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„Der Westen ist in den Osten umgezogen“

  1. August, 2022 Tichys Einblick: Viktor Orbán im Interview mit Roland Tichy
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán provoziert, die Aufregung ist groß. Im Gespräch mit TE versucht er, den Begriff „Rassismus“ zurückzuholen. Aber er bleibt dabei: Durch die Einwanderung aus islamischen Ländern hat sich der kulturelle Westen selbst aufgelöst – und in Ungarn und Polen eine neue Heimat gefunden.

Blau, breit und träge fließt die Donau vor sich hin wie im Wiener Walzer, weit unten wirkt das riesige Budapester Parlament wie ein Walt-Disney-Schloss, der Blick geht über die Stadt: Ungarns Regierungssitz auf dem Burgberg Buda, einst Sitz der ungarischen Könige, hat vermutlich die schönste Aussicht einer Regierungszentrale weltweit. Die Waschmaschine von Olaf Scholz in Berlin wird zu einer der größten Bürokratien ausgebaut – aber mickrig die Weitsicht; dafür ist allein der geplante Anbau 10-mal so teuer wie Orbáns wiederhergestellter Balkon im ehemaligen Karmeliterkloster.

Dem Hausherrn wird nachgesagt, dass er diese Symbolik des absoluten Herrschers liebt. Doch Viktor Orbán kommt im Hemd statt im Hermelin, ohne Krawatte und mit Jeans statt mit Rüstung. Er spielt mit Macht und Ohnmacht, Zynismus, Zitaten und Witz. „Eigentlich regiere ich uneingeschränkt nur den Balkon des Klosters. Die Hauptsache erledigt der Apparat.“ Aber vom Balkon des Klosters aus hält er gerne aufrührerische Reden, schleudert Sprüche, die wie Blitze in Berlin oder Brüssel oder sonstwo einschlagen. Orbán freut sich, fast diebisch, wenn sich unten alle fürchterlich aufregen über das, was von da oben fällt. Gerade ist er wieder europaweit in den Schlagzeilen.

„Rassistische Diskriminierung“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat vor dem Hintergrund seiner jüngsten Rede darauf verwiesen, dass „rassistische Diskriminierung“ nicht vereinbar mit den Werten der Union sei. „Alle Mitgliedstaaten, auch Ungarn“, hätten sich „universellen gemeinsamen Werten“ verpflichtet. Die Chefs der größten Fraktionen im Europaparlament bezeichneten Orbáns Äußerungen als „offen rassistisch“. Orbán hat seine Ablehnung einer „multiethnischen“ Gesellschaft wiederholt: „Wir wollen keine gemischte Rasse sein“, die mit Nicht-Europäern „vermischt“ werde. Zsuzsa Hegedüs, Orbáns langjährigste Beraterin, reichte ihren Rücktritt ein, weil seine Formulierung von „Rassen“ an Goebbels erinnere. Hegedüs ist jüdischer Abstammung, mehrere Mitglieder ihrer Familie starben im Holocaust.

Hmm, sagt Orbán auf Nachfrage von TE dazu, das habe er nicht so gemeint. Eigentlich meine er „mixed-up Civilisations“: die Vermischung unterschiedlicher Kulturen. Die Übersetzung, Sie wissen schon; ungarisch ist eine schwierige und seltene Sprache, wer war schon dabei und verstand, was er sagte und wie es übersetzt wurde dort im rumänischen Bad Bálvános, wo er vor Vertretern der ungarischen Minderheit sprach: sonst kein Ort für ein Treffen der Weltpresse. Orbán kann so unschuldig schauen wie Ursula von der Leyen lehrerinnenhaft streng. Aber was meint er wirklich?

Der Westen hat seine Werte aufgegeben

Der Westen habe sich aufgegeben, sagt er. In Folge der massenhaften Einwanderung werde der Anteil von Menschen mit nichteuropäischer Herkunft auf über 50 Prozent ansteigen, man könne das auch „Bevölkerungsaustausch oder Überflutung nennen“. Das „Heerlager der Heiligen“ zitiert er, eine düstere Dystopie des französischen Autors Jean Raspail aus dem Jahr 1973: Eine Armada mit Einwanderern überrennt Frankreich. Es ist auch eine geistige Landnahme, weil Rationalität, Aufklärung und die kulturellen Leistungen des Westens verschwinden. Orbán spricht vom „Post-Westen“, der unter dem Einfluss der zuwandernden Kultur Rationalität, seine christlichen Wurzeln und das Licht Aufklärung verloren hat – unwiderruflich: „Das zu ändern würde Maßnahmen erfordern, die man nicht denken sollte“, zitiert er den französischen Philosophen Alain Finkielkraut. „Der Westen im geistigen Sinn ist nach Mitteleuropa umgezogen. Der Westen ist hier, und dort ist nur noch der Post-Westen geblieben und es tobt eine Schlacht zwischen den beiden Hälften Europas.“

Der Westen also als „Nach-Westen“, der Osten als der Bewahrer seiner Werte. Dieser andere Teil Europas, das sind die Polen und Ungarn. Die Tschechen sind gerade in den Post-Westen desertiert und die Slowaken unentschieden. Das vage Visegrád-Bündnis mit Slowakei und Tschechien ist zerbrochen, seit dort linke Regierungen das Sagen haben und die EU-Kommission mithilft, Ungarn zu isolieren. Im Post-Westen „haben sich die europäischen Völker mit den von außerhalb Europas Kommenden vermischt“. Und ja, hier wird es kitzlig. „Das ist die gemischtrassige Welt“, steht im Redemanuskript, während Orbán von den „mixed-up Civilisations“ spricht und sagt: „Sorry, von Rassismus zu sprechen war ein Fehler, und dafür werde ich jetzt verprügelt.“

Jedenfalls ist es zu dieser Vermischung in Osteuropa so nicht gekommen. Da blieben Europäer mit ihrer Kultur und Tradition unter sich, bilden „ein Gemisch der in ihrem eigenen europäischen Zuhause lebenden Völker. Und wenn die Konstellation der Sterne eine glückliche ist und der Wind günstig weht, dann verschmelzen sich diese Völker auch in so einer hungaro-pannonischen Sauce und erschaffen eine eigentümlich neue europäische Kultur. Dafür haben wir immer gekämpft, wir sind bereit, uns miteinander zu vermischen, aber wir wollen nicht gemischtrassig werden.“ Darunter subsumiert er diese „mixed-up Civilisations“, die in Europa so viel Unterschiede und Großes hervorgebracht haben.

Ungarn will so, wie „wir 1456 bei Belgrad gekämpft haben und die Türken bei Wien abgewehrt haben und die Franken die Araber bei Poitiers aufgehalten haben“, die europäische Zivilisation vor dem anstürmenden Islam bewahren. Der alte Westen allerdings will diese Schlachten nicht mehr schlagen: „Was wir für den Westen hielten, ist nicht mehr der Westen.“ Vage Hoffnung: Wenn die konservative Italienerin Georgia Meloni die dortigen Wahlen im September gewinne, dann könne das ein „Game Changer“ für ganz Europa sein.

„Es ist nicht unser Krieg“

Sonst wird es einsam um Ungarn. Die Achse mit Polen ist „erschüttert“, weil Polen „einen Kampf mit den Herzen“ gegen die russische Invasion in der Ukraine führt“. Dem Krieg der slawischen Völker wolle Ungarn fern bleiben, während die Polen „da drin sind, das ist ihr Krieg, sie bestreiten ihn schon beinahe selbst“. Natürlich erfülle Ungarn alle Verpflichtungen; schickt Abfangjäger zum Schutz des Baltikums, hilft ukrainischen Flüchtlingen. „Aber es ist nicht unser Krieg.“ Je weiter man sich einmische, umso gewaltigere Risiken nähmen die EU und die Nato auf sich. Orbán gießt Wasser in den Wein westlicher Siegesgewissheit im Ukraine-Krieg: Erstens könne der Westen ihn militärisch nicht gewinnen, und zweitens hätten die Sanktionen Russland keinesfalls destabilisiert. Drittens wäre der Schaden eher für Europa riesig, und viertens hätte sich die Welt nicht hinter den USA und der Ukraine aufgereiht: „Ein großer Teil der Welt stellt sich demonstrativ nicht dahinter. Die Chinesen, die Inder, die Brasilianer, Südafrika, die arabische Welt, Afrika.“

Da ist sie wieder, seine Furcht vor dem Untergang des Abendlands, auch Oswald Spengler zitiert er. „Es ist leicht möglich, dass es dieser Krieg sein wird, der auf demonstrative Weise der westlichen Übermacht ein Ende bereitet.“ Aber wer profitiert vom Krieg? „Die Antwort ist, dass der profitiert, der über eigene Energiequellen verfügt. Die Russen profitieren. Der Import der Europäischen Union aus Russland hat um ein Viertel abgenommen, doch die Einnahmen von Gazprom sind auf das Doppelte gestiegen. Die Chinesen haben profitiert, die früher den Arabern ausgeliefert waren. Und natürlich profitieren die großen amerikanischen Konzerne.“ Genüsslich zitiert er die Verdopplung des Gewinns von Exxon, die Vervierfachung von Chevron und die Versechsfachung des Bilanzgewinns von ConocoPhillips.  

„Schwache Präsidenten führen Krieg, starke schaffen Frieden“

Orbán ist ein kühler Analytiker der Politik; bescheiden ist er sich seiner begrenzten Macht jenseits des Balkons bewusst. Sein Ziel ist, für Ungarn eine lokale Ausnahme von der erwarteten globalen Rezession zu erzielen. Den Krieg beenden? Dabei spielt Ungarn keine Rolle, auch nicht die EU. Denn Europa ist wieder wie in den Zeiten des Kalten Kriegs auf den Schutz der USA angewiesen. „Europa ist wieder an dem Punkt angelangt, dass es in den wichtigsten Sicherheitsfragen nicht mitreden wird, sondern wieder nur die Amerikaner und die Russen entscheiden.“ Es werde keine ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen geben, und doch könne ein „einziger Telefonanruf den Waffenstillstand herstellen und dann Friedensverhandlungen bewirken“. „Schwache Präsidenten führen Krieg. Starke Präsidenten schaffen Frieden.“

Die EU gerät ihrerseits in die Krise durch den Ukraine-Krieg: Ohne ausreichend russischem Gas und mit den Folgen der Sanktionen gerät Europa seinerseits in die Krise, „Regierungen stürzen wie die Dominosteine. Allein seit dem Krieg sind die britische, die italienische, die bulgarische und die estnische gestürzt und der kalte Herbst kommt erst noch“. Europaweit käme es zu einer Delegitimierung der politischen Eliten und Regierungen, „weil die Bürger feststellten: Die Regierungen können die Krise nicht managen. Viele reden sich raus, das sei nicht ihr Fehler, das sei der Krieg oder Brüssel. Aber das sind nur Ausreden, die nicht akzeptiert werden. Es ist wieder Zeit für starke nationale Führung – und nur die Christdemokraten haben die Antwort.“

Die Angst vor dem neuen Kalten Krieg

Ist Orbán nun der Rassist, als der er dargestellt wird, und womit er spielt?

Alle Menschen seien gleich erschaffen im Angesichte Gottes, schrieb er an seine frühere Vertraute Zsuzsa Hegedüs. „Bei meinesgleichen ist Rassismus daher ab ovo ausgeschlossen“, nach „20 Jahren gemeinsamer Arbeit“ müsste sie es eigentlich wissen. Beim österreichischen Kanzler Nehammer sagte er: „Manchmal äußere ich mich missverständlich.“ Hegedüs antwortete: “Ich bin stolz auf Dich. … Meine erste Reaktion war, dass damit mein Rücktritt gegenstandslos wurde. Noch wichtiger: Auch nach stundenlangem Nachdenken halte ich ihn immer noch für gegenstandslos.“ 

Auf der Burg von Buda und ihrem Balkon ist also alles wieder in Ordnung. In Europa allerdings nicht: Von der Leyen mahnt, dass die gemeinsamen Werte der EU „nicht verhandelbar“ seien; Menschen rassistisch zu diskriminieren, bedeute „auf diesen Werten herumzutrampeln“. Mehr als diese aufgeregte Brüsseler Debatte scheint Orbán zu fürchten, dass es zu einem neuen Kalten Krieg und Blockdenken kommen könnte. Dann läge Ungarn wieder „irgendwo weit draußen an der Peripherie“, ohne wirtschaftliche Wachstumschancen. Es gibt eben doch nur ein Europa – oder keines.

Orginalartikel erschien in Tichys Einblick: https://www.tichyseinblick.de/tichys-einblick/viktor-orban-im-interview-der-westen-ist-in-den-osten-umgezogen/

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