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Karpatenbogen – im Hinblick auf Minderheitenprobleme

29. Juli 2023 Europäisches Journal für Minderheitenfrage von Anton Sterbling

Eine Rezension über das Buch von OLT, Reinhard: Im Karpatenbogen. Ungarn und die Diaspora der Magyaren. Reportagen und Analysen. Budapest: Stiftung der Freunde Ungarn (2022) 232 S.

Unter den Verliererstaaten der beiden Weltkriege gehört Ungarn und die ungarische Nation gewiss zu denjenigen, die mit die höchsten Kosten und Verluste zu tragen hatten. Wie der Präsident der „Stiftung der Freunde Ungarns“, Prof. Dr. med. habil. E. Szilveszter Vizi zutreffend in seinem Vorwort zu diesem Buch festhält, verlor Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg in Folge des Friedensvertrags von Trianon (1920)

„mehr als zwei Drittel seines Territoriums und als Folge des Vertrags wurden plötzlich mehr als 3,5 Millionen Magyaren zu Bürgern fremder Staaten, in denen sie bis heute als Minderheit leben“ (S. 9).

Um diese Befunde richtig einordnen zu können, sollte man vielleicht noch ergänzen, dass bei der Volkszählung 1910, in der ungarischen Reichshälfte der Doppelmonarchie, ohne Berücksichtigung des autonomen Kroatiens, lediglich 54,5 Prozent der 18,3 Millionen Einwohner Magyaren waren.

Die Folgekosten des Zweiten Weltkriegs waren vor allem, dass Ungarn in die sowjetische Einflusszone und damit auch in den kommunistischen Herrschaftsbereich geriet. Der Versuch, dies durch den ungarischen Volksaufstand 1956 zu ändern, führte mit dessen gewaltsamer Niederschlagung zu neuem menschlichen Leid und Kosten, nicht zuletzt durch die Flucht Hunderttausender Ungarn in den Westen. Sicherlich kann man vor diesem Hintergrund verstehen, dass der Autor des vorliegenden Bandes, bei aller journalistischen Professionalität und wissenschaftlichen Sachlichkeit, eine gewisse Sympathie und Zuneigung für Ungarn und die Magyaren in diesem Land und in den Nachbarstaaten nicht verschweigt und auch in seine Wertungen durchaus einfließen lässt. Distanz und Tiefenschärfe gewinnen die Ausführungen indes auch dadurch, dass die Fallbetrachtungen der Ungarn vielfach in allgemeinere Analysen und Vergleiche der Minderheitenprobleme in Europa gestellt werden.

Der Autor des Bandes, Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt, bringt als langjähriger Journalist der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wie auch als im Hochschulbereich tätiger Wissenschaftler beste Voraussetzungen und Erfahrungen mit, ein anschauliches und engagiertes wie auch ein analytisch aufschlussreiches Buch zu dieser schwierigen und doch zugleich weiterhin aktuellen Problematik vorzulegen. Liest man den Band unter den eben angedeuteten Prämissen, so wird man sicherlich nicht enttäuscht werden.

Der vorliegende Band versammelt in chronologischer Reihenfolge eine ganze Reihe Artikel, Reportagen und Analysen des Autors, die in den zurückliegenden dreißig Jahren größtenteils zunächst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen sind. Diese Zusammenschau ermöglicht nicht nur ein kohärenteres und differenzierteres Gesamtbild der Problematik, sondern gleichzeitig auch gewisse Entwicklungen, Schlüsselereignisse und Wendepunkte in ihrer Bedeutung und Tragweite zu erkennen.

Zutreffend geht der Autor bereits in seiner Einleitung (S. 15-22) davon aus, dass die kommunistische Herrschaft im östlichen Europa eigentlich kaum eines der Minderheitenprobleme gelöst, sondern allenfalls „eingefroren“ hat, und dass diese Probleme und Spannungen mit der demokratischen Wende erneut konfliktreich auflebten.

Die „theoretisch-ideologische Fixierung“ der westeuropäischen Linken auf die „multikulturelle Gesellschaft“ führe vor allem im Westen zu einer Verkennung der Bedeutung der Nationalstaaten im östlichen und südöstlichen Europa,

so der Autor. Die Vielzahl und Vielfalt kleiner Minderheiten und deren Probleme werden dabei in der Konsequenz ebenfalls notorisch übersehen. Dies wird zugleich mit dem Vorwurf an die Europäische Union verbunden, ,,dass  sie es versäumt hat, sich auf eine vernünftige Politik zugunsten nationaler Minderheiten einzulassen und einen verlässlichen kollektiven Rechtsrahmen zum Schutz der ,kleinen Nationen‘ und Volksgruppen zu schaffen“ (S. 19).

Die noch ungelösten und auch schwer zu lösenden Probleme, um die es geht, bewegen sich um Fragen des Minderheitenschutzes als individuelle Rechte und Gruppenrechte, um Fragen der Kultur- und Spracherhaltung, der Bildungsautonomie und der territorialen Verwaltungsautonomie einigermaßen kompakt siedelnder Minderheiten. Nur beiläufig wird dabei allerdings das sich gleichsam „quer“ stellende Problem der Unterschiede zwischen autochthonen Minderheiten und Zuwanderungsminderheiten gestreift, das aus meiner Sicht einem erheblichen Teil der gegenwärtigen Schwierigkeiten und Dilemmata der Minderheitenpolitik zugrunde liegt. Denn wie der Autor selbst erkennt, kann der „Multikulturalismus“ keine Lösung darstellen, denn dieser gefährdet – tatsächlich konsequent umgesetzt – die verfassungsrechtlichen Wertegrundlagen jeder gesamtgesellschaftlichen Integration und solcherart Spaltungen und Parallelstrukturen in einzelnen Gesellschaften können auch durch eine fortschreitende europäische Integration – soweit eine solche überhaupt zu erwarten ist – nicht aufgefangen werden.

Die folgenden Beiträge führen zunächst in die frühen 1990er Jahre zurück. Es geht zuerst um den „18. Nationalitäten-Kongress der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ (FUEV) 1991 in Budapest, bei dem viele alte und grundsätzliche Minderheitenfragen unter der neuen historischen Konstellation der zurückgewonnenen Freiheit im östlichen Europa diskutiert wurden. Als eine programmatische Aussage ist dabei zu lesen: „Das Konzept von der Staatsnation (vom Mehrheitsvolk) habe in dem sich vereinigenden Europa zurückzutreten; es sei – im Sinne der Vorstellung vom einheitlichen Nationalstaat und dem mit ihm einhergehenden Assimilationsdruck auf die Minderheiten – zugunsten des Zukunftsbestands völkischer Vielfalt aufzugeben.“ (S. 23). Der damalige ungarische Staatssekretär Entz, auf den diese Aussagen zurückgehen, hatte dabei vor allem die Lage der Ungarn im Nachbarland Rumänien im Blick.

Im folgenden Artikel geht es beispielbezogen um das Spannungsverhältnis von Nationalstaaten und nationalen Minderheiten und Volksgruppen, um „Angst vor Separatismus“ einerseits und Autonomieforderungen andererseits. Dem schließt sich ein Beitrag über die „Csángós als ,,vergessene Volksgruppe“ an, wobei es um etwa 150.000 – manche sprachen auch von 300.000 – vorwiegend katholische Ungarn, die in der Moldau, also jenseits des Karpatenbogens lebten und leben, geht. Was in dem Text nicht erwähnt wird, betrifft die mittlerweile nachgewiesene Tatsache, dass es der Securitate in den späten Jahren der Ceaușescu-Diktatur recht erfolgreich gelang, die Ausbildung des katholischen Klerus der Csángós zu unterwandern und daraus einen Hebel der Assimilation oder zumindest der Abgrenzung zu Ungarn zu machen. Gleichwohl waren die Religion und Kirchen in diesem Fall, wie auch in Siebenbürgen, wie im folgenden Artikel gezeigt wird, ein sehr wichtiges Widerstandspotential gegen den rumänischen Nationalkommunismus und dessen aggressive Assimilations-bestrebungen.

In den folgenden Beiträgen, deren Entstehungszeit bis zur Jahrtausendwende reicht, geht es vor allem um unzureichende Minderheiten- und Volksgruppenrechte in Rumänien, der Slowakei, aber ebenso in Österreich wie auch um mehr oder weniger vorbildliche dies­ bezügliche Bemühungen in Ungarn. Es folgen Beiträge der folgenden fünf Jahre, die insbesondere die „Statusrechte“ der Ungarn in den Nachbarstaaten und die nicht ganz unumstrittene Gewährung der doppelten Staatsbürgerschaft für Auslandsungarn betreffen, wobei man dazu sagen sollte, dass der europäische Sozial- und Migrationsraum damals bereits sehr durchlässig erschien und grenzüberschreitende Pendelwanderungen als ein massenhaft in Erscheinung tretendes Phänomen zu betrachten war.

Etwas aus der Zeit und dem Rahmen fällt der Beitrag „Auf dem Lechfeld – Als die Ungarn, Schrecken des Alten Reichs, zur europäischen Völkerfamilie stießen“ (S. 78-82), der einen historisch weiten Bogen von der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahr 955, über die Christianisierung Ungarns bis zur Aufnahme dieses Landes in die Europäische Union am 1. Mai 2004, schlägt. In weiteren Artikeln geht es um eine „gemeinsame ungarisch-rumänische Regierungssitzung“ 2005, um die „erste gemeinsame Sitzung der österreichischen und ungarischen Regierung seit 1918″ ebenfalls im Jahr 2005, als Anzeichen der Entspannung der bilateralen Beziehungen und konstruktiver Bemühungen um politische Lösungen gemeinsamer Probleme.

Immer wieder werden in Beiträgen, die in den folgenden Jahren erschienen sind, anhand von Einzelbeispielen wie etwa dem Streit um die Babeș-Bolyai-Universität in Klausenburg und anderen Autonomie- und Sprachstreitigkeiten, aber doch auch schwelende oder neu auflebende Konflikte um die Anliegen und Belange der ungarischen Minderheit in Rumänien und in der Slowakei thematisiert

Ein etwas anderes Format hat das ausführliche Interview (S. 143-151) mit dem damali­gen Außenminister Ungarns, János Martonyi, aus dem Jahr 2010, in dem es untern anderem um die Folgen der Wirtschaftskrise, eine weiterzuentwickelnde „Mitteleuropa-Politik“ und den „Donauraum“ wie auch um bilaterale Konflikte mit Nachbarstaaten wie Rumänien und der Slowakei im Hinblick auf Minderheiten- und Volksgruppenrechte ging. Ebenso um den damals bevorstehenden EU-Vorsitz Ungarns, der auch im Mittelpunkt des folgenden Artikels steht, in dem als besondere Anliegen Ungarns unter anderem die Aufnahme Kroatiens in die EU wie auch die Stärkung der „Vielfalt der Kulturen“ und eine entsprechend ausgerichtete Minderheitenpolitik angesprochen werden. In weiteren Beiträgen, deren Entstehungszeit bis 2018 reicht, werden erneut verschiedene Facetten der Minderheitenproblematik aufgenommen und insbesondere auch die heikle „Zigeuner-Frage“ und „Roma­Integration“ behandelt.

Aus der „Weltwoche“ vom 17. Dezember 2015 ist der Beitrag „EUropäische Denkfehler – Viel zu lange wurden die geschichtlichen Prägungen und traditionellen Eigenheiten der Menschen in den ost(mittel)- und südosteuropäischen Staaten vernachlässigt“ (S. 188-194) entnommen. Darin werden – vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen und illegalen Massenzuwanderungen des Jahres 2015 – die durch unterschiedliche historische Erfahrungen geprägten politischen Wahrnehmungen und Bewertungen dieser Ereignisse durch die Osteuropäer und Westeuropäer analysiert und erklärt. Zudem wird vor einem erneuten „deutschen Sonderweg“ der Merkel-Regierung gewarnt und der maßgeblich von der deutschen Politik bewirkte europäische Dissens und gleichzeitige Bruch in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik als verhängnisvoller politischer Irrtum bezeichnet, der als irreparable Hypothek tatsächlich bis heute nachwirkt und die Europäische Union belastet.

Ein Vortragstext „Tirol als Vorbild – Wie Konflikte um autochthone Minderheiten in Europa zu lösen sein sollten“ (S. 196-210), in dem der Vorbildcharakter der Autonomie­ und Minderheitenpolitik in Südtirol betont wird, ein in die gleiche Richtung weisender ver­ gleichender Beitrag „Magyaren und Tiroler – Die Autonomie der Provinz Bozen als Vorbild für ungarische Minderheiten“ (S. 210-218) aus dem Jahr 2017 und ein weiterer Vortragstext aus dem Jahr 2018 „Zum Ausklang: Anmerkungen zur Berichterstattung über Minderhei­ten“ (S. 219-225) schließen die Reihe der informativen und zumeist auch analytisch auf­ schlussreichen Einzelbeiträge ab.

In der „Schlussbetrachtung“ (S. 227-230) wird eher ein ernüchterndes Fazit gezogen, indem es heißt:

,,Summa summarum ist festzustellen, dass es in dem betrachteten Zeitraum mit seinen epochalen Veränderungen und Entwicklungen für die Diaspora-Magyaren unterm Karpatenbogen zu einer grundlegenden Veränderung hin zum Besseren nicht gekommen ist“ (S. 227).

Sicherlich – so sei dem Autor zugestanden – könnte in den besagten Minderheitenfragen der im benachbarten Ausland lebenden Ungarn vieles besser und entspannter sein, wie übrigens auch in der Lage vieler anderer Minderheiten in Europa, man sollte aber auch die Fortschritte seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft nicht zu gering schätzen. Auch wissen wir, dass die staatliche Politik­ einschließlich der Politik der Europäischen Union – nur in begrenztem Maße so komplizierte gesellschaftliche Probleme wie die der nationalen Minderheiten und Volksgruppen zielgenau beeinflussen oder gar steuern kann, denn jede politische Intervention für oder gegen ethnische Minderheiten löst unberechenbare soziale Reaktionen und manchmal sogar gesellschaftliche Erschütterungen aus. Möglicherweise ist der Sonderfall Südtirols – der dem Autor vielfach mustergültig vorschwebt – mit seinen spezifischen historischen, demographischen w1d kulturellen Bedingungen auch ein Vorbild und Maßstab, an dem nicht alle Minderheitenlagen in Europa gleichermaßen kritisch geprüft und bewertet werden können.

Die Rezension erschien im Europäischen Journal für Minderheitenfrage, Band 16 (2023) Heft 1-2, S. 144-147.

MAGYARUL: Reinhard Olt: A Kárpátok ívében. Magyarország és a magyar diaszpóra. Budapest, 2022.

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