilung von Zutraulichen, Anklägern und Misstraulichen ungefähr die oben genannte nordwestlich-südöstliche Achse ab: je nordwestlicher ein Land liegt, desto mehr vertrauen seine Bürger den Maßnahmen ihrer Regierung (es fanden sich in Dänemark 77%, in Schweden 76% und in der Niederlande 75% Zutrauliche), und je südöstlicher, desto weniger (50% in Bulgarien, 38% in Polen).

Es gibt aber auch sehr interessante Ausnahmen.

Der Anteil derer, die den Maßnahmen der Regierung vertrauen, liegt in Ungarn – im Vergleich mit der Region – extrem hoch, bei 67%.

Ein gemeineuropäischer Trend ist, dass der Anteil der Ankläger unter den nur finanziell Betroffenen am höchsten, bei 23% liegt – unter den Unbetroffenen und denen, die nicht nur finanziell betroffen wurden, liegt diese Ziffer bei 15% und 17%.

  • Die Beurteilung der Regierungsmaßnahmen ist schon wesentlich weniger trendhaft. Mit dem Ausmaß der Maßnahmen sind meilenweit die Ungarn am meisten zufrieden – 71% von ihnen glauben, dass die Regierung den richtigen Härtegrad gefunden hat, 9% wünschten sich ein strengeres, 20% ein weniger strenges Lockdown. In Deutschland fanden nur 40% die Schärfe der Maßnahmen angemessen, 20% hielten sie für übertrieben und 40% für unzulänglich. Am schlechtesten schneiden Polen und Frankreich ab: nur 39% der Polen und 33% der Franzosen sind mit der Härte der jeweiligen Regierungsmaßnahmen zufrieden, ihre Vorwürfe sind jedoch unterschiedlich, die Polen hätten gerne eine weniger strenge Quarantäne gehabt (43%), die Franzosen jedoch eine strengere (42%).

Das entzückendste Teil der Forschung ist die „Freiheitsumfrage” – es wurde nämlich klar, dass während der Pandemie sich nur 22% der Europäer ganz frei fühlten, 48% teils frei und 12% ihrer Freiheit beraubt.

Als freiester Staat des Kontinents entpuppte sich Ungarn: 41% der Ungarn fühlte sich komplett frei, 47% teils frei und nur 12% ihrer Freiheit beraubt –

dies ist ein sehr bescheidener Rückgang im Vergleich mit dem Niveau von 2019, als 69% der Ungarn sich frei fühlte.

Die am wenigsten freie Staaten sind Italien, Österreich und Deutschland: in Italien fühlen nur 16%, dass sie ganz frei sind. Auf dem deutschen Sprachgebiet ist jedoch die Freiheit fast schlagartig verschwunden: 15% der Österreicher und 11% der Deutsche fühlen sich frei (in beiden Fällen handelt es sich um ein Rückgang von über 50 Prozentpunkten im Vergleich zu 2019), ihrer Freiheit beraubt fühlen sich jeweils 42% und 49% – wobei sie zur gleichen Zeit, wie von den obigen Daten ersichtlich, nicht gegen die strengen Maßnahmen protestierten. Es scheint, dass die Krise eine große Veränderung in der Zugang der politischen Parteien zur Freiheit gebracht hat. Sehr viele Mainstreamparteien haben die Regierungsmacht mit großer Begeisterung wiederentdeckt, wärhrend viele populistische Parteien immer libertarischer werden” – kommentieren die Forscher.

Im Hintergrund mag sehr wohl stehen, dass

die Wählerschaft der westeuropäischen Mainstreamparteien ihre fahrlässige Mitbürger für die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich macht.

In der Niederlande geben 63% der Befragten ihren Mitbürgern die Schuld dafür, dass sie immer noch in einer Pandemie festsitzen, in Portugal 57%, in Österreich 56%, in Deutschland 53%.

Währenddessen „glauben die Unterstützer vieler rechtspopulistischen Parteien, dass durch die coronabedingten Maßnahmen die Regierungen und Institutionen die größte Gefahr für die Freiheit darstellen. Diese Parteien versuchen nun, die Mainstreamparteien als die neuen Tyrannen darzustellen, und sich eher als Libertarier und weniger als künftige Autokraten erscheinen lassen.”

Der Anteil derer, die vor allem Institutionen und Regierungen als die Hauptverantwortlichen der Pandemie sehen, liegt in Ungarn bei 49%, in Spanien bei 57%, in Polen bei 58%. Im gesamteuropäischen Schnitt sehen 48% die Schuld bei den Individuen, genauer gesagt 34% bei denen, die die Regelungen außer Acht lassen, und 10% bei denen, die von Reisen zurückkehren. Von den 43% der Befragten, die eine institutionelle Verantwortlichkeit für die Pandemie sehen,

haben 16% mit ihrer eigenen Regierung Ärger und 13% mit der chinesischen Regierung, die die Pandemie in die Welt sickern ließ.

  • Die Experten des ECFR heben von den behandelten Ländern drei als Archetypen hervor. Erstens Polen, eine polarisierte Demokratie, wo die Krise die schon vorher existierende Spannungen zwischen Gesellschaftsgruppen nur verstärkt hat, und die Regierung zum Sündenbock für jene Bürger wurde, die wegen Covid-19 unzufrieden sind. Zweitens Deutschland, eine Konsensusdemokratie, wo es zwar weder gegen die Motive hinter den Regierungsmaßnahmen noch gegen ihre Strenge einen wesentlichen gesellschaftlichen Widerstand gab, hinter diesem Konsens jedoch eine große Unzufriedenheit schlummert. Der dritte Archetyp ist Frankreich, eine „nichtbinäre Demokratie”, wo zwischen den Wählerschaften des Präsidents Emmanuel Macron und der „ewigen” Präsidentschaftskandidatin der Nationalen Versammlung Marine Le Pen in so gut wie keiner Frage Einverständnis herrscht. „84% der Macron-Unterstützer glauben, dass der wesentliche Grund der Covid-Maßnahmen die Verlangsamung der Virenverbreitung ist – mit dieser Aussage sind nur 41% der Le Pen-Wähler einverstanden. Stattdessen glauben 37% der Le Pen-Unterstützer, dass das Hauptziel der Maßnahmen die Kontrolle der Gesellschaft ist. Diese Meinung teilt nur einer von zwanzig Macron-Wählern” – bemerken die Autoren.

Krastev und Leonard glauben, dass

die Altersspaltung die wesentlichste der von Covid hervorgerufenen Trennlinien ist, und dass vor allem diese die europäische Politik beeinflussen wird.

Die Regierungen hatten europaweit Recht damit, dass sie auf die Rettung der Älteren fokussiert hatten. Nun ist jedoch die Zeit gekommen, auf die Probleme der Jugendlichen zu konzentrieren” – so die Forscher.

Autor, Mátyás Kohán ist Redakteur Außenpolitik bei Mandiner.

Deutsche Übersetzung vom Verfasser

Lesen Sie im ungarischen Original bei Mandiner: https://mandiner.hu/cikk/20210903_koronavirus_kutatas

Ein Kommentar

  1. Die Studie von Krastev und Leonhard hat sicherlich einige bedenkenswerte Befunde zutage gefördert. Dennoch möchte ich einzelne der Kriterien, die sie nutzte, infragestellen.
    Ich wüßte z.B. nicht, ob ich mich als „von der Krankheit Betroffener“ einstufen sollte. Ich hatte zwar im November 2020 Symptome, die zu Covid-19 passen. Die Krankheit wurde auch durch einen PCR-Test bestätigt. Ohne die „Pandemie“-Hysterie hätte ich sie aber als etwas schwerere Erkältung eingestuft und hätte bestimmt nicht in irgendeiner Weise einen Arzt konsultiert. (O.K., Arzt bin ich selber, aber ich kenne meine fachlichen Grenzen.)
    Die einzigen Folgewirkungen der Erkrankung, die ich (wie alle im Land, deren Einkünfte nicht gerade üppig sind) sehr deutlich spüre, ist die erhebliche Verteuerung von Nahrungsmitteln und Energie. Sie resultiert zwangsweise aus der exorbitanten Ausweitung der Geldmenge durch die EZB zur Schaffung des Corona-Hilfsfonds. Dieser Ausweitung entspricht ja keine Steigerung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Im Gegenteil sahen wir ja durch die Lockdowns und die Unterbrechung von Lieferketten vielmehr eine Rezession.
    Die Inflation ist also eine Art volkswirtschaftliches Long Covid Syndrome. Wo taucht das in der Studie auf? Offenbar nur indirekt im geschwundenen Vertrauen in die jeweils Regierenden. In den gestellten Fragen war kein Raum dafür. Aber was kann man von einem Gutachten, das vom European Council on Foreign Relations in Auftrag gegeben wurde, auch anderes erwarten?

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