5. März 2023 Budapester Zeitung von Rainer Ackermann
Herausgeber Roger Köppel traf Ministerpräsident Viktor Orbán dieser Tage in Budapest. Unter dem Titel „Wir beten und vertrauen auf den lieben Gott“ brachte die Schweizer „Weltwoche“ nun das ausführliche Interview, in dem es um den Ukraine-Krieg und Wege zum Frieden, aber auch um die „dramatische Schwäche“ Europas geht.
„Ungarns politische Elite ist stark genug, um unser Land aus dem Krieg herauszuhalten“, erklärte der Ministerpräsident den Alleingang, der Ungarn ständigem Druck aussetze von Kräften, die nicht wählerisch seien in ihren Mitteln. Orbán erinnerte im Zusammenhang mit dem 1999 ausbrechenden Kosovo-Krieg an den Charakter der NATO als Verteidigungsbündnis. „Schon damals wollte man uns zwingen, an der Südgrenze eine Front zu Serbien zu eröffnen“, was seine Regierung jedoch ablehnte.
„Wir haben Ungarn zu einem Siegerland gemacht“
Als einen seiner größten persönlichen Erfolge betrachtet der Fidesz-Chef, Ungarn aus einem Verliererland zu einem Siegerland gemacht zu haben. Er versprach seinen Landsleuten, dass alle Arbeit haben und alle „Herr über ihr Leben sein“ werden. Heute könne er sagen, das sei gelungen. Seine Botschaft zum Nachahmen laute: „Die ganze Welt versucht mich von meinem Kurs abzubringen, aber ich gebe nicht nach.“
„Ich möchte mir nicht ausmalen, was wäre, wenn Russland den Krieg doch verliert. Allein die Tatsache, dass man solche Szenarien im Westen mittlerweile auf die leichte Schulter nimmt, zeugt von einer erschreckenden Distanz zur Wirklichkeit.“
„Wenn in Washington die Demokraten an der Macht sind, gehen wir in Deckung. Die wollen uns immer ändern, so wie die Brüsseler Politiker.“
Gleichgewicht noch vor Freiheit
Als junger Mensch hätte Orbán seine politische Philosophie unter dem Begriff „Freiheit“ subsumiert, heute würde er eher auf „Gleichgewicht“ setzen. Das erläutert er mit den Worten: „Ändere, was geändert, bewahre, was bewahrt werden muss.“ Das Streben nach Gleichgewicht wurzele tief in den Ungarn, denen Gehorsam und Widerstand gleichermaßen wichtig sind.
In den Brüsseler Entscheidungen zum Konflikt in der Ukraine erkenne er immer öfter US-Interessen, denn europäische Interessen. Der tiefere Grund, warum Europa in diesem Krieg „verschwunden“ sei, liege an der verlorenen europäischen Identität. Die immer näher zusammenrückende EU sei der Grund für Europas Krankheit, denn man einige sich nur auf den Weg, ohne das Ziel zu kennen. Brüssel reiße Funktionierendes ein, „ohne zu wissen, was danach kommen soll“. Die EU befinde sich auf „derselben Schiene“ wie einst Marx, der „eine ganze Bibliothek“ vollschrieb, wie der Kommunismus verwirklicht werden könne, aber keinen einzigen Satz darüber, wie das Leben im Kommunismus denn aussehen würde.
Eine gefährliche Pattsituation
Den Krieg betrachtet er als Pattsituation, aus der leicht ein Weltkrieg entstehen könne, weil eine Atommacht gegen die ganze NATO ringe. Gefährlich mache diesen Krieg zudem, dass keine der Parteien klare Ziele formuliert hat, weder die Russen noch die Europäer oder die Amerikaner.
Auf die Frage, was passiert, wenn Russland den Krieg doch verliert, antwortete Orbán: „Das möchte ich mir nicht ausmalen. Es wäre eine geopolitische Erschütterung, viel schlimmer als die Implosion Jugoslawiens. Allein die Tatsache, dass man solche Szenarien im Westen mittlerweile auf die leichte Schulter nimmt, zeugt von einer erschreckenden Distanz zur Wirklichkeit, einer Blindheit gegenüber den Risiken der eigenen Politik.“ Er sprach sich dafür aus, die russischen Roten Linien zu akzeptieren, sich gleichzeitig aber auch gegen Russland zu stärken: Eine europäische NATO wäre eine Lösung, die er bereits 2012 ins Spiel gebracht habe.
Das vollständige Interview in der Weltwoche: https://weltwoche.ch/story/wir-beten-und-vertrauen-auf-den-lieben-gott/