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Die Stationen sind uns bekannt. Wir kennen auch die schmerzhaften Stationen des ungarischen Kalvarienbergs in Sátoraljaújhely. Trotzdem gehen wir wieder den Kreuzweg. Wir wollen Heilung, Trost, Hoffnung und Ermutigung. Wir wissen, dass wir das erst am Ende des Kreuzweges bekommen können. Nur so und hier können wir uns über die Schmerzen erheben. Wir müssen dorthin gelangen, wo alles beleuchtet wird und alles Sinn macht. Wir müssen dort hinauf gelangen, wo wir die Zukunft sehen können. Deshalb sind wir heute hier.
Der Horizont der Geschichte der Ungarn liegt auf einer tausendjährigen Höhe. Von hier aus kann man sich umschauen, von hier aus kann man weit sehen. Rechts liegt Kaschau, dort drüben Sathmar, hinter uns Munkatsch. Wenn wir nicht mit unseren Augen, sondern mit unseren Herzen schauen, können wir noch weiter sehen. Zurück bis hin zum Beginn der Zeit. Wir sehen hunderte von wandernden Völkern der großen Steppe verschwinden und in den Staubwolken der Geschichte untergehen. Wir sehen, dass aber wir Ungarn weder verschwunden noch untergegangen sind, sondern, umringt von lateinischen, germanischen und slawischen Völkern, unsere alleinstehenden Merkmale bewahrend, unsere Heimat gegründet haben. Wir haben unser Herz dem Christentum geöffnet, das Wort Gottes erhört, es empfangen und es zur Grundlage unserer Staatsorganisation gemacht. Wie es geschrieben steht: „Behalte immer in deinem Sinn, dass jeder Mensch immer im selben Stand geboren wird und dass nichts erhöht außer Demut, nichts erniedrigt außer Hochmut und Hass.“ Unser Vaterland steht bis heute auf diesem Fundament. Die Angriffe des westlichen Reiches haben wir nacheinander abgewehrt. Die verheerenden Schläge der Heiden aus dem Osten haben wir überstanden. Uns ist gelungen, was den anderen Steppenvölkern nicht gelungen ist. Wir haben uns unseren Platz in Europa erkämpft, organisiert, ihn uns angepasst und gehalten. Ungarn war vierhundert Jahre lang, viermal die Zeit des Trianon, ein starker und unabhängiger Staat. Daraufhin haben wir dreihundert Jahre lang, drei Trianons lang, gegen das Osmanische Reich gekämpft. Tief im Balkan, dann am südlichen Ende und schließlich, uns zurückziehend im Herzen des Karpatenbeckens. Und obwohl Buda anderthalbmal die Zeit von Trianon in türkischen Händen war, war es ihnen dennoch nicht möglich, uns zu überrennen. Schließlich, erschwert durch zweihundert Jahre gescheiterter Aufstände und Unabhängigkeitskriege, traten wir nach zwei Trianon-Zeiten als mitgestaltende Nation eines großen europäischen Reiches in das 20. Jahrhundert ein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
obwohl im Laufe der Jahrhunderte hunderttausende Ungarn auf den Schlachtfelder fielen, konnte die Welt sehen, dass weder Kugel noch Schwert der ungarischen Nation etwas anhaben kann. Auch wenn sie von den Füßen gestoßen wird, steht sie immer und immer wieder auf. Wir sind gerade am Platz der ungarischen Mütter vorbei gekommen. Auf dem ungarischen Kalvarienberg haben Frauen einen besonderen Platz. Dies ist auch rechtens, denn immer waren es die Frauen, die den Blutverlust geheilt haben. Zuweilen gaben sie Soldaten zur Verteidigung der Nation, zuweilen gaben sie dem Land Armeen von Handwerkern zu seinem Aufbau. Sie gaben immer das, was gerade vonnöten war. Wir haben es unseren Frauen zu verdanken, dass die Kunst des Überlebens und des Aufbaus der Nation in unseren Genen liegt. Ihnen ist es zu verdanken, dass wir die europäischen Meister des Überlebens sind. Ehre sei den ungarischen Frauen!
Liebe Gedenkenden,
wir sind weder eine deutsche Provinz, noch ein türkischer Vilajet oder eine sowjetische Teilrepublik geworden. Unauslöschliche Beweise, Kirchen und Kathedralen, Städte und Hauptplätze stehen noch heute überall. Sie verkünden, dass wir Ungarn eine große, kulturbildende und Staat-organisierende Nation sind.
Liebe Gedenkenden,
schließlich wurde das tausendjährige historische Ungarn von den Verschwörungen in Budapest in den Rücken gestochen. Seine Armee wurden gelähmt und zerschlagen, der einzige Staatsmann, der die Nation hätte retten können, wurde ermordet, das Land wurde unseren Feinden, die Regierung den Bolschewiki ausgeliefert. Der Westen hat die tausendjährigen Grenzen und die Geschichte Mitteleuropas vergewaltigt. Sie zwangen uns, zwischen ungeschützten Grenzen zu leben, beraubten uns unserer natürlichen Ressourcen und machten unser Land zu einem Trauerhaus. Mitteleuropa wurde ohne moralische Bedenken neu gezeichnet, ebenso wie sie die Grenzen Afrikas und des Nahen Ostens neu zeichneten. Dies werden wir ihnen nie vergessen. Und als wir dachten, weder das überhebliche französische und britische, noch das scheinheilige amerikanische Reich könnten tiefer sinken, ging es doch noch tiefer. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wir ohne Wimpernzucken den Kommunisten vorgeworfen. Die Polen, die Tschechen, die Slowaken wurden mit dem belohnt, womit wir bestraft wurden. Möge dies eine ewige Lehre für die Völker Mitteleuropas sein
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Es meldeten sich bereits viele, die Ungarn gern begraben hätten. Es gab diejenigen, die die Deutschen eines Verbündeten berauben wollten, es gab diejenigen, die an den Habsburgern Rache nehmen wollten, es gab diejenigen, die von Profitgier getrieben wurden, und es gab diejenigen, die Ungarn schon immer hassten. Sie klammerten sich aneinander, um uns von dem Erdboden verschwinden zu lassen. Aber wir sind ein hartnäckiges Volk, und wir waren nie bereit, an unserer eigenen Beerdigung teilzunehmen. Auch unsere Urgroßväter haben nicht einmal aufgegeben. Sie knieten nicht und baten nicht um Gnade. Wir blieben auf den Beinen und machten alles durch. Wir ertrugen die Waggonstädte, die Nazi-Lager, den sowjetischen Gulag, die Deportationen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Ceauşescu. Heute gibt es keine Tschechoslowakei, kein Jugoslawien und keine Sowjetunion mehr. Es gibt kein britisches oder französisches Reich mehr. Und was von ihnen übrigblieb, zappelt jetzt in dem multikulturellen Griff ihrer rachsüchtigen Kolonien. Selbst die Größten können sich der Gerechtigkeit der Geschichte nicht entziehen. Und so wie es wahr ist, dass zusammenwächst was zusammengehört, fällt auch das, was nicht zusammengehört, auseinander. Es wurde vor hundert Jahren richtig gesagt: Wir werden bei der Beerdigung derjenigen dabei sein, die uns ins Grab legen wollten. Wir Ungarn hingegen werden bleiben, egal wie sich der Wind dreht. Wir bleiben, weil wir hier zu Hause sind. Wir sind zu Hause und bleiben deshalb. Die Ungarn ziehen sich zusammen und dehnen sich aus wie das menschliche Herz, aber wir leben seit tausend und hundert Jahren dort, wo unsere großen Staatsgründer unseren Landstrich ausgewählt haben. Wir verteidigen das Karpatenbecken mit Würde, was auch unser Auftrag ist. Jedes geborene ungarische Kind gilt auch als ein neuer Wachposten. Wir beschneiden, quälen oder verkaufen nicht, sondern behalten das Karpatenbecken. Wir müssen mit dem Selbstvertrauen und der Haltung einer Nation leben, die weiß, dass sie der Welt mehr gegeben hat, als sie von ihr erhalten hat. Unsere Leistung berechtigt uns, unsere Geschichte fortzusetzen. Und heute müssen wir uns auch dessen bewusst sein, dass unser Land bereits ungünstigere Grenzen hatte, trotzdem sind wir immer noch hier.
Liebe Gedenkenden!
Anstelle der Tschechoslowakei und Jugoslawiens haben wir Slowaken, Slowenen, Kroaten und Serben. Wir freuen uns, die gemeinsame Zukunft mit der Slowakei, Serbien, Kroatien und Slowenien aufzubauen, die stolz auf ihre nationale Identität sind. Die Geschichte hat den Völkern Mitteleuropas die Chance gegeben, vielleicht eine letzte, eine neue Ära einzuleiten, sich gegen die Gefahr aus dem Westen und dem Osten zu verteidigen und gemeinsam höher zu steigen. In den letzten zehn Jahren haben wir unseren Nachbarn bewiesen, dass sich die Vitalität der ungarischen Nationsteile addiert und dies nicht nur für uns, sondern auch für sie vorteilhaft ist. Nur ein Staat hat Grenzen, nicht eine Nation. Das ist das Gesetz. Einige haben das verstanden und andere nicht. Diejenigen, die es noch nicht verstanden haben, sollten sich beeilen, weil ihnen die Zeit ausgeht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir haben eine tausendjährige Geschichte hinter uns, deshalb gehen wir über die Limits des „Hier und Jetzt“ hinaus. Wir sehen Bratislava in Pozsony und Cluj in Kolozsvár. Wir sehen es, weil wir die Welt auf ungarische Weise betrachten. Wir sehen die Heimat hoch oben, aber wir sehen sie auch unter den Grashalmen. Wenn Du die Dinge auf eine ungarische Weise betrachtest, akzeptierst Du, dass Slowaken Slowaken und Rumänen Rumänen bleiben. Wir sehen bei unseren Nachbarn, was uns voneinander trennt, aber auch das, was uns verbindet. Wer die Welt auf Ungarisch betrachtet, sieht durch die Augen des Heiligen Stephans. Das 21. Jahrhundert mit den Augen des Heiligen Stephans zu sehen bedeutet, dass wir das Karpatenbecken zusammen mit den Menschen, die mit uns hier leben, groß machen wollen. Heute sind wir wieder das bevölkerungsreichste Land im Karpatenbecken. Wir waren seit hundert Jahren nicht so stark wie jetzt. Wir bauen Brücken und Eisenbahnen unten bis nach Belgrad und Autobahnen oben bis nach Kaschau. Unsere politische, spirituelle, wirtschaftliche und kulturelle Gravitationskraft wächst von Tag zu Tag. Die Rückkehr der Ungarn hat begonnen. Im Vergleich zu Westeuropa sind wir eine Insel des Friedens und der Sicherheit. Und damit das so bleibt, wird auch die neue ungarische Armee in einem stürmischen Tempo aufgebaut. Stärke ist mit Verantwortung verbunden, und wir sind uns des Gewichts unserer Verantwortung bewusst. Die hundert Jahre der Quarantäne nach Trianon, die Ära der hundert Jahre der Einsamkeit sind vorbei. Es ist erhebend mit zu erleben, dass wir wieder Verbündete haben, gute Nachbarn haben und wir uns gemeinsam auf die Zukunft vorbereiten können.
Liebe Gedenkenden!
Es gibt keine zweite Nation auf der Erde, die hundert Jahre dieser Art hätte ertragen können. Unser Volkscharakter ist jedoch hartnäckig, zäh und ausgeklügelt, daher ertrugen wir es nicht nur, sondern die Weichen stehen bei uns auf Sieg. Darum erbringen wir unseren herzlichsten Dank und unsere größte Anerkennung den von uns abgespaltenen Nationsteilen für die Jahrhundert lange Standhaftigkeit, Treue zur ungarischen Nation und zum Vaterland. Nur diejenige kann zu einer großen Nation werden, die ihre eigene Kalvarie bereits entlangging. Die den Weg der Erprobungen kennenlernt. Die die Herausforderungen meistern kann. Die versteht, dass die Gerechtigkeit ohne Kraft wenig wert ist. Die Geschichte ist nicht barmherzig. Sie verzeiht die Schwäche nicht. Wenn es keinen Retter in Not gibt, dann gehen wir verloren. Wenn wir den zahnlosen Schöngeistern folgen, dann gehen wir verloren. Wenn wir den Federführern des Zwiespalts nachgeben, dann gehen wir verloren. Die Ungarn dürfen sich nie wieder den Luxus der Schwäche zulassen. Wir können immer nur das besitzen, was wir auch verteidigen können. Das ist das Gesetz und das ist unser Schicksal. Darum dauert uns jedes Spiel so lange an, bis wir das nicht gewonnen haben. Deshalb hatte die Geschichte der Ungarn kein Ende, weder bei Mohács, noch Világos oder Trianon, und deshalb werden alle Edelsteine der Krone des Heiligen Stephans wieder glänzen.
Verehrte Gedenkenden!
Im bevorstehenden Jahrzehnt wird es nicht um Kürzungen und Verluste, sondern Vermehrung und Landesaufbau gehen. Die Welt ist in Bewegung. Die Umwälzungen sind tektonisch. Die Vereinigten Staaten sitzen nicht mehr allein auf dem Thron der Welt, Eurasien baut sich mit Volldampf wieder auf, unsere Europäischen Union kracht in allen Fugen, und sie hofft sich jetzt mit einem salto mortale zu retten. Die Erde unter den Füßen bebt bei unserem östlichen Nachbar. Auch der Balkan stellt eine Menge zu beantwortende Fragen. Eine neue Ordnung ist im Gange der Geburt. Auch in unserer Welt, unserem Leben donnern große Wandel an unseren Pforten. Die Verluste an unserem Land betrachteten wir Jahrhunderte lang als unabwehrbare Schicksalsschläge. Auch in den letzten hundert Jahren. Bei Mangel an eigener Kraft warteten wir darauf, dass ein wundervoll erlösendes Heer, das eine Wende am Schicksal der Ungarn herbeiführen werde, aus dem Nebel der Legenden bei uns eintrifft. Lassen wir uns an der Geschichte der hundert Jahre Revue passieren. Lassen wir uns die Tragweite der Umwälzungen der letzten zehn Jahre begreifen. Lassen wir uns davon, was wir sehen können, nicht abschrecken: wir sind diejenigen, auf die wir warteten. Ja, wir sind diejenigen, die das Schicksal von Ungarn wenden werden. Wir können darauf hoffen, dass unsere Generation, die vierte post-Trianon Generation wird noch ihre Mission erfüllen und Ungarn ganz bis zum Tor des Sieges führen. Die entscheidende Schlacht muss jedoch durch die nachfolgende fünfte post-Trianon Generation geschlagen werden. Die Schritte zur Vollendung müssen von denen gemacht werden. Wie es einmal in Schrift gesetzt war: „Nehmt Kraft an Euch selbst. Und zu allererst. Fangt mit dem Einfachsten an. Bündelt Euch zu einer immensen Vermehrung, um dem Herrgott, der selbst Unendlichkeit ist, irgendwie näher zu kommen”. Es wird weder leicht, noch einfach sein, aber es wird sich lohnen. Große Zeiten warten auf Euch. Bereitet Euch darauf vor und zwar jeden Tag. Ungarn vor allen Dingen, Herrgott über uns allen.
Auf geht’s Ungarn
Die Festrede des ungarischen Ministerpräsidenten, Viktor Orbán am 6. Juni 2020 in Sátoraljaújhely
Übernommen von https://becs.mfa.gov.hu/