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Der Westen, den wir liebten, war anders

6. Juni 2023 Index von GYULA HEGYI

Das edle, liberale Bekenntnis – vermutlich von Voltaire – besagt: Man soll selbst den Tod akzeptieren, damit Menschen ihre Meinung frei äußern dürfen, auch wenn diese Ansichten einem selbst vollkommen entgegengesetzt sind. Die übertriebene Formulierung ist natürlich nur ein symbolischer Hinweis auf das Gebot der Meinungsfreiheit, die Presse- und Meinungsfreiheit ist aber in den westlichen Demokratien tatsächlich da gewesen. Die Führer der Europäischen Union haben nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges dieses Prinzip umgestoßen, indem sie die gesamten russischen Nachrichten- und Informationsquellen verboten. Mich hat das Verbot selbst nicht so sehr überrascht, vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der die Zensur von der gestern noch für liberal gehaltenen Intelligenz angenommen wurde. Wenn sich aber eine Macht an die Zensur gewöhnt, wird sie diese später kaum selbst aufgeben.

Das erste Argument für das Verbot der russischen Propaganda war, dass sie die korrekte und glaubwürdige westliche Information nicht stören soll, es stellte sich aber schnell heraus, dass die westliche – vor allem die britische – Propaganda ein vollkommen falsches Bild des Krieges darstellt.

Seit fünfzehn Monaten wird tagtäglich über den wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch Russlands berichtet, wie auch über die Munitionsknappheit, Putins Krebs, Putins Tod, Putins Alter Ego und über sonstige Fake News. Aus den sogenannten Analysen fehlt genau das, was eine Analyse ist: die objektive Darstellung von Gründen und Tatsachen. Die wichtigsten geopolitischen Veränderungen unserer Tage, die militärischen Zusammenhänge der größten Nuklearmacht, mit der größten Fläche und einer großen Bevölkerung, die langfristigen Folgen der Geschehnisse – all dies wird der Öffentlichkeit verlogen dargestellt.

Seit dem Alter von 14 Jahren lese ich englisch, Artikel von mir wurden in britischen Blättern veröffentlicht. Ich hätte nie geglaubt, dass ich zu den indischen Medien greifen muss, wenn ich über den russisch-ukrainischen Krieg glaubwürdige Information in englischer Sprache bekommen möchte.

Die Ablehnung der kollektiven Strafe war ein edler Wert des Westens, besonders hochgeschätzt von denen, die in Osteuropa die Demütigung von ganzen Volksgruppen und Gesellschaftsschichten erlebt hatten. Betrübend ist jedoch die Erbarmungslosigkeit, mit der die führenden westlichen Politiker ein Olympiaverbot allen russischen und weißrussischen Sportlern erteilen, auch wenn sie ohne ihre Nationalflaggen und Hymnen auftreten würden. Insbesondere stimmt es mich nachdenklich, dass die Entpolitisierung, der Geist des Friedens und die Reinheit des Sports gegenüber dem Westen von den Ländern des globalen Südens betont werden. 

Nach dem Krieg werden sich viele daran erinnern. Das Verbot der weißrussischen Sportler ist auch vom westlichen Gesichtspunkt Unsinn. Ihr Land trat in den Krieg nicht ein, zumal wäre das Unabhängigkeitsgefühl der belorussischen Gesellschaft verstärkt, wenn ihre Sportler, besser noch als die Russen, an den Wettkämpfen teilnehmen dürften.

Der Erfolg des Westens war auch damit begründet, dass seine Wirtschaft nicht ideologischen Devisen und Theorien untergeordnet wurde, wie es in den Diktaturen üblich war. 

Vor Februar 2022 hätten wir nicht geglaubt, dass die preisgünstige und mäßig umweltschädliche Energie aus ideologischen Gründen durch teurere und umweltschädlichere Energie abgelöst wird.

Die Europäische Union ist zwar reich, aber wir können, geblendet von dem roten Nebel des Krieges, die grundsätzlichen Wirtschaftsgesetze nicht umgehen. Besonders dann nicht, wenn unser großer Verbündeter, die USA, und unsere Rivalen, Indien und China, aus dem Brüsseler Sanktionstsunami dicke Nutzen ziehen.

Die Reisefreiheit, das fortlaufende Wachstum des bürgerlichen Luftverkehrs gehörte auch in die angenehmen Errungenschaften des Westens. Selbst in den Jahrzehnten des Kalten Krieges verkehrten die Flugzeuge der östlichen und westlichen Gesellschaft regelmäßig zwischen Moskau und London, Budapest und Paris. Der Fremdenverkehr, die kulturellen und die Sportbeziehungen, die sich allmählich ausweitende Reisefreiheit, sie alle haben zum Fall der osteuropäischen Diktaturen erheblich beigetragen. Eine solidarische Haltung gegenüber der Ukraine sollte nicht mit jahrelanger Sperrung von großen Lufträumen und Hindernissen im bürgerlichen Luftverkehr ausgedrückt werden. Noch dazu wurden die Nutzen des freien Luftverkehrs Ländern überlassen, die wir sonst nicht als Champions der Freiheit kennen.

Und ja, der Frieden. Die Kraft des Westens war immer verstärkt von der Fähigkeit zu Verhandlungen, zu Vereinbarungen und zur gegenseitigen Anerkennung der Interessen. Diese Fähigkeit half ihm, aus Konflikten herauszufinden, in Zeiten, wenn der Westen, die Ration vergessend, in ideologische Abenteuer oder in Eroberungskriege verwickelt war. Auf heute hat sich das tragisch verändert.

Von acht Milliarden Bewohnern unserer Erde leben sieben Milliarden in Ländern, deren führende Schicht und Öffentlichkeit einen sofortigen Frieden auf der russisch-ukrainischen Front fordern oder einfach kein Interesse an diesem Krieg haben.

Es gibt langsam kein wichtiges Land in Asien, Afrika oder Lateinamerika mehr, das keinen Friedensplan oder Vermittlungsvorschlag vorgelegt hätte, nicht zu sprechen vom Vatikan, der Türkei oder von Israel. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten fegen diese Initiativen überheblich vom Tisch, als wären sie unterwürfige Petitionen kolonialer Stämme.

Westliche Führer fliegen hin und her zwischen Hauptstädten des sogenannten globalen Südens und drohen immer mehr Nationen mit Sanktionen, weil diese aufgrund ihrer jahrzehntelangen Traditionen der Blockfreiheit weiterhin neutral bleiben wollen.

Nach dem Fiasko des Vietnamkrieges hat der Westen erkannt, dass seine Prinzipien dann erst angenommen werden, wenn er in den Ländern des geplanten Einflusses „hearts and minds“, Herzen und Sinne gewinnen kann. Die heutige Brigade, Blinkens, Borells und Baerbocks – um nur die mit B zu erwähnen – haben genau das vergessen.

Sie drohen überall mit Sanktionen, sie fordern, sie diktieren unbekümmert um die Gefühle und Traditionen ihrer Gastgeber.

Erfolge haben sie nirgends, aber sie verstärken vielerorts den Gedanken, dass die nichtwestlichen Länder aus der Stärkung einer Achse von Moskau und Peking viel Nutzen hätten. Dies ist nicht meine Meinung, aber darum geht es auch nicht. Die Europäische Union, die die Herzen und Sinne der Dritten Welt lange mit humanitären und umweltschützenden Aktionen, mit Hilfsprogrammen und höflichen Gesten gewinnen wollte, versucht jetzt, wie ein wütender, kriegerischer Block diese Länder hinter sich antreten zu lassen. Noch dazu: die meisten Sanktionen, die Verbote, die Zensur haben keinen wesentlichen Einfluss auf die Front und schaden uns mehr als sie den Ukrainern nutzen.

Diese kriegerische Politik zerstört jeden Tag etwas, was im Westen gut war, wofür wir ihn liebten und wofür wir ihn weiterhin lieben möchten.

Autor, Gyula Hegyi ist ehem. MEP der Ungarischen Sozialistischen Partei MSZP

Deutsche Übersetzung von Barna Zólyom

MAGYARUL: https://index.hu/velemeny/2023/05/29/nyugat-cenzura-europai-unio-putyin/

Ein Kommentar

  1. Vorweg möchte ich sagen, dass ich das Land Ungarn mit seiner Kultur sehr achte und liebe.
    Doch ich empfinde ihre Darstellung des Westens als einziges Zerrbild.
    Während der Aggressor Russland sehr klar die Opposition nicht nur im eigenen Land verfolgt, wegsperrt und gefoltert ja sogar ermordet, Westl Medien unter Ankündigung von drastischen Strafen verboten sind, empfinde ich ihre Darstellung vom Verbot der Meinungsfreiheit im Westen zu sprechen als einziges Zerrbild und Verdrehung der Wahrheiten. . DAGEGEN ERHEBE ICH MEINE STIMME!
    Es gäbe noch einiges gerade über die Politik Orbans z. B. Über die Verwendung der Gelder aus dem EU Fond zu sagen, doch hier möchte ich auf die Rede des Papstes vor den Pilitikern in Budapest verweisen. Da ist alles enthalten !

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